Spontane Gefühle statt Balanceakt: Flutkatastrophe offenbart einseitigen Führungsstil (Teil III)
von Prof. Dr. Kai-Alexander Schlevogt
(Der erste Teil ist Klimakeule gegen Flutopfer: Hochwasserkrise offenbart apokalyptische Wahrheiten über Deutschland,
der zweite Teil ist Krisen erfordern pflichtbewusste Lichtgestalten: Ethische Lehren aus der Hochwasserkrise)
III. Wahrheit Nr. 3: Verweichlichter Stil der "Führung" untergräbt nationale Resilienz
Der schicksalsgeplagte römische Staatsmann und Denker Marcus Tullius Cicero stellte in seinen Tusculanae (III, 36) schon im Jahre 45 v. Chr. - an seinem Lebensabend in der Endphase der republikanischen Krise – unter Rückgriff auf seine akkumulierte Weisheit und ungeheure Lebenserfahrung die folgende rhetorische Frage: Quid est autem nequius aut turpius ecfeminato viro (auf Deutsch: Was ist aber liederlicher oder schimpflicher als ein verweiblichter Mann)?
Gerade die Ernsthaftigkeit war im republikanischen Rom ein wichtiges Erkennungszeichen des wahren Mannes. Ausgelassenes Lachen und närrische Einlagen in der Öffentlichkeit waren dagegen unter Staatsmännern verpönt und namentlich in Krisenzeiten geradezu unvorstellbar. In der Ikonographie ließen sich führende Männer dabei gerne als senex (auf Deutsch: Greis) mit gelichtetem Haar und Falten darstellen. Am negativen Ende des Beurteilungsspektrums gab es in diesem Zusammenhang nicht zufällig den rhetorischen Topos (Argumentationsgesichtspunkt), dass Unbeherrschtheit ein prägendes Merkmal von Tyrannen sei.
Das Ideal des kontrollierten, seriösen und mannhaften Auftretens wurde danach lange Zeit in vielen Ländern unter den Eliten in Staat und Gesellschaft tradiert. Beispielsweise legten noch im 20. Jahrhundert französische Präsidenten stets großen Wert darauf, auf Staatporträts zum Zeichen ihrer Dignität und Belesenheit mit einem Buch in der Hand in Erscheinung zu treten.
Sicherlich ist in einigen Kreisen der postmodernen Gesellschaft, die auf "Fluidität" setzen, das Ideal eines Politikers, der mit würdevoller Gravität (auf Lateinisch: gravitas cum dignitate) auftritt, wenig populär. Von führenden deutschen Politikern ist in unserer Zeit auch keine Vorliebe für Porträts mit Buch bekannt. Dennoch gibt es eine weitverbreitete Sehnsucht unter den Menschen nach staatsmännischem Auftreten und straffer Führung – besonders in Zeiten schwerer Krisen, die in Deutschland in den letzten Jahren vermehrt aufgetreten sind.
In vergangenen Generationen wurde diese Sehnsucht nach dem starken Mann in Deutschland in besonderen geschichtlichen Sternstunden tatsächlich auch gestillt. Beispielsweise zeichnete sich der einstige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt als Leiter eines Krisenstabes im Verlaufe der Sturmflut an der deutschen Nordseeküste im Jahre 1962, bei der - auch ohne Klimawandel-Konstrukt! - Rekordpegelstände erreicht wurden und insbesondere Hamburg große Verluste erlitt, durch sein entschiedenes und konsequentes Vorgehen aus. Grund für die schweren Folgen des Wetterereignisses war übrigens schon damals die mangelnde Vorbereitung der Menschen. Ein Beispiel war das Versäumnis, auch Nebenflüsse ausreichend zu sichern.
Mit militärischer Präzision "verteidigte" der ehemalige Wehrmachtsoffizier damals zusammen mit seiner gesamten Mannschaft Deiche und plante die Rettungs- und Aufräumarbeiten geradezu generalstabmäßig. Danach wurden langfristige strategische Schutzmaßnahmen ergriffen, die dazu führten, dass sich, trotz des später postulierten "Klimawandels", in Hamburg keine vergleichbare Katastrophe mehr abspielte. Und all dies gelang ohne eine Kakophonie grüner Untergangspropheten, die Sand in das Getriebe der Problembewältigungsmaschine hätten streuen können.
