"Zwei-Prozent-Ziel erreichen, nukleare Teilhabe bekräftigen!": FAZ? – TAZ!
von Leo Ensel
Auch taz-Redakteur*innen altern. Irgendwann ist der Avantgardebonus – distinktiver Ersatz für üppiges Gehalt – aufgebraucht. Nicht jede/r schafft rechtzeitig den Absprung zu den Fleischtöpfen der erheblich spendableren Leitmedien. Und mit den Jahren geht ein Ikea-Mobiliar nach dem anderen zu Bruch. Immer gebieterischer stellt sich die Frage aller Fragen: Wie schafft man es doch noch auf den letzten Metern, ein passables Stück vom großen Kuchen zu ergattern?
Wie gut, dass in solch einer Generationenkrise die schwarz-grüne, gar grün-schwarze?, Koalition schon mal ihre Schatten vorauswirft! Die ideale Chance für das den alternativen Mainstream bedienende Blatt, sich schon mal in – wie verkauft man das am Besten? – sagen wir: ‚kritisch-solidarischer Supervision‘ zu üben. Und wie macht man dies möglichst elegant? So, dass die Abkehr von Grundsätzen, die jahrzehntelang als unumstößlich galten, nicht allzu penetrant ins Auge sticht? Die salomonische Lösung: Man öffnet den Raum für Gastkommentare! Dann hat man die heiklen Positionen schon mal schwarz auf weiß – und kann sich als Redaktion anschließend immer noch getrost vom Tabubruch distanzieren. Ein bisschen Toleranz wird ja wohl noch erlaubt sein.
„Eine neue Härte“
„Transatlantisches Verhältnis: Eine neue Härte“ lautet stramm die Überschrift des Ende Januar veröffentlichten Gastkommentars vom Diplomaten a.D. Rüdiger Lüdeking im sich als links verstehenden Qualitätsmedium. Bereits der Teaser gibt in einer sehr vertrauten Sprachregelung die Richtung unmissverständlich vor: „Einen Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen kann es nur geben, wenn sich Deutschland dabei als verlässlicher Partner erweist.“ Wer wenigstens ab und zu noch die Tagesschau sieht, den Deutschlandfunk hört oder einen flüchtigen Blick in Spiegel, Zeit oder Süddeutsche wirft, weiß schon jetzt – fast – alles! Da irritiert eigentlich nur noch, dass die Formel „Verantwortung übernehmen“ im Text nirgends vorkommt.
Es beginnt, wenig überraschend, mit der allgemeinen Erleichterung über das Ende der erratischen Trump-Ära, die das transatlantische Verhältnis so nachhaltig beschädigte. Die Biden-Administration wird sich, so Lüdeking, vom isolationistischen Kurs ihrer Vorgängerregierung verabschieden, Europa, insbesondere Deutschland nicht mehr als Gegner betrachten und „wieder mehr in das NATO-Bündnis, den Multilateralismus und die Diplomatie investieren.“ Der New-Start-Vertrag wird – gottseidank! – verlängert, der Wiederbeitritt zum Pariser Klimaabkommen und zur Weltgesundheitsorganisation ist bereits zugesagt. Will sagen: „Die amerikanische Außenpolitik wird in den kommenden Jahren wieder ein anderes, freundlicheres Gesicht erhalten.“
Das war die ‚gute‘ Nachricht. Doch die schlechte folgt sogleich: „Ein Zurück in eine vertraute, kommode Zukunft wird es nicht geben.“ Die Zukunft ist halt auch nicht mehr das, was sie mal war!
Hinter dem freundlichen Gesicht und der Abkehr vom Isolationismus verbirgt sich nämlich die Forderung der USA an die transatlantischen Partner nach einer „geschlossenen Front“, wenn es um das „Zusammenstehen als Wertegemeinschaft bei der Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten sowie einer regelbasierten internationalen Ordnung“ gegenüber (sic!) „Sicherheitsrisiken“ wie Russland, China und dem iranischen Nuklearprogramm geht. Schließlich kann diesen (Lüdeking schreibt dieses Wort tatsächlich noch verschämt in Anführungszeichen) „Feinden“ der liberalen Demokratien und ihrer aggressiven Politik nur – die Damen vom Aufrüstungsmatriarchat lassen grüßen – „mit Härte begegnet werden“. Biden hat zudem vor, „noch stärker als zu Zeiten von Präsident Obama auf eine konfrontative Politik des ‚Containment und Rollback‘ zu setzen.“ Konsequenz: „Deutschland wird sich auf eine härtere, zumindest teilweise an die Zeiten von George W. Bush erinnernde Politik aus Washington einstellen müssen.“
Aufrüsten – für Dialog und Entspannung!
Soweit, so erwartbar. Aber Lüdeking hat noch eine höchst originelle Pointe parat. Schließlich schreibt der ehemalige deutsche Botschafter beim Königreich Belgien ja für das taz-Publikum, eine intellektuell anspruchsvolle Leser*innenschaft, die es gewohnt ist, um mindestens drei Ecken mehr zu denken, als die von ihr so tief verachtete (spieß)-bürgerliche Mitte! Außerdem ist nicht völlig ausgeschlossen, dass in diesem Milieu der eine oder die andere noch nostalgische Erinnerungen an Friedensdemos in den Achtziger Jahren pflegen und heimlich Sympathien für die damals so erfolgreiche Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs hegen.
