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"Die Brester Festung": Wie der Westen Weißrussland im Jahr 2021 weiter in Russlands Arme trieb

Lukaschenkos mehrvektorale Außenpolitik scheint endgültig passé: Minsk hat sich vollständig vom Westen zugunsten Moskaus und Pekings abgewandt. Grund dafür ist Europas Politik der Peitsche ohne Zuckerbrot im Jahr 2021, die in Weißrussland den Geist der Brester Festung stärkte.
"Die Brester Festung": Wie der Westen Weißrussland im Jahr 2021 weiter in Russlands Arme triebQuelle: AP © Thomas Peter/Pool

Ein Kommentar von Sergei Aksjonow

"Partisanenlieder, Kiefern und Nebel". Ja, es geht um Weißrussland. Es scheint als sei es die historische Mission dieses schönen Landes, ein Vorposten der tausendjährigen russischen Zivilisation zu sein, den Ansturm des Westens abzuwehren und immer den ersten Schlag zu ertragen. Eine Mission mit harten, manchmal bitteren Folgen, aber... In Brüssel und Washington, ebenso wie früher in Berlin und Paris, werden immer nur die eigenen Interessen berücksichtigt. Es hieß stets durchhalten und gewinnen. So wird es auch in Zukunft sein. Denn auch im (nur scheinbar) "vegetarischen" 21. Jahrhundert haben sich die Verhaltensmuster der europäischen (und allgemein der westlichen) Politik gegenüber den "Barbaren im Osten" in keiner Weise geändert. Minsk, Moskau – für sie alles dasselbe. Und wer daran zweifelte, konnte sich im Jahr 2021 bestens davon überzeugen.

Politik der Peitsche bei ersatzlos gestrichenem Zuckerbrot

Bislang hieß das Hauptdruckmittel gegen Weißrussland Sanktionen. In erster Linie sind sie wirtschaftlich und zielen darauf ab, das Land auszubluten, ihm lebenswichtige Ressourcen zu entziehen und es dadurch politisch zu schwächen – um es auf eine Machtübernahme durch die prowestlichen "Tichanowskajas" vorzubereiten. Auf diesem Felde zeichnete sich sowohl der "ferne" Westen (USA, Kanada und Großbritannien) aus als auch die Europäische Union, die da ausgewachsene fünf (fünf!) Sanktionspakete gegen Minsk vorbereitete und einführte, welche das Land buchstäblich an den Rand des wirtschaftlichen Überlebens brachten. Auch Russland wurde in Mitleidenschaft gezogen, doch dank seiner Stärke konnte es selbst durchstehen und ließ auch seine weißrussischen Brüder nicht im Stich.

Die Sanktionen indes sind noch das geringste Übel, das durch das Scheitern des Westens, der auf die liberale Opposition setzte, provoziert wurde. Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko brachte es auf den Punkt:

"Wir hätten einen großen Fehler begangen, wenn wir letztes Jahr eine Niederlage erlitten hätten. Das Land hätte einfach nicht existiert. Kämen sie für auch nur einen Tag an die Macht, hätte der NATO-Block in der Nähe von Smolensk gestanden."

Und was hat er? Na, Recht. Man muss kein Stratege sein, um die geopolitischen Ziele der Europäer zu verstehen. Nachdem sie sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR das Baltikum unter den Nagel rissen und später in der Ukraine putschten, wollen sie nun den Ring schließen, um den berüchtigten "Cordon sanitaire" von einst erneut entlang der russischen (und nun auch der chinesischen. Anm. d. Rot.) Grenzen zu bilden. Weißrussland ist für sie ein gefundenes Fressen – doch gleichzeitig, und in seinem jetzigen Zustand vor allem, der sprichwörtliche Fischgrat im Hals.

Hier aber spielte Brüssel schwächer als Minsk. Der Wunsch, Weißrussland so schnell wie möglich in ein weiteres Gebilde nach Art der russophoben Ukraine und der baltischen Staaten zu verwandeln, um es dann gegen Moskau auszuspielen, spielte den europäischen Bürokraten einen üblen Streich. Die Politik der Peitsche bei ersatzlos gestrichenem Zuckerbrot führte dazu, dass Minsk in diesem Sommer in Brüssel die grundlegende Entscheidung traf, das Brüsseler Projekt der Östlichen Partnerschaft zu verlassen. Diese Wahl könnte grundlegender gar nicht sein. Schließlich bestand der Zweck des Projekts darin, sechs postsowjetische Teilnehmerstaaten, darunter auch Weißrussland, vor ein künstliches Dilemma zu stellen: Sich entweder gemeinsam mit Russland zu entwickeln – oder aber mit Europa. Mit Russland natürlich, wurde in Minsk entschieden. Missverständnis ausgeräumt.

