Russland

Kräftemessen mit der Polizei: So "friedlich" waren die Pro-Nawalny-Demos tatsächlich

Deutsche Medien werfen der russischen Polizei brutales Vorgehen bei den Nawalny-Demonstrationen vor. Zudem wollen sie bei den Protesten für die Freilassung des Politbloggers keine Kinder gesehen haben. Die Berichterstattung über Russland ist wie gewohnt einseitig.

von Wladislaw Sankin

Russland befindet sich noch immer unter dem Eindruck der landesweiten Protestaktionen für die Freilassung des Politbloggers und Kreml-Gegners Alexei Nawalny. Viele Beobachter stellen fest, dass die Protestierenden eine viel höhere Gewaltbereitschaft zeigten als bei den kleineren Protestwellen in Moskau in den Jahren 2017 und 2019. Diesmal geriet die Polizei vor allem in Moskau und Sankt Petersburg mehrere Male vor der aufgebrachten Menge in die Defensive.

Was das Vorgehen der Polizei angeht: Sie nahm erwartungsgemäß die aus ihrer Sicht besonders aktiven Teilnehmer der nicht genehmigten Demonstrationen fest und in Polizeigewahrsam. Es war zu erwarten, dass dieses Verhalten der Polizei zum beliebtesten Bildmotiv des Tages der westlichen Nachrichtenagenturen wird. Erinnert sei an die fast skurril wirkende Szene, als Polizisten eine der Organisatorinnen der Proteste, die Nawalny-Vertraute Ljbow Sobol, mitten im Interview vor den Augen einiger Anhänger und Journalisten abführten.

Aber war dieses "gewaltsame Vorgehen" der Polizei tatsächlich so "massiv" oder "brutal", wie die Nachrichtenagentur dpa es darstellte? Dort hieß es:

"Wegen des brutalen Vorgehens forderten teils aus Sorge um ihr Leben ins Ausland geflüchtete prominente russische Oppositionelle die EU zu Sanktionen gegen Oligarchen und Freunde von Putin auf."

Da die dpa mit ihren Meldungen die deutschen Medien versorgt, prägten vor allem diese Sätze die Wahrnehmung der Menschen in Deutschland und beeinflussten somit die politische Reaktion auf das angeblich brutale Vorgehen.

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Dabei teilen nicht einmal Nawalny-Vertraute wie Leonid Wolkow diese Meinung. Auf die Frage des Magazins Der Spiegel, "es gab am Samstag 3.618 Festnahmen und reichlich Bilder von Polizeigewalt. Wie schätzen Sie das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten ein?", antwortete Wolkow:

"Entgegen dem Eindruck, der sich jetzt in den Köpfen festsetzt, ging man nicht besonders hart vor. Es gab keine gewaltsamen Auflösungen."

Über die Zusammenstöße der Demonstrationsteilnehmer mit der Polizei in Moskau schrieb die dpa knapp:

"In Moskau prügelten Uniformierte der gefürchteten Sonderpolizei OMON auf Demonstranten ein, die Absperrungen durchbrochen hatten und mit Schneebällen warfen."

Am Dienstag wurde Kremlsprecher Dmitri Peskow zu diesen Auseinandersetzungen noch einmal ausführlich befragt. Dieser erklärte, die Demonstranten hätten durch ihre Teilnahme an einer nicht genehmigten und daher gesetzwidrigen Aktion einen Rechtsbruch begangen. Insofern sei deren Verhalten mit dem Verhalten der Sicherheitskräfte nicht vergleichbar. Peskow wörtlich:

"Das Gewaltniveau vonseiten der Aktionsteilnehmer war beispiellos. Sie haben sich äußerst aggressiv verhalten. Und die Fälle aggressiven Verhaltens gegenüber den Rechtsschutzorganen überwogen die Fälle unerwünschten Verhaltens vonseiten der Polizei. Es gab in der Tat traurige Momente."

"Die aggressiven Protestler provozierten diese Vorfälle. Die Spannungen wurden durch aggressive Aktionsteilnehmer verursacht."