Um dieses Publikum nun auf seine Seite zu ziehen, geht Lüdeking äußerst raffiniert vor: Er konzediert nämlich, dass, vor allem im Verhältnis zu Russland, „die deutsche Außenpolitik durch den konfrontativen, mit moralischem Impetus begründeten Politikansatz Bidens vor besondere Probleme gestellt wird, da sie traditionell eine auch stark auf Dialog, Zusammenarbeit und Entspannung ausgerichtete Politik verfolgt.“ So gehe sie von der realpolitischen Maxime aus, „dass es trotz der menschenverachtenden Politik Putins im deutschen Interesse liegt, die Konfrontationsspirale mit Moskau nicht außer Kontrolle geraten zu lassen und Moskau nicht durch alleinige konfrontative Einhegung und Ausgrenzung in die Arme Chinas zu treiben.“ Und damit seien natürlich Konflikte mit der Solidarität und Gefolgschaft fordernden Biden-Administration vorprogrammiert.
Lüdeking lässt es geschickt in der Schwebe, aber er formuliert so, als lasse er für die – „auch den bei der Überwindung des Kalten Krieges gemachten Erfahrungen“ geschuldete – deutsche Position noch entfernte Sympathien durchschimmern. Und nun kommt, halten Sie sich fest!, der clevere Salto mortale: Will die Bundesrepublik noch einen Rest ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit, vor allem ihrer vergleichsweise moderaten Russlandpolitik bewahren, dann muss sie sich den USA gegenüber als besonders verlässlicher, will sagen: willfähriger Partner beweisen. Sie muss also, in klarer deutscher Prosa, „die eklatanten Mängel in Ausrüstung und Personalausstattung der Bundeswehr beheben und das vereinbarte, von Präsident Biden bekräftigte 2-Prozent-Ziel für den Verteidigungshaushalt erreichen. Zudem sollte die nukleare Teilhabe nicht in Frage gestellt werden.“ Dazu muss natürlich auch noch der „europäische Pfeiler des transatlantischen Bündnisses“ – was immer damit genau gemeint sein mag – gestärkt werden. Conclusio: „Dies entspräche dem realpolitischen Grundsatz, dass gesicherte Verteidigungsfähigkeit die Voraussetzung für die Bereitschaft zu Dialog und Entspannung ist.“
Chapeau, Herr Botschafter a.D.: Eine des verwöhnten taz-Publikums wahrlich würdige Argumentation!
Transatlantisch? Die taz traut sich was!
Welch ein Zufall, dass dieser als Gastkommentar getarnte, den ‚Great Reset‘ der taz einleitende Grundsatzartikel nahezu zeitgleich mit der Publikation des richtungsweisenden, von Vertreter*innen von Atlantik-Brücke, Aspen Institute, German Marshall Fund, der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der Münchner Sicherheitskonferenz und der unvermeidlichen Heinrich-Böll-Stiftung unterzeichneten Dossiers mit dem koketten Titel „Transatlantisch? Traut Euch!“ erschien! Und wenn jemand diesen Rat umgehend beherzigte und sich gleich schwer was traute, dann war es – die taz.
Aber die taz war ihrer Zeit schon immer weit voraus, ist sie doch bekanntlich ein Avantgardeblatt. Bereits im Dezember 2019 hatte sie – noch zu tiefsten Trump-Zeiten und, klar, ebenfalls in einem Gastkommentar, der der FAZ alle Ehre gemacht hätte – mit der scharfsinnigen Bemerkung, die NATO sei „kein Rund-um-sorglos-Paket mehr“, für die „Stärkung des europäischen Pfeilers“ geworben.
Kurz: Die taz hat sich, die FAZ überflüssig machend, schon längst als das Zentralorgan einer grün-schwarzen Koalition, sprich: als Regierungsblatt der Zukunft empfohlen. Tatkräftig wird sie künftig daran mitwirken, auch im grünalternativen Lager die transatlantischen Reihen fest zu schließen. Die Frohe Botschaft für die alten Kämpfer*innen in den Redaktionsstuben: Vielleicht klappt es ja kurz vor Altersdiabetes, Hirntod und Herzinfarkt doch noch mit den Fleischtöpfen ...
Die ultimative Pointe zum Schluss der Onlineversion dieses mutigen Plädoyers für Aufrüstung und ‚nukleare Teilhabe‘ soll Ihnen jedoch auf keinen Fall vorenthalten werden: Statt der fälligen Anmerkung, „Meinungs- und Gastkommentare müssen nicht der Ansicht der Redaktion entsprechen“, finden wir hier den folgenden Satz: „Guter, kritischer Journalismus ist nicht kostenlos zu haben und braucht Finanzierung.“
Eine trefflichere Abschlußsentenz fällt selbst dem Autor dieser Polemik nicht ein!
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