Auch bei AIDS musste um die Menschlichkeit gerungen werden

Der CSD wurde erlaubt, die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen nicht. Wäre Jens Spahn 1987 Gesundheitsminister gewesen, er hätte den Sex verboten. Als es um AIDS ging, setzte sich die humane Haltung durch. Und heute?
Auch bei AIDS musste um die Menschlichkeit gerungen werdenQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people via www.imago

von Dagmar Henn

Seit einigen Tagen kollidieren in meinem Kopf die beiden großen Berliner Demonstrationsereignisse der vergangenen Wochen, der CSD und die verbotenen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Das kam ganz plötzlich, mit einem Moment der Erinnerung: wie wichtig es war, damals, Ende der 1980er in München, schwule Freunde mit Umarmung und Küsschen zu begrüßen. Und dann, wie hochpolitisch diese CSD-Demonstrationen in Bayern waren, solange der berüchtigte Maßnahmenkatalog von Peter Gauweiler noch galt.

Auslöser war, denke ich, ein Blick auf die Videos vom vergangenen Wochenende und die simple Wahrnehmung, dass die Teilnehmer der "Querdenker-Demonstrationen" genannten Veranstaltungen im Schnitt so um die 20 Jahre älter gewesen sein dürften als die Partygänger des CSD eine Woche davor. Also eher meine Generation, und damit auch Menschen, die mit mir die Erinnerung teilen, wie damals, als AIDS auftauchte, um den menschlichen Umgang gerungen werden musste.

Damals, als der § 175 noch galt, der die männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Als das Glockenbachviertel in München noch nicht das glatte Nobelviertel von heute war, sich in der Hans-Sachs-Straße noch im Wortsinne zwielichtige Bars aneinanderreihten, ganz viele für Männer, einige für Frauen, dazwischen Kleintheater und Kino; als die bayerische Polizei noch mit Sorgfalt ihre "rosa Listen" pflegte und die Kammer in der Herrentoilette am Stachus, aus der heraus die Polizei alle bespitzelte, die sie aufsuchten, gerade erst zum Skandal geworden war.

Es war damals eine jahrelange Auseinandersetzung, ob sich ein polizeilicher oder ein menschlicher Umgang mit AIDS durchsetzt. Die bayerische Staatsregierung unter Franz Josef Strauß setzte auf Ersteres, und der Staatssekretär im Innenministerium Gauweiler (der zuvor als Münchner Kreisverwaltungsreferent die Kammer am Stachus gedeckt hatte) verfasste ein Maßnahmenpaket, das auf strikte Diskriminierung setzte. Die CSU wollte damals ein bundesweites Zentralregister für HIV-Positive. In Bayern durften Risikogruppen – also Schwule, Prostituierte und Fixer – zwangsweise getestet werden. Ein HIV-Text wurde zur Voraussetzung der Verbeamtung. Dem CSU-Politiker Horst Seehofer ging das nicht weit genug. Er verlangte die Absonderung "Uneinsichtiger" in Heimen.

"Wie er denkt auch Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair: 'Wir müssen den Schutz der vielen in der Bevölkerung als zentrales Ziel im Auge sehen und uns nicht nur darum bewegen, wer am Rand noch besser verstanden werden kann.' Und kategorischer, als es ein Verfassungsrechtler je tun würde, schreibt der Münchner Professor der Inneren Medizin Nepomuk Zöllner: 'In unserem Rechtsstaat hat sich das Interesse des einzelnen dem Interesse der Gesamtheit unterzuordnen.'"

Dieses Zitat stammt aus einem Artikel der Zeit von 1987. Heute würde man Entsprechendes dort nicht mehr lesen. Im Gegenteil; Die momentan laufende Impfdebatte klingt, als hätten die Zöllners von damals die Kontrolle übernommen.

Ja, es gab in der bayerischen Staatsregierung Stimmen, die Enthaltsamkeit und eheliche Treue als die besten Maßnahmen gegen AIDS anpriesen. Kondome konnten in den Schwulenlokalen nur mit einem Trick verteilt werden, indem die Wirte zu Mitarbeitern der Aidshilfe ernannt wurden. Schon die simple Schutzmaßnahme für Junkies, die Ausgabe von Spritzen, damit diese nicht mehr geteilt werden müssen, stieß auf enormen Widerstand durch diesen konservativen Block. Schwule waren, auch das eine Stimme aus der CSU, eine Randgruppe, die man "ausdünnen" sollte.

Zugegeben, es war nicht in der ganzen Bundesrepublik gleich (die andere deutsche Republik hatte zu diesem Zeitpunkt den § 175 längst gestrichen). Bayern konnte sich selbst in der Regierung Kohl nicht durchsetzen. In München gab es 1987 eine große Demonstration gegen die Gauweilerschen Maßnahmen. Aber sie wurden erst 2001 endgültig aufgehoben.

Für Jüngere ist die Atmosphäre von damals schwer nachzuvollziehen. Dazu muss man sich den Zeitablauf vergegenwärtigen – erst vier Jahre nach dem Auftauchen der Krankheit gab es die ersten Tests, die das Vorliegen einer Infektion feststellen konnten; erst 1988 gab es das erste Medikament. Noch Anfang der Neunziger habe ich einige Freunde durch AIDS verloren. Inzwischen ist die HIV-Infektion schon lange nicht mehr zwangsläufig tödlich.

Aber da gibt es den nächsten Punkt, der erklärt, warum unter den Demonstranten gegen die Maßnahmen mehr Ältere sind. Die Medikamente gegen HIV waren anfangs unbezahlbar teuer, was Millionen in ärmeren Ländern das Leben kostete. Nur dadurch, dass erst Indien und dann Brasilien diese Medikamente illegal kopierten, wurde der Griff der Pharmaindustrie letztlich gebrochen, die ihren Anspruch, an jedem HIV-Infizierten Hunderttausende zu verdienen, nicht aufgeben wollte. Wer immer das damals bewusst miterlebt hat, wird dieser Branche nie wieder vertrauen.

