Meinung

London erklärt Hamas zu Terroristen: Kooperation mit Israel bringt Hoffnung für Kriegsverbrecher

Der israelische Außenminister, ein alter Bekannter der britischen Innenministerin, begrüßte deren Einstufung der Hamas als Terroristen. Dabei lassen sich Patels Vorwürfe gegen die Hamas teils auch auf das israelische Militär anwenden. Neue Hoffnung auf Straffreiheit gibt es für alte Kriegsverbrecher allemal.
London erklärt Hamas zu Terroristen: Kooperation mit Israel bringt Hoffnung für KriegsverbrecherQuelle: AFP © MOHAMMED ABED / AFP

von Anna Belchow

Die britische Innenministerin Priti Patel erklärte am Freitag, sie wolle künftig sämtliche Teile der palästinensischen Organisation Hamas nach dem Terrorismusgesetz verbieten. Anhängern der palästinensischen Bewegung könnte diese Änderung, die Patel dem britischen Parlament voraussichtlich in der nächsten Woche vorlegen wird, bis zu 14 Jahre Gefängnis einbringen. Auch das Tragen von Flaggen der Organisation oder die Teilnahme an Treffen stellt damit dann in Großbritannien einen Rechtsbruch dar.

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In einer Erklärung begründete Patel dies wie folgt:

"Die Hamas verfügt über beträchtliche terroristische Fähigkeiten, einschließlich des Zugangs zu umfangreichen und hochentwickelten Waffen sowie zu Ausbildungseinrichtungen für Terroristen. Deshalb habe ich heute gehandelt, um die Hamas in ihrer Gesamtheit zu verbieten."

Beim Besuch in Washington, D.C. – die Hamas ist in den USA bereits seit Längerem als Terrororganisation eingestuft – sagte Patel, dass ihr Schritt "auf einer breiten Palette von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, Informationen und auch Verbindungen zum Terrorismus" basiere.

Die 1987 gegründete Hamas – mit vollem Namen "Islamische Widerstandsbewegung" – hat einen politischen und einen militärischen Flügel. Bisher hatte Großbritannien nur ihren militärischen Arm – die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden – verboten.

Hamas verurteilt israelisches Vorgehen als "Terrorismus"

Die Hamas reagierte darauf in einer Erklärung:

"Anstatt sich zu entschuldigen und seine historische Sünde gegen das palästinensische Volk zu korrigieren ... unterstützt [Großbritannien] die Aggressoren auf Kosten der Opfer."

Dieser Kommentar bezog sich auf die historische Balfour-Erklärung und das britische Mandat, mit denen palästinensisches Land ungeachtet seiner Bewohner vergeben wurde. Weiter heißt es:

"Der Widerstand gegen die Besatzung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich des bewaffneten Widerstands, ist ein Recht, das das Völkerrecht den Menschen unter Besatzung garantiert."

Die Gruppe rief ihre Anhänger auf, den Schritt Großbritanniens zu verurteilen. Die Hamas sehen vielmehr Israels Politik gegenüber den Palästinensern, deren gewaltsame Vertreibung, die Zerstörung ihrer Häuser und die Belagerung von mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen als "Terrorismus" an.

"Stärkung der Beziehungen zu Großbritannien"

Der israelische Premierminister Naftali Bennett hingegen begrüßte die Nachricht erwartungsgemäß, wie auch der israelische Außenminister Jair Lapid, der die Entscheidung als "Teil der Stärkung der Beziehungen zu Großbritannien" bezeichnete.

Der Schritt sei das Ergebnis "gemeinsamer Bemühungen" der britischen und der israelischen Regierung.

Diese gemeinsamen Bemühungen könnten eine längere Vorgeschichte haben, hatte doch Priti Patel schon 2017 – auf einem Trip in Israel – Treffen mit hochrangigen israelischen Beamten, darunter der damalige Oppositionsführer Jair Lapid. Sie musste damals von ihrem Posten als Ministerin für internationale Entwicklung zurücktreten, weil sie es versäumt hatte, das Treffen während eines privaten Urlaubs in Israel offenzulegen.

Für Israel dürfte Patels Verkündung nicht nur im Hinblick auf die eigene Einschätzung der Hamas als "Terrororganisation" gelegen kommen.

Auch die für die israelische Armee und Regierung höchst unangenehmen Kontroversen um Luftangriffe auf zivile Ziele – darunter Medienagenturen und medizinische Einrichtungen in Gaza – und der durch Tel Avivs unzureichende Beweise und widersprüchliche Rechtfertigungen entstandene Eindruck, dass diese keineswegs völkerrechtskonform waren, könnte mit dem britischen Schritt ein wenig ausgebügelt werden.