Interessant ist, dass der eigensinnige, unverbesserliche und später zur Zigaretten-Ikone hochstilisierte Kettenraucher damals in unkonventioneller Weise quasi-diktatorische Vollmachten an sich riss und eine zentrale Einsatzleitung etablierte. Er ließ sich dabei nicht durch seine Position in der Hierarchie einengen, sondern übernahm einfach als natürlicher Führer die situative Verantwortung.
Ohne verfassungsmäßige Befugnisse forderte der intelligente und kreative Netzwerker sogar NATO-Einsatzkräfte für die Rettungsaktionen an! Aufgrund seiner mittels unkonventioneller Methoden erzielten schnellen Siege erarbeitete er sich dabei ein sogenanntes "Idiosynkrasie-Guthaben" (Idiosynkrasie wird hier im Sinne von "Eigentümlichkeit" verstanden), d.h. ein durch erfolgreichen Regelbruch aus Bonuspunkten akkumuliertes Sozialkapital, das er sukzessive für weitere transformative Maßnahmen nutzen konnte.
Das herrische Auftreten des selbsternannten "Krisengenerals" erinnert an das (allerdings im Gesetz vorgesehene) Ausnahmeamt des Diktators auf Zeit im antiken Rom, das zeitlich begrenzt war und sich auf bestimmte, genau umrissene Aufgaben bezog. Gerade in Krisenzeiten bewährte sich diese Magistratur lange Zeit, und zwar aufgrund der Möglichkeit, schnell Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.
Solch ein gesetzliches Konstrukt könnte unter Umständen auch die Demokratie in Deutschland und anderswo handlungsfähiger machen und somit deutlich bereichern, vorausgesetzt, dass sich eine Mehrheit für solch eine Verfassungsänderung findet und wirksame Vorkehrungen gegen nur allzu gut bekannten Machtmissbrauch getroffen werden.
Einige deutsche Politiker nahmen sich später ein Beispiel an dem beherzten Vorgehen und der einprägsamen Ikonographie des entschlossenen Hanseaten, wie zum Beispiel der frühere brandenburgische Umweltminister Matthias Platzeck. Bei der Oderflut im Sommer 1997 legte der gebürtige Potsdamer im Entscheidungskampf gegen das Hochwasser selbst Hand an und erwarb sich dadurch das Epitheton ornans (schmückende Beiwort) "Deichgraf". Man kann auch an den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder denken, der im August 2002 in Gummistiefeln durch das von dem kleinen Fluss Mulde überflutete sächsische Grimma stapfte.
All diese Beispiele zeigen übrigens, dass das Hochwasser in Westdeutschland, auch wenn es ganz besonders schlimme Folgen nach sich zog, in der deutschen Katastrophengeschichte grundsätzlich kein kompletter Ausnahmefall ist. Überraschend ist dabei, wie schnell einige Kreise frühere Katastrophen vergessen und die vermeintliche "Einmaligkeit" von aktuellen Ereignissen betonen.
Weil in Krisen häufig so viel auf dem Spiel steht und die Führungspersönlichkeit so exponiert ist und so viel Aufmerksamkeit erhält, bieten sie neben der Möglichkeit des persönlichen Absturzes auch die Möglichkeit zur Profilierung und Karrierebeschleunigung. Beispielsweise war Helmut Schmidts Steuerungskunst in der Sturmflutkrise ein wichtiger Grund für seinen späteren Aufstieg zum deutschen Bundeskanzler. Es handelte sich dabei um eine "Beförderung" auf der Grundlage tatsächlicher Meriten und echter, parteiübergreifender Anerkennung einer dankbaren Nation - selbst wenn seine res gestae (Taten) in den Geschichtsbüchern durch Attributionsvorgänge in einigen Aspekten glorifizierend ausgeschmückt worden sein sollten. Auch Matthias Platzeck und Gerhard Schröder erhielten durch ihr Auftreten in den jeweiligen Krisen wertvolle politische Dividenden.
Solch ein leistungsinduzierter Erfolg kontrastiert mit zahlreichen Wahlsiegen neueren Datums, die durch unethische, raffinierte Tricks und eine manipulative Öffentlichkeitsarbeit, in der Schein mehr gilt als Sein, geradezu herbeigezaubert werden. Dann werden wie in der Magie, die verspricht, den Mond auf die Erde herunterzuziehen und den Lauf von Flüssen einfach umzukehren, sogar scheinbare Adynata (Unmöglichkeiten) Realität, wie zum Beispiel der Aufstieg inkompetenter Personen in hohe Staatsämter, passend zum Topos der verkehrten Welt.
