Meinung

Auf Weißrussland zielen, das eigene Knie treffen: Über Sinn und Unsinn von Sanktionen

Die EU will neue Sanktionen gegen Weißrussland verhängen. Weil es ihr nicht gelungen ist, Lukaschenko zu stürzen. Aber diesmal könnten die Sanktionen ganz unerwartete Nebenwirkungen haben: Die EU-Kommission schadet damit vor allem den Unionsbürgern.
Auf Weißrussland zielen, das eigene Knie treffen: Über Sinn und Unsinn von SanktionenQuelle: Sputnik © Ilya Pitalev

von Dagmar Henn

Wenn es um Sanktionen geht, muss man eines immer wiederholen: Sanktionen sind ein Mittel der Kriegsführung, und sind nur dann völkerrechtlich legal, wenn sie vom UN-Sicherheitsrat verhängt wurden. Alle anderen Sanktionen, US-amerikanische wie die der EU, sind samt und sonders Verstöße gegen das Völkerrecht. Daran ändert eine noch so dekorative Menschenrechtsrhetorik gar nichts.

In den vergangenen sieben Jahren sind die westlichen Staaten in einen wahren Sanktionsrausch verfallen und gebrauchen dieses aggressive, illegale Mittel mittlerweile als Hauptinstrument der Außenpolitik. Wie dieses Mittel wirkt, lässt sich daran erkennen, dass mehr als die Hälfte der Länder, in denen nach Angaben des Welternährungsfonds Hunger herrscht, westlichen Sanktionen unterliegen.

Im Juli dieses Jahres, passend zur geplanten Farbrevolution in Minsk, verabschiedete das EU-Parlament eine Ermächtigung zur Verhängung von Sanktionen "im Bereich der Menschenrechte". Ein Gesetz, das sich explizit auf den Magnitsky Act der USA bezieht, der wiederum bekanntermaßen auf einer Lüge des Finanzbetrügers Bill Browder beruhte. Nun, wer die letzten Jahre hindurch beobachtet hat, wer warum sanktioniert wird, weiß ohnehin, dass bei den Begründungen gelogen wird, was das Zeug hält. Wie beispielsweise bei der Sanktionierung Russlands, weil es die Minsker Vereinbarungen nicht umsetze.

In diesem EU-Recht wird unter anderem auch Korruption als Menschenrechtsverstoß definiert und somit die Kommission ermächtigt, gegen andere Sanktionen wegen Korruption zu verhängen. Die EU-Kommission. Die im Wettbewerb der weltweit korruptesten Strukturen mit Sicherheit Anrecht auf eine Pole-Position hat. Man soll nicht sagen, die EU-Parlamentarier hätten keinen Humor.

In Wirklichkeit sind Sanktionen eine Technik, um wirtschaftliche Überlegenheit in politische Kontrolle umzusetzen. Aber genau da liegt auch ihr Schwachpunkt: Sie funktionieren als Machtinstrument genau dann, wenn und nur solange wie diese wirtschaftliche Überlegenheit tatsächlich gegeben ist. Was auch erklärt, warum der Westen sie zuletzt mit solchem Eifer verteilt. Man muss das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist.

Nun, es sind wieder einmal neue Sanktionen gegen Weißrussland geplant. Eigentlich sollte die EU-Kommission bereits Anfang dieser Woche darüber entscheiden; jetzt wird wohl kommenden Montag nachgelegt. Die Begründungen sind so albern, wie man es bei Sanktionen gewöhnt ist. Aber diesmal dürfte sich die EU ins eigene Knie schießen.

Die Verzögerung beruhte wohl darauf, dass man ursprünglich die Sanktionen mit der Flüchtlingskrise an der polnischen Grenze begründen wollte, worauf insbesondere Polen und die baltischen Zwergstaaten drängten. Was aber die künftige deutsche Regierung mit ihrer Befürwortung offener Grenzen in gewisse Rechtfertigungsprobleme brächte. Außerdem hat zumindest eines der Sanktionsziele, die Fluglinie Belavia, die Beförderung von Reisenden aus Syrien, Irak und Jemen längst eingestellt.