Denn wenn beispielsweise – wie in der Vorverurteilung durch mehrere deutsche Medien während der brutalen Kampagnen Israels im Mai – die Hamas sich auch in zivilem Umfeld aufhält, aber in Gänze als Terrororganisation gilt, dann achtet auch niemand mehr auf die Reihe von Widersprüchen und Lücken in Israels Rechtfertigung seiner militärischen Offensiven, da es sich dann ja lediglich um Selbstverteidigung gegen das große Übel des Terrorismus handelt – eine Version, die durch Londons Unterstützung gestärkt wird.

Britischer Anwalt am Strafgerichtshof –  Hoffnung für israelische Kriegsverbrecher

Auf jeden Fall kommt nicht wenigen in Israel die jüngste Terrorismus-Einstufung durch die Londoner Verbündeten gelegen, und es bleibt abzuwarten, wie sich das auf die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH, englische Abkürzung ICC) auswirken wird, dessen Chefanklägerin Fatou Bensouda bereits vor dem letzten Gaza-Konflikt genügend Anlass erkannte, Ermittlungen zu Kriegsverbrechen im Gazastreifen, im Westjordanland und in Jerusalem aufzunehmen. Damit sollten alle mutmaßlichen Verbrechen, die sowohl von Israelis als auch von Palästinensern begangen worden wären, untersucht werden.

Hunderte von Israelis – darunter Soldaten und hochrangige Politiker – könnten somit strafrechtlich verfolgt werden. Sollte deren Verantwortlichkeit für die Verbrechen festgestellt werden, könnten Staatsanwälte Richter auffordern, internationale Haftbefehle zu erlassen, die sogar unter Verschluss bleiben könnten, um den Behörden die Ergreifung der Beschuldigten zu erleichtern.

Neben den bekannten Vorwürfen von Antisemitismus dagegen, seitens der damaligen israelischen Regierung unter Netanjahu, ging mit dieser von anderen jedoch lang erwarteten Untersuchung auch der Versuch Israels einher, den Internationalen Strafgerichtshof zu beeinflussen, um so den Aufschub bis zum Beginn der Amtszeit des nachfolgenden Chefanklägers – des Briten Karim Khan – zu erwirken, der den Posten von Chef-Anklägerin Fatou Bensouda im Sommer übernahm. Während Bensouda betonte, dass die Untersuchung "unabhängig, unparteiisch und objektiv, ohne Furcht oder Begünstigung" durchgeführt werden würde, hofften israelische Beamte, dass der britische Anwalt die Angelegenheit anders als seine Vorgängerin beurteilen werde.

Israels "schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht" nicht unerkannt

Dabei gibt es durchaus mehr zu Israels Rolle zu sagen. Vor wenigen Tagen erst haben mehrere EU-Parlamentarier an ihre jeweiligen Außenminister und an den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitsfragen Josep Borrell geschrieben, dass diese die israelische Regierung auffordern sollten, die "schwerwiegenden Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht" zu unterlassen. Auch die britische Außenministerin Elizabeth Truss erhielt das Schreiben, wonach Israel rote Linien überschritten habe. Tel Aviv müsse die Einstufung von sechs legitimen palästinensischen Organisationen der Zivilgesellschaft als "terroristisch" zurücknehmen, die Vertreibung palästinensischer Familien aus Scheich Dscharrah und Silwan verhindern und die Pläne zum Bau einer illegalen Siedlung auf E1 stoppen, mit der die Einkreisung Ostjerusalems vollendet werden soll.

Dass Israel die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzt, haben zahlreiche Stellen unabhängig voneinander zuvor festgestellt und mit teils langwierigen, detaillierten Untersuchungen belegt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte erklärte im vergangenen Jahr zu den Annexionspläne Israels im Westjordanland : "Die Annexion ist illegal. Punkt."

An Berichten über Gräueltaten, welche israelische Siedler bei der Vertreibung von Palästinensern verüben, mangelt es nicht. In der vergangenen Woche wurde wieder ein palästinensisches Kind von einem israelischen Scharfschützen erschossen.

Laut einer Untersuchung der UNO hat Israel allein im vergangenen Jahr mehr als 300 Kinder verletzt und teils verstümmelt. Weiterhin verhindert Israel Kindern den Zugang zu humanitärer Hilfe,  Bildung und medizinischer Versorgung.

Oft werden sowohl jegliche Kritik an diesen Morden oder auch an anderen menschenrechtswidrigen Vorgängen im Rahmen der Besetzung der palästinensischen Gebiete ebenso wie die übrigens auch von vielen Israelis und Juden kritisierten Kriegshandlungen der Regierung in Tel Aviv als Selbstverteidigung gegen eine Terrororganisation ausgelegt. Daher fällt dann gar nicht mehr so sehr ins Gewicht, dass in diesem Rahmen nicht nur hunderte Unschuldige getötet, verletzt und ihrer Rechte beraubt wurden. Und dass auch Menschen- und Bürgerrechte massenweise mit Füßen getreten werden, obwohl die Rechtfertigung dafür bisweilen sogar nach Ansicht traditioneller Verbündeter Israels dürftig ist. Beispielsweise machen sich in Deutschland lebende Israelis oft die Mühe, eigens zum Wählen in ihre Heimat zu fliegen, um irgendwie zu versuchen, dem Grauen für die Palästinenser durch ihre eigene Regierung ein Ende zu setzen.