Gemessen an den Erwartungen der heutzutage häufig nach starker Führung dürstenden Menschen und verglichen gerade mit der damaligen punktuellen Glanzleistung des senatorisch anmutenden Hanseaten schnitten zahlreiche deutsche Politiker in Bezug auf die Hochwasserkatastrophe in Westdeutschland - unter anderem aufgrund ihres übertrieben "weichen" Führungsansatzes - kläglich ab. Eine Analyse des Vorgehens einiger Spitzenpolitiker liefert zahlreiche Belege für diese negative Einschätzung. Das schlechte Abschneiden ist besonders bedauerlich, wenn man bedenkt, dass diese postmodernen Politiker in vielen Fällen aufgrund höherer hierarchischer Positionen theoretisch viel mehr Möglichkeiten zur Krisenbewältigung gehabt hätten als beispielsweise ein Hamburger Innensenator.
Gerade weil so viele Beispiele von Personen in Führungspositionen aufgezählt werden können, die sich in der Krise als inkompetent erwiesen haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei auch um ein systemisches Problem beispielsweise im Hinblick auf die Auswahl, Weiterbildung, Beförderung und Terminierung von Personal handelt.
Kaum jemand dürfte beispielsweise mit Fug und Recht bestreiten, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet seinen "Helmut Schmidt"-Moment, der ihm die Kanzlerschaft praktisch gesichert hätte, eindeutig verpasst hat. In der Öffentlichkeit war nicht deutlich sichtbar, dass er als starker Führer die zentrale Koordinierung in der Krise übernommen hätte, vom Kommandieren ausländischer Truppen ganz abgesehen!
Vielmehr wurde der gebürtige Aachener dabei gefilmt, wie er im Verlaufe einer Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Erftstadt, die dem Gedenken der Flutopfer galt, herzlich lachte. Man könnte dies als seinen "Demokrit-Moment" bezeichnen (der durch seine Atomistik bekannt gewordene vorsokratische Denker Demokrit von Abdera galt in der Antike als der "lachende Philosoph").
Im Voraus sei betont, dass ich dem praktizierenden Katholiken keinesfalls unterstelle, er habe sich über die Flutopfer lustig gemacht. Zudem muß es selbst in Krisenzeiten Momente der Heiterkeit geben – gerade eine rheinländische Frohnatur ist in solchen Fällen äußerst willkommen. Außerdem macht es keinen Sinn, sich an einer politisch-motivierten Hetzjagd von selbsternannten Moralaposteln zu beteiligen.
Dennoch muß ein Politiker in jedem Moment seines Lebens auf die Kongruenz der äußeren Persona mit seinem Inneren achten, auch wenn dies extrem schwer sein sollte. Dadurch, dass er diesen Grundsatz auch dann beherzigt, wenn er glaubt, nicht beobachtet zu werden, übt er eine relativ stabile Haltung (aristotelisch gesprochen: Hexis) ein. Dann können ihn Automatismen in vielen Fällen davor schützen, zur Lachnummer zu werden. Führungspersönlichkeiten sollten ihr Vorgehen dabei an der hilfreichen Vorstellung orientieren, dass alles, was sie denken und tun, dergestalt sein muß, dass es kurz später in den globalen Medien berichtet werden kann! Dies ist besonders wichtig, wenn man berücksichtigt, dass es durch die Medienrevolution immer wenige unbeobachtete Momente gibt und Fehltritte aufgrund des technologischen Fortschrittes selbst Jahrzehnte später von Gegnern zum Zwecke der Kompromittierung ausgenutzt werden können.
Gerade durch den Kontrast zu dem Bundespräsidenten, der erheblich seriöser wirkte, büßte Armin Laschet mit seinem Demokrit-Moment entscheidendes Sozialkapital gerade bei denjenigen Menschen ein, die er hätte führen müssen, und verlor somit an Schlagkraft.
Am Ende bleibt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident – im Gegensatz zu dem eingangs erwähnten römischen Ideal des ernsthaften Staatsmannes - den Menschen wohl eher als Verkörperung des trickreichen, regelbrechenden Schalks (auf Englisch: Trickster) in Erinnerung. Ein Grund dafür ist, dass er in Verletzung der mit seinem Lehrdeputat an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen einhergehenden Pflichten einstmals die Noten für Klausuren seiner Studenten nach dem Verlust dieser Schriftstücke in manipulativer Weise kurzerhand erfand. Dabei schreckte er nicht einmal davor zurück, auch Klausurnoten für Studenten, die überhaupt keine schriftliche Prüfung abgelegt hatten, herbeizuzaubern!