Am Tag zuvor hatte der russische Präsident Wladimir Putin die Teilnahme Minderjähriger an den Demos scharf verurteilt. Er stellte klar: "Man darf Minderjährige nicht vorschieben. Denn so machen es Terroristen, wenn sie Frauen und Kinder vor sich hertreiben".

Doch auch über die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an den Protesten hatte die dpa eine andere Meinung:

"Hauptthema der Staatsmedien war, dass angeblich Kinder zu den Protesten verleitet wurden. (…) Tatsächlich waren vor allem viele junge Menschen auf den Straßen, aber nicht im Kindesalter", wie dpa-Reporter vor Ort berichteten.

Es stellt sich also die Frage: Was war Fakt und was Fiktion am 23. Januar in Moskau? Anhand von Augenzeugenberichten und Bildmaterial, das im Internet verbreitet wurde, lässt sich das Geschehen im Hinblick auf die Gewalt wie folgt rekonstruieren.

Alexander Kotz, preisgekrönter Kriegskorrespondent des Nachrichtenportals Komsomolskaja Prawda, beschrieb die Situation so:

"In Moskau begannen die ersten Festnahmen bereits am Mittag, zwei Stunden vor dem offiziellen Beginn der inoffiziellen (nicht genehmigten) Aktion. Der Puschkin-Platz und der Platz dahinter füllten sich allmählich. Zwischen den erwachsenen Demonstranten schlenderten Grüppchen von Jungen und Mädchen, die gekommen waren, um 'eine Revolution zu machen'. Mit ihrer Mimik zeigten sie, wie bedeutungsschwer dieser 'historische Moment' war."

Wie RT bereits berichtete, sind viele dieser Kinder offenbar der massiven Propaganda auf TikTok gefolgt.

Neben Neugier und Abenteuerlust konnten nur Wenige den Zweck ihres Erscheinens gegenüber den Journalisten formulieren. Das Alter reichte von zwölf bis 17 Jahren. Manche hatten von Alexei Nawalny gehört, hielten ihn aber für einen abtrünnigen Abgeordneten oder Gouverneur, der "für unsere Freiheit kämpft".

Andere wussten nichts über Nawalny, wollten aber "die Revolution" aus der Nähe betrachten. So oder so ähnlich berichteten die Kinder und Jugendlichen über ihre Eindrücke, wie dieser TikToker aus einer Provinzstadt:

Viele Teilnehmer machten einen weniger freundlichen Eindruck wie diese Gruppe Jugendlicher, die Kotz auf dem Puschkin-Platz fotografierte: 

Zwischen 14 und 15 Uhr begann sich die Stimmung auf dem Puschkin-Platz anzuheizen. Die Menge skandierte "Putin, hau ab" und beschimpfte die Polizeikräfte, die näher anrückten. Ein Gegendemonstrant kletterte auf eine Laterne und provozierte die Menge mit einem Anti-Nawalny-Plakat. Er wurde kurzerhand von der Laterne heruntergezogen und verprügelt: 

Mehrere Menschen kamen dem Mann zu Hilfe und drängten die Schläger zurück. "Hört auf, wir sind keine Tiere!", riefen sie. Der Vorfall zeigte, dass sich unter den Teilnehmern der Aktion viele gewaltbereite Demonstranten befanden. Viele wollten wiederum, dass der Protest friedlich bleibt und keine Provokationen stattfinden. 

Eine weitere Szene vom Puschkin-Platz zeigt, wie sich die jugendlichen Demonstranten Mut machten, um mit den Sicherheitskräften zu kämpfen. Als es zum Handgemenge kam, flogen Flaschen und sonstige Gegenstände auf die Polizei:

"Ja, die Gesetzeshüter setzten Schlagstöcke ein, und das Internet wird sicher mit 'brutalen Bildern' gefüllt werden. Aber in der Regel zeigen sie nie, was ihnen vorausgegangen ist. Die Brutalität wie bei den Minsker Polizisten im August 2020 habe ich nicht gesehen. In den meisten Fällen ging die Bereitschaftspolizei (OMON) nur gegen Radikale und Provokateure hart vor, die zu randalieren versuchten oder sich an den 'Überfällen' auf die Bereitschaftspolizeiketten beteiligten", schrieb Kotz. Er filmte auch eine Szene, wie eine Gruppe der OMON-Kräfte von den Protestlern für ca. eine Vierteilstunde eingekreist wurde. 

