Fünfzig Schattierungen von Angst: Wo die Corona-Maßnahmen wirklich wirken
von Dagmar Henn
Vor wenigen Tagen erst war es die plötzliche Verkürzung der Dauer des Genesenenstatus. Jetzt fallen auch doppelt Geimpfte im Falle einer symptomfreien Quarantäne aus der Erstattung; nur noch gesunde Dreifachgeimpfte erhalten Geld, wenn sie erzwungenermaßen daheim bleiben müssen.
Jede Überquerung einer Grenze von einem Bundesland in ein anderes erfordert vorherige Recherchen, welche Vorschriften an welchem Ort anders sind. OP-Masken oder FFP2 im Supermarkt? Wann und wo werden welche Tests benötigt? Ist die öffentliche Verwaltung noch mit Tests zugänglich oder arbeitet sie nur noch für Geimpfte und Genesene – ach halt, für Letztere nur noch zwei Monate lang...
Sich das logisch zu erschließen ist unmöglich. Schulkinder mit Masken? Für Kinder ist eine Infektion nicht gefährlicher als eine Erkältung. Warum müssen sie in kalten Klassenzimmern sitzen und hinter Masken frieren? Weil die Impfung die Lehrer eben nicht schützt und die Lehrerschaft im Schnitt nun einmal ziemlich alt ist? Und die ganze Testerei und der Ärger, den falsch positive Schnelltests machen...
Das ist alles aber nicht so unlogisch, wie es aussieht, wenn man einmal die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die angestrebte Wirkung nicht medizinisch, sondern psychologisch ist. Dass tatsächlich die Ebene der permanenten Eingriffe in das alltägliche Verhalten, wie Masken- und Testpflicht, und die Irrationalität der stetig veränderten Regeln gewissermaßen miteinander schwingen, wie zwei Klangkörper.
Der Punkt, an dem sie ansetzen, ist sogar derselbe, auch wenn die Wirkweise in unterschiedliche Richtungen geht. Beide bauen auf dem menschlichen Kontrollbedürfnis auf und nutzen die Tatsache, dass Ritualisierungen zu unserem Sicherheitsgefühl beitragen.
Wenn mein Vater morgens aus dem Haus ging, legte er als letzte Handlung in der Wohnung die Krawatte an, und wenn er nachmittags aus dem Büro zurückkehrte, nahm er – oft kaum durch die Tür – die Krawatte wieder ab. Damit waren die Welt seiner Arbeit und die Welt seines Privatlebens klar voneinander getrennt. Das war für ihn vermutlich nicht nur nützlich, um die Arbeit aus der Familie herauszuhalten (was nicht völlig gelang), sondern auch, weil er bei der Arbeit in Pullach sogar einen anderen Namen trug, wie das bei diesem Laden üblich war; weil das An- und Ablegen der Krawatte also die Grenze zwischen zwei Identitäten darstellte.
In meiner Zeit im Münchner Stadtrat war mein Abgrenzungsritual das Schminken. Es war mir wichtig, die Linie zwischen mir und der öffentlichen Rolle wahrnehmbar zu halten. Bei genauer Betrachtung wird jeder feststellen, dass man Übergänge zwischen Rollen auf die eine oder andere Weise markiert – wenn es nicht ohnehin einen klaren Übergang gibt, wie das Anlegen von Arbeitskleidung.
Rituale dienen dazu, bestimmte Zustände zu bestätigen und zu verstärken, und die Wiederholung ist dabei meist ein wichtiger Faktor (die Ausnahme davon sind Übergangsrituale). Einen Ehering über den Finger streifen, den Autoschlüssel immer in die gleiche Jackentasche stecken, einen bestimmten Kuchen zum Geburtstag backen oder den Kindern vor dem Einschlafen ein Märchen vorlesen – Hilfsmittel, die Stimmungen beeinflussen, ein Gefühl von Sicherheit erzeugen, aus der amorphen und unüberschaubaren Menge menschlicher Möglichkeiten eine Identität formen.
Die Dinge, die dem Alltag durch die Maßnahmen hinzugefügt wurden, wie das Tragen von Gesichtsmasken und das Testen, haben natürlich, völlig unabhängig von einer vorhandenen oder nicht vorhandenen epidemiologischen Wirksamkeit, auch die Funktion eines Rituals. Eines Rituals, das allein durch seine ständige Wiederholung die Wahrnehmung verändert. Nicht nur, weil uns durch die Masken soziale Informationen entzogen werden, an deren Gegenwart wir gewöhnt sind und die uns helfen, unsere Umgebung zu entschlüsseln. Auch, weil sie ständig das Signal senden: Vorsicht, gefährliche Krankheit!
Man könnte sich das als Experiment vorstellen. Wenn man zwei Gruppen von Menschen hätte, denen man sagt, im Nachbarraum ist ein Hund, mit dem sie jetzt spielen sollen. Der einen Gruppe gibt man Leckerlis und Spielzeug, der anderen Schutzkleidung und einen Maulkorb. Welche Gruppe wird mehr Angst empfinden? Klar, die zweite.
Das Interessante dabei ist, dass stetig wiederholte Handlungen nicht nur auf die bewusste Wahrnehmung wirken, sondern auch auf die unbewusste. Wenn man sich beständig so verhalten muss, als habe man Furcht, wird ein Quantum an Furcht erzeugt. Das Gegenteil gilt selbstverständlich ebenfalls; auch Mut lässt sich hervorrufen und verstärken, einer der Gründe, warum Armeen hoch ritualisierte Umgebungen sind.
Gäbe es die Maskentragerei und die Tests nicht, Corona wäre in der Wahrnehmung längst nicht anders als die Grippe einfach ein Teil des Alltags geworden, den man vergisst. Mit der beständigen Erinnerung daran wird zusätzliche Angst erzeugt; es sind Rituale zur Angstverstärkung.