Das Beispiel des in Drucksituationen scheinbar rückgratlosen Ministerpräsidenten ist symptomatisch für einen Trend: Im gesamten Deutschland hat sich aufgrund (a) der politisch gewollten, schon in jungen Jahren erzwungenen Verweichlichung der Angehörigen des männlichen Geschlechtes, die häufig ohne richtige Vatergestalt aufwachsen, und (b) der zunehmenden Dominanz häufig überemotional auftretender Frauen in politischen und gesellschaftlichen Führungspositionen ein verweiblichter Stil der "Führung" breitgemacht. Diese Entwicklung untergräbt zunehmend die kollektive Widerstandskraft, Handlungsfähigkeit und Schlagkraft unseres Landes, da Passivität überwiegt und es an gesundem Selbstvertrauen und Optimismus, der andere inspiriert und mitreißen kann, fehlt.
An dieser Stelle sei, bevor ich nach der Laschet-Fallstudie auch auf Beispiele inkompetenter Frauen eingehe, zur Vorwegnahme möglicher Kritik betont, dass es hier nicht um empirisch unbelegte Stereotypen und geschlechterspezifische Schuldzuweisungen geht, sondern um bestimmte Muster und Tendenzen, die mit einer gewissen Regelhaftigkeit wiederkehren, aber natürlich auch durch Ausnahmen durchbrochen werden.
In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass es vor allem im Westen selbstverständlich auch Frauen gibt, die mit Härte und Rücksichtlosigkeit auftreten. Ein gutes Beispiel ist die frühere Premierministerin Großbritanniens, Margaret Thatcher, die als "eiserne Dame" (auf Englisch: Iron Lady) gefürchtet war.
In solchen Fällen übernehmen Frauen aber in der Regel männliche Eigenschaften in einem per definitionem unnatürlichen Kampf darum, wer der bessere "Mann" ist. Der Führungsstil von Frauen im Osten, die sich häufig nicht in einem Wettkampf zu Männern sehen, stellt dagegen häufig eine bessere Symbiose zwischen authentischer Feminität und effektivem Führungsverhalten dar.
Außerdem muß hervorgehoben werden, dass typisch "weibliche" Eigenschaften wie Empathie und Fürsorge in gewissen gesellschaftlichen Kontexten und bestimmten Situationen selbstverständlich enorm wichtig sind. Zudem gibt es heute, wie wir schon gesehen haben, auch viele verweichlichte männliche Politiker.
Entscheidend ist die optimale Balance zwischen Logos, Ethos und Pathos sowie insbesondere die richtige Mischung von Einfühlung und Härte. Extreme, wie zum Beispiel die Dominanz rein femininer Werte in einer von Frauen dominierten Gesellschaft wie der unseren, müssen dagegen vermieden werden. Einseitige Kritik an "weißen, älteren Männern" zum Zwecke eines Machtkampfes ist abzulehnen. Neben diesem schwierigen, filigranen Balanceakt, der mit Dilemmata umgehen, Spannungen aushalten und dabei Gegensätze miteinander vereinen muß, ist es entscheidend, das Führungsverhalten situativ anzupassen.
Auch in Krisenzeiten sind Empathie und Betroffenheit wertvoll und wichtig, reichen aber gerade in solchen Situationen einfach nicht aus. Welcher vom Tod bedrohte Soldat möchte von einer erschütterten, fassungslosen, sprachlosen, weinenden und politisch korrekt als "General*in" bezeichneten Person angeführt werden?
Leider legten gerade führende Politikerinnen im Verlaufe der Hochwasserkatastrophe genau diese eher passive und fatalistische als proaktive und entschlossene Geisteshaltung an den Tag. Da die Karrierepolitikerinnen dabei eher auf Verführung als auf Führung setzten, untergruben sie – zusammen mit ihren für die Krisenbewältigung ebenfalls ungeeigneten männlichen Kollegen – die kollektive Resilienz Deutschlands ("Resilienz" beschreibt die Fähigkeit einer Organisation, Schocks abzufedern und stabil zu bleiben).