Bereits seit Jahren verweist der Journalist und Filmemacher John Pilger auf die im Nahen Osten vor dem Hintergrund der Vertreibung aus Palästina verübten Vergehen – sowohl von Israelis als auch beispielsweise von Selbstmordattentätern. Laut Pilger ist die Hamas Teil eines Widerstandes, der durch Israel überhaupt erst provoziert wurde, wie er im Interview mit RT Going Underground (en) erklärt. Umfragen zufolge ist der Zuspruch der Hamas nach dem letzten Gaza-Krieg in der Tat weiter gestiegen. Die brutale Gewalt israelischer Siedler gegenüber palästinensischen Familien indes bleibt ebenfalls weitestgehend unerwähnt. Erst am Sonntag kam es in dem aus Sicht Palästinas nach wie vor israelisch besetzten Ostjerusalem zu einem Anschlag nahe der al-Aqsa-Moschee, für den die Hamas die Verantwortung übernahm. Dass sich auch in dieser wichtigen Glaubensstätte immer wieder brutale Provokationen und Besatzungsszenen, wie ein Sturm von tausenden israelisch-jüdischen Siedlern in Begleitung bewaffneter israelischer Polizei, ungestraft abspielen, wird solche Anschläge in Zukunft wohl kaum verhindern – unabhängig davon, ob sich die Täter selbst der Hamas zurechnen oder nicht. 

Mahmud az-Zahar, früher Mitglied der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Hamas-Mitbegründer, gab in einem Interview mit RT an, dass die Besatzung Palästinas "eine katastrophale Entscheidung von Europa – aber besonders von den USA" war. Die Palästinenser wurden so gezwungen, in Flüchtlingslagern zu leben – "ohne jeglichen Grund, ohne dass von den Palästinensern irgendein Verbrechen begangen worden war ".

Weil so den Palästinensern – als Eigentümern des Landes – keine Chance gelassen wurde, im eigenen Land zu leben, halte er es "für eine erfundene Geschichte, dass wir Kriminelle sein sollen, dass wir Terroristen sind – wir sind ganz einfach Freiheitskämpfer, die um die Befreiung unseres Landes kämpfen".

In diesem Artikel geht es nicht darum, von Hamas-Mitgliedern verübte Gewalt zu verharmlosen – unter der auch Palästinenser leiden. Jedoch fällt bei einem Blick mit offenen Augen auf, dass sich der Vorwurf des israelischen Premierministers, dass die Hamas unschuldige Bürger (Israelis) angreife und die Zerstörung seines Landes anstrebe, auch umkehren und auf Aktionen der israelischen Regierung gegenüber Palästinensern anwenden lässt.

Laut Pilger dient der Fokus Israels und seiner Verbündeten auf die Hamas dazu, die Sicht auf das eigentliche Verbrechen zu verzerren. In immer extremerer Weise verübe Israel Gräueltaten an Palästinensern, während umgekehrt diesen das Recht auf Widerstand abgesprochen wird, erklärte der Journalist, der selbst in der Region tätig war.

Er verweist auch auf die enge militärische Zusammenarbeit zwischen Israel und Großbritannien, wobei israelische Truppen von britischen militärischen Fähigkeiten und Kenntnissen profitieren, ebenso wie auch britische Truppen von den israelischen Erfahrungen in Palästina. Dass auch der elftägige Gaza-Krieg im Mai dieses Jahres als Testfeld für das israelische Militär gedient haben dürfte, haben die IDF selbst angedeutet, indem sie mit der erstmaligen Nutzung von Künstlicher Intelligenz in diesem Krieg geradezu prahlten.

Und das, obwohl dieser nur 11 Tage andauernde Krieg unter Einsatz unvergleichlich hoher Datenmengen zu derart vielen zivilen Opfern auf der Gegenseite führte: nämlich mit mehr als 250 toten Palästinensern, darunter 66 Kindern und mehr als 1.900 Verwundeten.

Wie "intelligent" die von Lapid gelobten "gemeinsamen Bemühungen" längerfristig sind, ist wohl nicht nur aus diesem Grund sehr fraglich. Weniger fraglich scheint jedoch zu sein, dass London im Falle eines Chefanklägers, der künftig gegenüber Israels Vergehen eher blind agiert, wohl einmal mehr kräftig daran mitwirken wird, die immer wieder gern proklamierten "westlichen Werte" selbst ihrer letzten Glaubwürdigkeit zu berauben.

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