Die Festung Brest: Diesmal hält sie

Der Fisch ist vom Haken. Nach den Äußerungen und dem anschließenden Handeln europäischer Politiker zu urteilen, wurde die Entscheidung von Minsk in Brüssel auch genau so wahrgenommen. Und man begann, die offensive militärische Infrastruktur der NATO in der Nähe der weißrussischen Grenze zu konzentrieren. Die US-amerikanischen Abrams-Panzer wurden 20 Kilometer von Brest disloziert. Während der im Sommer entbrannten Migrationskrise zog Polen dort seine Leopard-2-Panzer zusammen. Festung Brest und deutsche Panzer... Die Assoziationen, die dazu entstehen, sind durch und durch ungute. Der Ärger über die Niederlage – die von Minsk vollzogene Abkehr vom Westen zugunsten Moskaus (und Pekings) – hätte den Westen zu völlig unbedachten Schritten verleiten können. Dass dabei auch Russlands Sicherheit auf dem Spiel stand, bedarf kaum eigener Erwähnung.

Unter diesen Umständen sollte die gemeinsame Übung Sapad-2021 den Eifer des Gegners abkühlen. Die Soldaten der Länder des russisch-weißrussischen Unionsstaates übten Kampfkoordination mit Unterstützung von hunderten Kampffahrzeugen.

Das Ach und Weh der NATO über eine dadurch angeblich entstehende Bedrohung wirkte etwas dümmlich: Haben doch diese Übungen auf dem westlichen potenziellen Kriegsschauplatz (wie auch entsprechende Übungen im Osten) planmäßigen Charakter, finden alle zwei Jahre statt und dienen ausschließlich der Verteidigung. Wenn man jedoch sieht, dass Einheiten des potenziellen Feindes direkt an die eigene Grenze frisch verlegt wurden, dann ist es sinnvoll, den Übungsplan entsprechend anzupassen. Wenn sie es wagen sollten, in die Offensive zu gehen – ja, dann folgt eine gehörige Gebissanpassung auf den Tritt.

In der militärischen Zusammenarbeit zwischen Weißrussland und Russland haben sich grundlegende Veränderungen ergeben. Die wichtigste davon war die Verabschiedung der Militärdoktrin des Unionsstaates – der Grundlage, auf welcher beide Länder künftige Herausforderungen des Westens zurechtstutzen werden. Außerdem wurde im blauäugigen Weißrussland (poetische Bezeichnung des Landes wegen seiner etwa 10.000 Seen. Anm. d. Red.) ein gemeinsames Kampfausbildungszentrum für Luftstreitkräfte und Luftverteidigung mit der Russischen Föderation in Betrieb genommen, und das Abkommen über den Unterhalt zweier Militäreinrichtungen in Wileika und Baranowitschi wurde verlängert. Mehr noch: Minsk schloss die Stationierung russischer Nuklearwaffen auf weißrussischem Territorium nicht aus. Lukaschenko scheint einen klaren Plan für den Fall zu haben, dass der Westen sein Verhalten nicht ändert.

Erfahrung lehrt: Man kann nicht zu wachsam sein

Einige werden jetzt sagen, dass diese Wachsamkeit übertrieben sei. Doch haben wir seitens unserer europäischen Nachbarn im Laufe unserer gemeinsamen Geschichte nicht auch den größten Zynismus erlebt? Griffen sie unser großes Land nicht an, sofort und jedes Mal wenn es geschwächt war? Betrogen sie nicht Gorbatschow mit ihrer zum Schein gegebenen Zusage, die NATO nicht nach Osten zu erweitern? Doch, das alles gab es. Maßen sie nicht zu allen Zeiten mit zweierlei Maß? Der jüngste Fall ist die Migrationskrise an der Grenze zu Polen. Wo Lukaschenko anordnete, die armen Menschen zu füttern und zu wärmen, erschossen die polnischen Grenzsoldaten sie einfach in aller Stille – wie der Überläufer aus Polen gestand, der kein Mörder sein wollte und um politisches Asyl in der Republik Weißrussland bat.