Mangelhafte Kenntnisse im Bereich der wissenschaftlich-fundierten Führung und weitverbreitete Eigen- und Fremdzensur im Rahmen der "politischen Korrektheit" führen aber dazu, dass diese in einer unausgeglichenen Steuerung und Überbetonung des "Weichen und Weichens" liegende Schwachstelle entweder nicht erkannt oder, falls richtig diagnostiziert, nicht mutig benannt und korrigiert wird.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) beispielsweise verkörperte das Paradigma der einseitigen, links-liberalen Gefühlspolitik und emotionalen Unbeherrschtheit, indem sie die Hochwasserkatastrophe wie folgt kommentierte: "Da könnte man nur noch weinen."
Solch eine Aussage, die freilich in unserer postmodernen Gesellschaft neuerdings auch von einem Mann stammen könnte, ist einfach unzureichend in einem Moment, in dem intelligente Strategien entwickelt, Ad hoc-Organisationen aufgebaut und Rettungskräfte inspirierend geführt werden müssen und es darum geht, den Überlebenden Optimismus und Siegeswillen trotz aller Widrigkeiten einzuflößen.
In Krisen gilt es, sympathische Spontanität mit strategischer Rationalität zu vereinen. Was wäre wohl passiert, wenn Helmut Schmidt während der Flutkatastrophe in Hamburg eine depressive und defätistische Stimmung verbreitet hätte, anstatt kurzerhand militärische Einsatztruppen anzufordern?
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel machte es nicht besser als die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin. Im Gegensatz zu der bekannten Schnelligkeit des römischen Staatsmannes und Feldherrn Gaius Julius Caesar (auf Lateinisch: celeritas Caesaris), die für spätere erfolgreiche Krisenmanager paradigmatisch werden sollte, flog sie erst mit beträchtlicher Verzögerung in einem Helikopter in das Krisengebiet.
Dabei wurde – bewusst oder unbewusst - der nationale Topos "Die Führungsgestalt über Deutschland" mit dem Bild einer Politikerin, die die Flutschäden wie ein majestätisch anmutender Adler von oben begutachtet, aufgerufen. Bei der Inszenierung des Anflugs von oben klangen zudem die religiösen Motive "Erlösergestalt" und "heilbringendes Manna vom Himmel" an.
All diese ostentative, aus der nationalen, religiösen und urmenschlichen Kollektivsymbolik schöpfende Zeichensprache erwies sich aber als wirkungslos. Sie vermochte es in dem gegebenen Kontext nicht, ein erbauliches Gefühl überlegener Übersicht (im Gegensatz zu der vermeintlich eingeschränkten Perspektive "niedriger" Erdenmenschen) und der souveränen Beherrschung der Lage mit der konkomitanten Hoffnung auf eine schnelle Rettung zu erzeugen.
Der Grund für die semilogische Unwirksamkeit lag darin, dass die oben analysierten Zeichen inkongruent waren zu den anderen von der Kanzlerin ausgehenden Signalen und eine Führungspersönlichkeit in der Regel nur dann wirklich effektiv ist, wenn sie als Person "aus einem Guss" erscheint.
Im Kontrast zu ihrer "sphärischen Erhabenheit" wurde die Kanzlerin nach der Landung sofort scheinbar von Fassungslosigkeit überwältigt, die im gesamten Verlaufe ihres Besuches im Krisengebiet anhielt. Schein und Sein standen dabei in einem eklatanten Widerspruch. Anstatt am Boden– unter Ausschluss der Presse – selbst die Rettungsarbeiten über einen längeren Zeitraum zu leiten und persönlich Hand anzulegen, spendete die Pfarrerstochter nur leere Worte und verschwand dann mit einer Schnelligkeit, die man sich eigentlich direkt nach dem Einsetzen der Krise gewünscht hätte. Selbst die Verbaläußerungen waren nicht dazu geeignet, Optimismus zu erzeugen. Denn die Kanzlerin vermochte nur von "gespenstischen" und "surrealen" Bildern zu reden.
Ihre schon von anderen Auftritten bekannte und schon zur Gewohnheit gewordene "Erschütterung" und "Betroffenheit" gipfelte in der folgenden lakonischen Spitzenaussage, die auf den ersten Blick an eine Aposiopese, also ein (pathetisches) Verstummen, erinnert, aber in Wahrheit Ohnmacht verriet: "Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für die Verwüstung, die hier angerichtet ist."
