"Lakaien", "Puppe", "Prostituierter": Nawalnys verbale Attacken vor Gericht schockieren viele Russen
von Wladislaw Sankin
Der Politblogger und Antikorruptionsaktivist Alexei Nawalny ist berühmt-berüchtigt für seine Gerichtsauftritte. In Gerichtsräumen wurde der Angeklagte schon mehrmals selbst zum Ankläger und Volkstribun. "Die Menschen haben das legale Recht auf den Aufstand gegen diese illegale, korrupte Regierung. Diese Junta, die alles gestohlen hat, hat (den Leuten) alles genommen", sagte Nawalny beispielsweise, als er im Dezember 2014 im Yves-Rocher-Prozess das "letzte Wort" ergreifen durfte.
Auch bei den aktuellen Gerichtssitzungen am 18. Januar sowie am 2. Februar hat er anklagende Reden gehalten. Der Pro-Nawalny-Sender Doschd fand einen seiner Auftritte so überzeugend, dass er ihn von professionellen Schauspielern sogar als Hörspiel einsprechen ließ.
Ob die Auftritte Nawalnys im Prozess wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen am Freitag auch zur Kunst werden, ist allerdings fraglich. Statt den O-Ton Nawalnys in aller Ausführlichkeit wiederzugeben, musste Doschd diesmal bei der Live-Übertragung des Öfteren schlicht mitteilen, es werde "gestritten". Während der gesamten Verhandlung versuchte Nawalny, die Sitzung zu dominieren, und beschimpfte wiederholt die Ankläger, Richterinnen und Zeugen des Verfahrens, sodass die vorsitzende Richterin die Verhandlung mehrmals abbrach, um sie letzten Endes auf nächste Woche zu verschieben.
Doch worum geht es bei dem Prozess genau? Am 2. Juni veröffentlichte RT ein kurzes Video zur Unterstützung der Abstimmung zur Verfassungsänderung in Russland, die zwischen dem 25. Juni und dem 1. Juli 2020 stattfand. 15 Personen sprachen vor der Kamera nacheinander die Präambel der Verfassung ein, sodass jeder Aktionsteilnehmer nur für wenige Sekunden zu sehen war. Die meisten von ihnen waren Schauspieler, Sportler oder Top-Ärzte und damit als Personen des öffentlichen Lebens bekannt – bis auf einen zu diesem Zeitpunkt unbekannten knapp 93-Jährigen Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges namens Ignat Artemenko.
Bekleidet mit einem mit Medaillen verzierten Anzug sagte er, dass man die Erinnerung an die Vorfahren ehren müsse. Wie der Ex-Militär und Oberst der Armee später sagte, habe er das aus "patriotischen Gründen" getan. Auch früher habe er sich für die Erziehung der jüngeren Generation eingesetzt.
Am selben Morgen verfasste Nawalny dazu den folgenden Twitter-Kommentar:
"Oh, da sind sie, die Liebsten. Ich muss zugeben, dass das Team der korrupten Lakaien bisher ein wenig schwach aussieht. Seht sie euch an: Sie sind eine Schande für das Land. Menschen ohne Gewissen. Verräter."
Als der Veteran von diesem Tweet erfuhr, hatten er und seine Familie sich dazu entschlossen, für ihren guten Namen zu kämpfen – und zeigten Nawalny wegen Verleumdung an. Besonders die Bezeichnung "Verräter" habe Artemenko demnach schwer getroffen.
"Ich bin keine Schande für das Land, sondern sein Verteidiger. Ich bin kein Kriecher, ich habe nie jemanden verraten, ich bin kein Mann ohne Gewissen", teilte der Veteran mit. "Nawalny hat mich verleumdet, das will ich mir nicht gefallen lassen." Er sei wegen der ihm zugefügten seelischen Leiden in gesundheitlich schlechter Verfassung gewesen.
Als vonseiten der Nawalny-Unterstützer Zweifel geäußert wurden, ob der Veteran echt sei, hat RT die Lebensgeschichte des Kriegsteilnehmers veröffentlicht.