Und die Angstmacherei. Dieser "Wir werden alle sterben"-Tonfall. Es lohnt sich, mal alte Spiegel-Titel zu betrachten. Das ging tief. Es gab sie wirklich, die Menschen, die sich in der Straßenbahn weiter wegsetzten, wenn sie jemanden für schwul hielten. Die nicht mehr die Hand geben wollten. Die anfingen, jeden als persönlichen Feind zu betrachten, den sie für einen möglichen Überträger hielten.

Wenn man die damalige Reaktion mit der heutigen vergleicht – sicher, HIV ist deutlich schwerer übertragbar als COVID-19. Aber in den ersten zehn Jahren war es keine Krankheit mit einer Sterblichkeit von 0,x Prozent, sondern von hundert, wenn auch nach einer meist langen Inkubationszeit. Wenn damals heute wäre, würde der Bundesgesundheitsminister dann den Sex verbieten?

Für meine Generation waren Kondome das Verhütungsmittel unserer Großeltern, längst obsolet durch Pille, Spirale und Co., ein Nischenprodukt, das gerade noch im Sexgewerbe genutzt wurde. Plötzlich sollte dieses Ding unverzichtbar werden, um überhaupt noch ein normales Erwachsenenleben zu führen. Und solche wie Gauweiler bombardierten diese Lösung noch mit Sprüchen wie etwa, der Gebrauch eines Kondoms komme "russischem Roulette mit nur einer statt mit drei Kugeln gleich" und sei "Schokolade für Diabetiker".

Wir haben das damalige Elend überstanden. Mit Vernunft. Mit einem menschlichen Maß, ohne unsere menschlichen Grundbedürfnisse (in diesem Fall die Sexualität) preiszugeben, ohne ein Zentralregister für Positive, ohne staatliche Eingriffe in die Beziehungen zwischen den Menschen. 1994 wurde der § 175 endlich gestrichen, ein kleines Abschiedsgeschenk der DDR an die BRD. HIV ist nach wie vor nicht heilbar, aber behandelbar. Nur – es hätte anders kommen können.

Zwei Zitate aus der damaligen Presse illustrieren das geradezu unheimlich. Das erste stammt wieder aus dem Artikel in der Zeit und bezieht sich auf ein Rechtsgutachten des Münchner Gesundheitsamts, das Gauweiler als Grundlage für die bayrischen Maßnahmen diente:

"Bei der 'Fahndung' nach 'HIV-Verdächtigen' sollen 'keine übertriebenen Anforderungen' an den Begriff des 'dringenden Verdachts' gestellt werden. Eine 'konkrete Gefahr' für die Gesundheit und damit ein Anlaß für die Ermittlungspflicht von Polizei und Gesundheitsamt sei schon dann gegeben, wenn 'irgendwann in überschaubarer Zukunft mit einem Schadenseintritt gerechnet werden muß'. Selbst wenn 'nur die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts' bestehe, müsse auch dieser in dem Rechtsgutachten als 'Scheingefahr' bezeichneten vagen Bedrohung nachgegangen werden."

Das zweite stammt aus einem Artikel im Spiegel, ebenfalls von 1987: "Offensichtlich angetan von den ordnungs- und gesellschaftspolitischen Möglichkeiten einer gnadenlosen Seuchenbekämpfung, wollen die Bayern ihre Front vorerst dort verstärken, wo die Opfer am schwächsten sind. In Regensburg untersagte die Polizei die Teilnahme am privaten Fest einer Schwuleninitiative.

In Bayerns Gefängnissen sollen sich die 10 000 Häftlinge, obwohl der Maßnahmenkatalog noch keine Rechtsgrundlage bietet, in den nächsten Tagen einem freiwilligen Test unterziehen. Wer sich weigert, gilt als infiziert und kommt in Einzelhaft. Essen und Trinken werden dann nur noch mit Handschuhen gereicht, das Bewachungspersonal wird mit 'chemischen Keulen' nachgerüstet."

Und jetzt ein kleines Zitat vom Oberverwaltungsgericht Berlin, aus der Pressemitteilung vom 31.07.2021. Es referiert an dieser Stelle die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Berlin zu den Verboten der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, der es sich angeschlossen hat: "Leben und Gesundheit von Menschen seien mit Blick auf die Gefahr einer COVID-19-Infektion unmittelbar gefährdet, wenn die Versammlungsteilnehmer den Mindestabstand und die jeweils zu beachtenden Hygieneregeln wie das Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske missachteten."

Das RKI hatte für Sonntag, den 01.08., eine bundesweite Inzidenz von 17,5 angegeben. Die größte angemeldete Demonstration sollte 22.000 Teilnehmer umfassen. Statistisch hätte das bedeutet, es hätten sich darunter vier Personen befunden, deren Test positiv ausgefallen wäre, was, wie wir wissen, noch lange nicht bedeutet, dass sie krank oder infektiös gewesen wären. Das ist die Grundlage für ein Verbot wegen einer "unmittelbaren Gefährdung von Leben und Gesundheit" für eine Veranstaltung unter freiem Himmel, wofür nicht einmal eine Ansteckungsmöglichkeit nachgewiesen ist.

Muss da nur ich an die bayerischen Häftlinge des Jahres 1987 denken? Damals ist dieses Land den richtigen, den humanen Weg gegangen. Der CSD ist, so inhaltsleer und kommerziell er inzwischen ist, ein Ergebnis dieses damaligen Sieges. Heute aber hat der Gauweiler des Jahres 1987 gewonnen.

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