Ein Video in Zeitlupe zeigt, wie die jugendlichen Protestierenden versuchten, die Polizeikette zu durchbrechen. Das Handgemenge begann, als ein Vermummter mit dem Kopf nach vorne auf die Polizisten zu rannte. 

Abends zerstreuten sich die Protestierenden in der Innenstadt. Sie beschimpften die Polizei aufs Übelste und bewarfen sie mit Schneebällen:

Für Aufsehen sorgte vor allem der Angriff auf den Wagen des Innengeheimdienstes FSB. Kremlsprecher Dmitri Peskow zufolge hat der Fahrer dabei ein Auge verloren. 

Andere Videos zeigen, wie manche Demonstranten versuchten, den Polizisten Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen. Am Ende des Tages waren die Demonstranten in der Stadt zerstreut und die Gewalt nahm ab. "Die Aktivsten von ihnen sind zu diesem Zeitpunkt schon festgenommen", kommentierte Kotz die Situation, als er in einem Video zeigte, wie die Polizei einen mutmaßlichen Koordinator der Proteste festnahm.

Allein in Moskau wurden am 23. Januar 1.470 Menschen in Zusammenhang mit den Protesten festgenommen. Die vielen Minderjährigen, die darunter waren, wurden ihren Eltern übergeben. Nach Feststellung ihrer Personalien wurden 99 Prozent der Festgenommenen am gleichen Tag nach Hause entlassen. Einem Teil von ihnen drohen administrative Strafen, insgesamt wurden 21 Kriminalverfahren eingeleitet.

Insbesondere die Festnahmen der Minderjährigen sorgten für dramatische Bilder, die die Nachrichtenagenturen wie Reuters verbreiteten. Mit einem solcher Bilder titelte beispielsweise die Bild-Zeitung: 

Wie ein Telegram-Video belegt, wurde das festgenommene Mädchen offenbar kurze Zeit später wieder freigelassen. "Ich habe mich entschuldigt und sie ließen mich frei", erzählte sie einem Reporter. Wofür sie sich entschuldigen musste, wurde aus dem Gespräch nicht klar. Es ist möglich, dass das Mädchen an den Beschimpfungen der Polizisten teilnahm.

Am Montag forderte der Hohe Vertreter der EU für Außen-und Sicherheitspolitik Josep Borrell Russland auf, alle "Verhafteten" sofort freizulassen. Damit demonstrierte er, dass die Vertreter der Westmächte gern den Unterschied zwischen einer Festnahme und einer Verhaftung vermischen und im Agieren russischer Behörden fast nur "Willkür" sehen. Das ist im Wesentlichen auch der einseitigen Berichterstattung zu verdanken. 

"Es gab Menschen, die gekommen waren, um ihre Unzufriedenheit friedlich auszudrücken – zu schreien, ein Plakat zu halten, Selfies vor dem Hintergrund von "Kosmonauten" (so werden in Russland umgangssprachlich behelmte Polizisten genannt – Anm. der Red.) zu machen", zieht Alexander Kotz Bilanz. "Und es gab einen radikalen Kern, der gekommen war, um die Ordnungshüter zu provozieren. Und davon gab es genug am Samstag in Moskau.

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Handgreiflichkeiten, Beleidigungen unter der Gürtellinie, Tritte – gewaltbereite Demonstranten nutzten die Situation aus. Es war nicht mehr nur ein "Stehen und Schieben". Am Samstag haben diese jungen Leute (und die ganz jungen mit ihnen) eine Grenze überschritten. Es ist offensichtlich, dass diese nicht genehmigte Aktion der Startschuss für kommende Proteste war: 

"Die Parteien sondierten sich, schauten sich gegenseitig an und führten eine Aufklärungskampagne durch", so Kotz. 

Trotz allem gab es am Samstag dennoch kein "Pogrom"- wider der "Prophezeiungen" mancher Oppositioneller oder Journalisten. Die Moskauer Gesundheitsbehörde meldete, dass keiner der medizinisch Versorgten an diesem Tag für eine stationäre Behandlung im Krankenhaus bleiben musste. 

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