Als 15-Jähriger hatte Artemenko bei dem Rückzug der Roten Armee in der Nähe seines Dorfes in Weißrussland zurückgelassene Kriegsmunition eingesammelt und verschanzt. Später übergab er sie den Partisanen und wurde von den Besatzern aufgegriffen, konnte aber auf dem Weg zum Verhör fliehen. Er schloss sich einer Partisaneneinheit an und war an vielen Aktionen und Kämpfen beteiligt. Als Artemenko volljährig wurde, trat er in eine Aufklärungseinheit der Roten Armee ein. Bei der Überquerung der Oder im April 1945 wurde Artemenko verwundet und später aufgrund der Spätfolgen als Kriegsinvalide eingestuft.
In Russland fallen die Strafen für Verleumdung vergleichsweise mild aus. Laut dem im Juni 2020 geltenden Recht – das Ende des Jahres verschärft wurde – würde Nawalny bei einem Schuldspruch nur eine Geldstrafe drohen. Jährlich werden russlandweit nur etwa hundert Menschen wegen Verleumdung schuldig gesprochen. Oft können sich die Parteien auf eine außergerichtliche Lösung einigen – wenn beispielsweise die umstrittene Äußerung zurückgenommen wird.
Der Veteran gab noch vor der Verhandlung zu verstehen, dass er eine Entschuldigung akzeptieren würde. Die Verteidigung Nawalnys entschied sich anders. Ebenso wie die Klägerseite hat sie eine linguistische Analyse von Nawalnys Aussagen beantragt. Der Analyse zufolge seien die "negativen Informationen", die Nawalny via Twitter und Telegram verbreitete, "Werturteile", die seine "gesellschaftliche Haltung" widerspiegelten. Sie enthielten keine Tatsachen mit und könnten nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Die ganze Sache sei "politisch motiviert", so Nawalnys Rechtsanwalt Wadim Kobsew.
Während der Verhandlung sagten neben dem Geschädigten auch mehrere Zeugen aus, die meisten von ihnen ebenso wie er per Videoschaltung. Nawalny nahm seine Verteidigung selbst in die Hand. Er bemängelte fortlaufend angebliche Prozessfehler und überschüttete Zeugen und die Richterinnen mit provokativen Fragen. Sein Hauptvorwurf: Die Sache sei von "käuflichen" RT-Journalisten und Verwandten des Veteranen fabriziert worden. Er wandte sich auch an die zweite Richterin, die aus Formalgründen bei Artemenko saß, und forderte sie auf, ihr Gesicht zu zeigen. So fragte er, ob sie etwa nackt sei, nachdem seine Bitte, sie zu zeigen, abgelehnt worden war.
Doch das war nicht die einzige Entgleisung Nawalnys, die russische Medien zitierten. Mehrmals während des Prozesses redete sich Nawalny regelrecht in Rage. Der "Alte" (дед) – so nannte der Angeklagte den Veteranen – werde ausgenutzt, da er selbst nichts mehr verstehe. Viermal nannte er den Kriegsteilnehmer eine "Puppe" in den Händen skrupelloser Verwandter, die ihn in der Nacht mit dem Kissen ersticken würden, um dessen Tod Nawalny in die Schuhe zu schieben. "Notieren Sie das", bekräftigte er diese Aussage vor Journalisten.
Damit spielte Nawalny auf die gesundheitliche Verfassung des Veteranen an. Nach dessen Online-Teilnahme musste noch am Vormittag ein Krankenwagen herbeigerufen werden. Besonders heftig fiel das Wortgeplänkel mit dem Enkel des Veteranen aus, der als Zeuge geladen war. Der TV-Kanal Doschd protokollierte eine der vielen Auseinandersetzungen des Tages wie folgt:
"Nawalny: Sie verkaufen Ihren Großvater!
Kolesnikow (Enkel): Alexei, versuchen Sie, ein Mann zu bleiben!
Nawalny: Sie gehen mit Ihrem Großvater hausieren, er hat seinen Enkel zu einem Prostituierten erzogen!
Staatsanwältin: Der Angeklagte hat keinen Respekt vor den Teilnehmern des Prozesses!