Und man kann noch von Glück reden, dass die Flüchtlinge nicht in die Ukraine ausgewichen sind: Die dortigen Nationalisten hätten sich mit Sicherheit an den Südländern abreagiert. Der Grad des Irrsinns in den dortigen Regierungsbehörden, ihr Zusammenhalt mit dem Westen gegen Russland und Weißrussland haben im letzten Jahr so stark zugenommen, dass Minsk gar keine andere Wahl hatte, als ohne Umschweife seine Position zur Ukraine zu formulieren: Wenn die Ukraine erneut einen Krieg im Donbass anzettelt, wird sich Minsk naturgemäß auf die Seite Moskaus stellen. Am offensichtlichsten ist die Haltung Weißrusslands zur Krim. Lukaschenkos Worte, dass die Halbinsel nach dem Referendum de jure russisch geworden sei, gehören in Bronze gegossen.

Vom Westen in Russlands Arme getrieben

Es war Ungemach dieser politisch-militärischen Art, der Weißrussland im vergangenen Jahr zur Annäherung an Russland zwang. Doch dies ist für Minsk zweifellos von Vorteil. Die wirtschaftliche Grundlage für die Integration bilden die 28 Fahrpläne, die im November unterzeichnet wurden – ein wahrhaft triumphales Ereignis in den bilateralen Beziehungen.

Es werden gemeinsame Märkte für Erdöl, Erdgas und Strom geschaffen, Industriepolitik und Steuerrecht werden vereinheitlicht, die Zahlungssysteme integriert, ein gemeinsamer Zugang zum öffentlichen Auftragswesen und zu staatlichen Aufträgen eröffnet und schließlich ein System zur Kontrolle des Waren- und Transportverkehrs geschaffen. Die beiden Volkswirtschaften werden somit faktisch zu einer verschmelzen. Nichts Geringeres als ein Durchbruch waren diese Ereignisse folglich aus der Sicht des weißrussischen Präsidenten.

Es gibt aber auch andere Formate der Annäherung. Das VIII. Forum der Regionen Weißrusslands und Russlands wurde zu einer Art Aufwärmrunde vor der grundlegenden Entscheidung zur verstärkten Integration. Alle sechs weißrussischen Regionen und nicht weniger als 70 russische Regionen tauschten sich im Rahmen der Veranstaltung unmittelbar aus. In der Folge wurden Verträge im Wert von umgerechnet knapp 710 Millionen Euro unterzeichnet. Integrationsvorgänge fanden auch im Format der Eurasischen Wirtschaftsunion statt.

Auf der Sitzung des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates, auf der die Ergebnisse des Jahres resümiert wurden, forderte Lukaschenko seine Kollegen auf, in der Konfrontation mit dem Westen die Einheit zu wahren – da er überzeugt ist, dass die EAWU dort keine wahren Freunde hat.

Alles richtig so. In den letzten anderthalb Jahren – seit den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland im August 2020 – wurde dies überdeutlich. All die Reigen, die westliche Politiker um die Führer der weißrussischen Opposition veranstalten (man denke nur an die Rundreise von Tichanowskaja durch die USA, wo sie mit Victoria Nuland munter Plätzchen vertilgte), um die Lage dieser Opposition als Vorwand für Sanktionen zu missbrauchen (Nawalny war seinerseits der Vorwand für die antirussischen Sanktionen), lässt keinen Raum mehr für Illusionen. Die ernstzunehmenden Gerichtsurteile gegen die Oppositionsführer zeigen: Mehr denn je steht jetzt auf dem Spiel. Besonders gut ist da das neue Gesetz über die rechtliche Verantwortung für die Forderung nach Sanktionen gegen Weißrussland. Vielleicht braucht ja auch Russland ein ähnliches?

Jetzt, da die Behörden die Straßen von Minsk von Krawallbrüdern gesäubert haben (wobei es möglich ist, dass der Wahlsieger Lukaschenko einige von ihnen begnadigen wird), ist es an der Zeit, die gefährliche Lage politisch zu entschärfen. Im Februar ("wenn kein Krieg ausbricht", präzisierte der weißrussische Präsident) soll ein Referendum über eine neue Verfassung Weißrusslands abgehalten werden, die eine Neuverteilung der Machtbefugnisse vorsieht. Die Opposition hat indes einen eigenen Entwurf ausgearbeitet, über den aber wahrscheinlich nicht abgestimmt werden wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Lukaschenko in dieser Angelegenheit seinen russischen Amtskollegen konsultieren wird – immerhin war Putin der erste der beiden, der eine Verfassungsreform durchführte. Mit dem russischen Präsidenten soll noch vor dem Jahreswechsel ein weiteres Treffen stattfinden.

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Übersetzt aus dem Russischen

Sergei Aksjonow ist Journalist, Politologe und Schriftsteller. Er blickt auf eine turbulente Laufbahn als Politiker und politischer Aktivist (Nationalbolschewisten, "Anderes Russland") sowie Menschenrechtsaktivist in Russland zurück.

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