Die stetig wechselnden Regeln haben denselben Effekt, aber funktionieren technisch genau entgegengesetzt. Sie entziehen dem alltäglichen Handeln Sicherheit.
Ein kleines alltägliches Beispiel kann man erleben, wenn der Supermarkt, in dem man einkauft, wieder einmal umgeräumt wird. Das wird gemacht, weil es dazu zwingt, mehr Zeit mit dem Einkauf zu verbringen; dabei wird auf Zufallskäufe gesetzt, die die meisten Kunden gerade zu vermeiden suchen, indem sie einem klaren Ablauf folgen – wenn ich weiß, in welcher Reihe in welchem Regal die Dinge stehen, die ich kaufen will, kann ich die anderen, die ich nicht kaufen will, einfach ignorieren. Es ist natürlich im Interesse der Supermarktkette, mir diese Gewohnheit zu erschweren. Weil der Umbau aufwendig ist, geschieht er nicht so oft, aber wenn sie könnten, würden Supermärkte ihre Aufstellung täglich ändern.
Es ist ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl, durch einen frisch umgebauten Supermarkt zu gehen, oder? Man ärgert sich über die Zeit, die dadurch verloren geht, das Gesuchte zu finden. Man macht sich Sorgen, ob man es überhaupt findet. Und man spürt den Verlust von etwas, wo man sich heimisch und sicher fühlt.
Die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat ohnehin dazu geführt, dass ständig neue Informationen verarbeitet werden müssen. Wie funktioniert noch einmal die Einstellung bei meinem neuen Handy? Oh Gott, jetzt muss ich auch noch meinen Strom selbst ablesen... Die Anzahl der Gelegenheiten, bei denen man neue Regeln lernen muss, hat sich vervielfacht, auch durch Auslagerung von Arbeiten an die Kunden, wie beim Online-Banking oder der elektronischen Steuererklärung. Und sehr viele Menschen geraten dabei an ihre Grenzen und erleben es als ständige Überforderung.
Das war schon die Grundsituation vor Corona. Jetzt kamen noch unzählige Erschwernisse obendrauf. Nicht nur auf jeden Behördenakt, sondern auf die Fortbewegung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, das Betreten von Gaststätten, die Möglichkeit, seinen Freizeitinteressen nachzugehen. Also bei jenen Dingen, die bisher zumindest noch ohne zusätzliche Anforderungen möglich waren. Und diese Erschwernisse ändern sich noch dazu ständig. Wenn der eine Satz Regeln gerade gelernt ist, kommt ein neuer; also steht vor jeder Entscheidung, einen bestimmten Ort aufzusuchen oder eine bestimmte Tätigkeit zu verrichten, die Frage: Geht das gerade überhaupt? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Das verwandelt den gesamten Alltag in ein fremdes, unbekanntes und damit bedrohliches Gebiet; denn Sicherheitsgefühl hat, das mag ein Relikt unserer Hordenvergangenheit sein, viel mit Vertrautheit zu tun. Für die Selbstwahrnehmung ist das wie eine Rückversetzung in einen kindlichen Zustand, als unsere Möglichkeiten, unsere Welt zu kontrollieren, noch weit geringer waren. Diese erzwungene Verkindlichung erzeugt Angst; diesmal nicht durch die Hinzufügung, sondern durch die Unterbrechung und Zerstörung von Ritualen.
Damit erweisen sich die Maßnahmen als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Denn diese Beeinflussung ist zu subtil, als dass alle den Zusammenhang zwischen Auslöser und Wirkung noch durchschauen könnten (das angenommene Experiment mit dem Hund ist wesentlich offensichtlicher). Ein Gefühl, dessen Ursprung nicht lokalisierbar ist, lässt sich umlenken, indem ihm ein Objekt geboten wird. Und schon macht auch die Corona-Dauerpredigt in den Nachrichten einen Sinn; sie wirkt – bezogen auf die ungeordneten, bestenfalls halbbewussten Gefühle von Angst – sogar erst einmal entlastend, weil sie eine scheinbar rationale Erklärung liefert.
Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die völlige Aufhebung der Maßnahmen in Großbritannien auswirken wird. Ich würde darauf wetten, binnen weniger Wochen normalisiert sich die emotionale Reaktion auf Corona und nähert sich dem an, was bei den bekannten Werten der Sterblichkeit angemessen wäre.
In Deutschland aber läuft weiter, was man nur als gigantisches Experiment zur unbewussten Beeinflussung werten kann. Wobei die Maßnahmen zusammengenommen eine solche Wucht entfalten, dass die Dinge, die wirklich Angst auslösen sollten, völlig überstrahlt werden: die Kriegsgefahr, der mögliche Blackout und die Vergrößerung des Abstands zwischen Arm und Reich. Da all diese Punkte zwar noch im Bereich des Möglichen (wenn nicht, wie der Blackout, sogar im Bereich des Wahrscheinlichen) liegen, aber den Alltag noch nicht spürbar beeinflussen, ist die heraufbeschworene Panik vor Corona stärker.
Art und Ausmaß der psychischen Manipulation überschreiten alles, was bisher in der deutschen Geschichte zu finden ist. Und für eine wirklich demokratische Debatte zum Thema Corona müssten erst einmal all diese Eingriffe beendet werden, damit mit klarem Verstand diskutiert werden kann. Und damit andere Gefahren wieder angemessen wahrgenommen werden und ihren angemessenen Platz erhalten. Wie die eines großen Krieges, an der auch unsere Bundesregierung eifrig mitstrickt. Denn verglichen mit dessen Gefahren ist Corona wirklich Pillepalle.
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