Richterin: Ich kann eine Pause für fünf Minuten anordnen, rüpelhaftes Verhalten wird hier nicht geduldet. Er wird des Saales verwiesen."
Als die Verhandlung beendet wurde, traten die Rechtsanwälte Nawalnys vor die Kameras und sagten, dass auf der Klägerseite ein Durcheinander herrsche, denn weder der Enkel des Geschädigten noch der Geschädigte selbst hätten in Wirklichkeit eine Anzeige gegen Nawalny erstattet. Beobachter des Prozesses wie der deutsch-russische Journalist Alexander Sosnowski meinen, dass es Nawalny gelang, den Prozess zu behindern und ihn zu seiner eigenen Show zu machen. Deshalb sei eine an sich einfache Verhandlung vertagt worden.
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Doch die Reaktionen auf die Verhandlung zeigen, dass für sehr viele Menschen in Russland allein die Tatsache, dass ein derartiger Prozess überhaupt zustande kommen konnte, schon schauerhaft genug ist. Nawalny habe seine politische Karriere an nur einem Tag zerstört, schreibt etwa eine Kolumnistin von RIA Nowosti.
"In der russischen Politik hat sich ein ungewöhnliches, nicht triviales Ereignis ereignet. Es kommt nicht oft vor, dass sich eine prominente Person öffentlich und in Echtzeit selbst als gesellschaftliche Figur zerstört, und das mit heftigem Enthusiasmus."
Ihr Beitrag wurde mehr als 1,5 Millionen Mal angesehen, was die durchschnittliche Leserzahl eines Artikels um Dutzende Male übersteigt. Die Autorin prophezeit, dass Nawalny mit seiner "Performance" auch noch die Reste seines ohnehin schwachen gesellschaftlichen Rückhalts verlieren würde – von einem harten Kern abgesehen.
Während sich die russische RT-Redaktion mit einer Live-Sendung dem Prozess widmete, riefen viele Zuschauer an und taten ihre negative Meinung zur Person Nawalny kund. In jeder Familie sei die Erinnerung an Krieg und Großväter, die das Land von Hitler-Invasoren befreiten, heilig. Ein derartiges Verhalten sei respektlos und deshalb inakzeptabel. Mit seinen Aussagen habe Nawalny zudem alle Menschen in Uniform verhöhnt, sagte beispielhaft ein Anrufer.
Eine Aktivistin des Massenmarsches "Unsterbliches Regiment", der am Tag des Sieges seit mehreren Jahren weltweit stattfindet, sagte im RT-Stream, dass der oppositionelle Blogger mit seinen Äußerungen die gesamte Generation beleidigt habe. Die Zeitung Iswestija merkte an, dass an diesem Tag kein einziger Pro-Nawalny-Aktivist vor dem Gericht gesichtet worden sei. "Nicht alle Anhänger von Alexei Nawalny unterstützen solche Ansichten", schreibt die Zeitung.
Kritik an Nawalny nimmt zu
Am Samstag hat der Chef der ältesten liberalen Partei des Landes "Jabloko", Grigorij Jawlinski, einen kritischen Artikel zu Nawalny veröffentlicht. Nawalny war Chef des Moskauer Büros der Partei, bevor er im Jahr 2007 wegen des Vorwurfs des Nationalismus aus der Partei ausgeschlossen wurde. Im Artikel warf Jawlinski Nawalny Populismus, Nationalismus, Manipulation der Massen und Entfesselung sozialer Konflikte vor. "Das demokratische Russland, der Respekt vor dem Individuum, die Freiheit, das Leben ohne Angst und ohne Repression sind mit Nawalnys Politik unvereinbar."
Jawlinski behauptet, dass Nawalnys "Enthüllungen" in den sozialen Netzwerken "keine praktischen Ergebnisse für die Gesellschaft haben und haben können" und nur zu "primitivem sozialen Unfrieden führen". Diese scharfe Kritik löste negative Reaktionen im Nawalny-Lager aus und könnte zu weiteren Spaltungen in der sogenannten "nicht systemischen" Opposition führen.
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