Mit dieser Unterstellung täuschte die Physikerin Sprachlosigkeit vor, wälzte aber die Verantwortung dafür auf die angebliche Armut der Sprache der Dichter und Denker ab. Ausgewiesene Sprach- und Literaturwissenschaftler dürften den kommunikativen Akt dieser bedingungslosen sprachlichen Kapitulation berechtigterweise als eine Beleidigung der deutschen Sprache empfinden.
Die Mär von der semantischen Begrenztheit der Muttersprache ist in Wirklichkeit Ausdruck philologischer Unkenntnis und linguistischer Trägheit. Denn das deutsche Volk hat spätestens im Zuge der sprachlichen Assimilierung biblischer Texte (wie beispielsweise der Sintflut-Erzählung und Apokalypse) ein umfassendes Katastrophenvokabular entwickelt. Aufgrund tragischer, im kollektiven Gedächtnis später tief eingebrannter Erlebnisse wie beispielsweise des Dreißigjährigen Krieges (mit weitverbreiteter Brandschatzung und Plünderung) und des Zweiten Weltkrieges (mit Flächenbombardierungen deutscher Städte und Vertreibungen von Millionen unschuldiger Menschen) musste der Wortschatz in Bezug auf dieses Themenfeld bedauerlicherweise zusätzlich bereichert werden, um die schrecklichen Tatsachen präzise und eindrücklich abbilden zu können!
Auch wenn die Flutkatastrophe in Westdeutschland furchtbar war, kann sie nicht mit solchen, viel einschneidenderen kollektiven Traumata verglichen werden. Hier gilt das folgende "a maiore ad minus"-Argument (Schluss vom Größeren auf das Kleinere): Wenn es selbst zur Beschreibung jener schlimmeren Katastrophen geeignete Worte in der deutschen Sprache gibt, dann existiert erst recht auch ein ausreichender Wortschatz für die Charakterisierung des jüngsten Hochwassers in Westdeutschland.
Das Peinlichste an der obigen uneingeschränkten Sprachkapitulation der Bundeskanzlerin ist aber, dass sie sich in einem Akt des performativen Widerspruchs selbst entlarvte, indem sie auf rhetorisch ungeschickte Weise das richtige Wort für den Zustand, den sie angeblich nicht beschreiben konnte, gebrauchte, nämlich das Substantiv "Verwüstung".
Bei diesem Wort handelt es sich um die Sprachfigur der Metapher, die laut dem kaiserzeitlichen römischen Rhetoriklehrer Quintilian ein verkürzter Vergleich ist. Im Kopf des Rezipienten wird durch diese Trope schnell eine Assoziationskette ausgelöst. Beispielsweise kann man bei dem Wort "Verwüstung" leicht an anschauliche Kollokationen wie "Schneise der Verwüstung" denken. Zudem werden bei vielen Rezipienten unterbewusst, teilweise auch aus der Bibelsprache stammende konträre Assoziationen geweckt, wie der Gegensatz zwischen einer todbringenden Wüste und einer Quelle lebenspendenden Wassers.
Dieser kurze sprachanalytische Exkurs zeigt, dass allein schon ein einziges, passendes deutsche Substantiv mit großer Sprachökonomie eine beträchtliche kommunikative Wirkung entfalten kann. Diese Beobachtung widerlegt blitzschnell die implizite These von der situativbezogenen Spracharmut des Deutschen.
Auch in anderer, nicht-verbaler Hinsicht demonstrierte die Regierungschefin keine Führungsstärke bei ihrem Besuch im Krisengebiet und fiel beim "Helmut Schmidt"-Test für gravitätische Durchschlagskraft durch. Die müde und verbraucht wirkende Pfarrerstochter wagte es häufig nicht einmal mehr, den Menschen in die Augen zu blicken.
Besonders unpassend wirkte ihr scheinbar entspannter Spaziergang im Sonnenschein vorbei an Trümmern in Begleitung der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin, die krankheitsbedingt auf einem Dreirad fahren musste. Die zwei Frauen im Zentrum wurden dabei in einer Rollenverteilung, die noch vor wenigen Jahren als komisch eingestuft worden wäre, durch ihre männlichen Leibwächter hermetisch von den betroffenen Menschen vor Ort abgeschirmt. Komödianten würden witzeln, dass als nächste Fotogelegenheit (auf English: photo op) nur noch ein gemütliches Kaffeekränzchen in trauter Runde – wieder unter Ausschluss der meisten Flutopfer – gefehlt hätte!
Man könnte in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen, warum bei einem Besuch von Politikern in einem Krisengebiet solch extreme Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind. Neben dem selbstverständlich notwendigen Schutz vor Terroristen und anderen psychisch gestörten Menschen könnten solche Maßnahmen durchaus auch auf große Unbeliebtheit der staatlichen Elite im Volke hindeuten. Nicht von ungefähr meinte die populäre britische Königin Victoria, die einer ganzen Epoche ihren Namen gab, dass nur Tyrannen Leibwächter bräuchten!
Grundsätzlich kann in Bezug auf das Kommunikationsverhalten noch bemängelt werden, dass viele führende Politiker bei ihren Besuchen im Krisengebiet einen überwiegend "akroamatischen" Stil (von Altgriechisch ἀκρόαμα akroama: Gehörtes) darboten, möglicherweise ohne sich bewusst für solch ein Vorgehen entschieden zu haben. Dies bedeutet hier, dass sie – wie beim schulischen "Frontalunterricht" - ihre ungeschmeidige Botschaft en bloque und ohne Dialogmöglichkeit aussandten. Die Vortragsinhalte richteten sich dabei vor allem an die Medien, wobei es keine nennenswerte Rückkoppelung des Publikums vor Ort gab.
Häufig ist es aber in komplexen, undurchsichtigen Krisenlagen für Führungspersönlichkeiten besser, zunächst auf adaptive, "erotematische Führung" zu setzen (von Altgriechisch: ἐρώτημα erotema: Gefragtes). Dazu müssen sie zunächst in interaktiver Weise intelligente Fragen an die Betroffenen und Experten stellen, um sich ein möglichst detailliertes Bild von einer komplizierten Lage zu machen.
Danach können die hochrangigen Besucher unter Nutzung der kollektiven Intelligenz aller Beteiligten erste, als Hypothese dienende Lösungsansätze erarbeiten. Diese müssen dann in einem Iterationsverfahren testweise umgesetzt und unter Berücksichtigung der auf dem Boden der Tatsachen gewonnenen Erfahrung schrittweise verbessert werden. Im gesamten Problembewältigungsprozess ist es wichtig, aufmunternde Botschaften sowohl an die Betroffenen als auch an die Helfer auszusenden. Eine solche adaptive, kreative und konstruktive Dialogizität war aber im Verlaufe der Hochwasserkatastrophe in vielen Fällen durch das gewählte Kommunikationsformat (Rede), die Ausgrenzung der betroffenen Bürger und die Kürze der Besuche nicht möglich!
Zum Abschluss meiner Ausführungen schlage ich das folgende Gedankenexperiment vor: Wie hätte Helmut Schmidt - oder, als auflockerndes kognitives Spiel, ein aus dem Osten stammender epochaler Steuerungskünstler (wie zum Beispiel der Gründer des modernen Singapurs, Lǐ Guāngyào (Lee Kuan Yew) , der frühere kommunistische Parteichef Deng Xiaoping oder der russische Präsident Wladimir W. Putin) - als deutscher Bundeskanzler im gesamten Verlaufe der Hochwasserkatastrophe gehandelt und wie wäre er dabei konkret in dem Krisengebiet in Erscheinung getreten? In wessen Händen hätte sich das deutsche Volk wohl sicherer gefühlt? Schmidt oder Schmach – das ist hier die (existentielle) Frage!
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(Fortsetzung Teil IV folgt.)
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Zum Autor: Prof. Dr. Kai-Alexander Schlevogt (Ph.D. Oxford; Univ.-Prof. SPbU a. D.) ist Experte für strategische Führung und Krisenmanagement. Er war u.a. Professor an der Sankt Petersburg State University, National University of Singapore und Peking University. Er arbeitete auch als Unternehmensberater für McKinsey & Co. in Großchina und fungierte als Berater des malaysischen Premierministers hinsichtlich des Aufbaus einer "elektronischen Regierung" (electronic government). Prof. Schlevogt ist Autor von sechs Büchern, darunter "The Art of Chinese Management" (Oxford University Press), "The Innovation Honeymoon" (Pearson Prentice Hall) und "Brave New Saw Wave World" (Pearson/FT Press). Webseite: www.schlevogt.com; E-Mail: schlevogt@schlevogt.com
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