Nach einem Bericht der New York Times liegt die Untersuchung von Semantic Visions – die belegt, dass vor allem soziale Medien wie Facebook die Fluchtroute durch Weißrussland nicht nur bekannt gemacht haben, sondern auch organisieren halfen – den Zuständigen in der EU vor. Der Artikel zitiert sogar den niederländischen Vorsitzenden des für Migrationsfragen zuständigen Ausschusses des EU-Parlaments, der sich auf diese Informationen bezieht. Jeglicher Vorwurf gegen die weißrussische Regierung, sie habe die Migrationsbewegung ausgelöst, erfolgt also wider besseres Wissen.

Vorsichtshalber wird jetzt der Vorwurf gegen Belavia, sie habe "zu Aktivitäten des Lukaschenko-Regimes beigetragen, das illegale Überqueren der EU-Außengrenzen zu ermöglichen", durch den weiteren Vorwurf ergänzt, die kleine staatliche Fluggesellschaft mit ganzen 28 Flugzeugen (zum Vergleich: die Lufthansa besitzt 757) habe ihre Beschäftigten aufgefordert, "nicht gegen Wahlfälschungen und Massenverhaftungen in dem Land zu protestieren", schreibt der Spiegel, dem sicherlich mühelos zehn Länder einfallen, in denen staatliche Unternehmen ihre staatlich Beschäftigten zu Protesten gegen die Staatsführung aufgefordert haben. Wie auch immer – Belavia "profitiert vom Lukaschenko-Regime und unterstützt es".

Mit dem Argument, das "Lukaschenko-Regime" zu unterstützen, kann man selbstverständlich jeden und alles sanktionieren, was nicht bei westlichen NGOs um Geld ansteht. Und wenn man einmal auf den "Regime"-Modus geschaltet hat, kann man auch jedes staatliche Unternehmen sanktionieren, da es notwendigerweise Teil des "Regimes" ist. Das hat den zusätzlichen Vorteil, diesen Unternehmen, die dem neoliberalen Kultzentrum Brüssel schon prinzipiell ein Dorn im Auge sind, besonderen Schaden zuzufügen. Es hat aber notwendigerweise die Nebenwirkung, schon allein durch die Beeinträchtigung des kollektiven Vermögens immer die gesamte Bevölkerung zu treffen.

Schon länger wurde in willigen Medien spekuliert, an welcher Stelle man Weißrussland ökonomisch am empfindlichsten treffen könne. So erklärte eine Mitarbeiterin des IfW Kiel bereits im Mai in einem Interview: "Die größten Exportartikel sind vor allem Öl- und Erdölprodukte sowie für die Landwirtschaft wichtige Düngemittel oder Vorprodukte für deren Herstellung. Es ist dabei wichtig zu wissen, dass Russland der größte Abnehmer aller Exporte ist und die EU-27 der zweitwichtigste Handelspartner. In der EU ist Deutschland der größte Abnehmer. Es wäre schmerzhaft für Weißrussland, wenn im Ölsektor ein Importstopp verhängt würde. Gleiches gilt für den Düngemittelstoff Kali."

Laut Spiegel hat sich die EU-Kommission diese Vorschläge zu eigen gemacht und beabsichtigt, Sanktionen gegen den Düngemittelhersteller Grodno Azot sowie gegen die Petrochemiefirma Belorusneft zu verhängen. Was dazu führen dürfte, dass kein Dünger und kein Düngemittelrohstoff aus Weißrussland mehr in die EU, insbesondere nach Deutschland, eingeführt werden dürfte.

Sie hätten allerdings das oben zitierte Interview einen Satz weiter lesen müssen. "Aber das ist auch sensibel für die EU, weil man immer abwägen muss, wie sehr man sich ins eigene Fleisch schneidet", steht da bereits seit Mai. Seitdem ist einiges passiert auf dem Markt für Düngemittel.

Zitieren wir mal aus einem Bericht der Tagesschau (auch dort gibt es nicht nur Fake News): "Auch die Preise für Phosphatdünger haben sich nach Angaben des Bauernverbandes in den vergangenen zehn Monaten verdoppelt. Doch Dünger ist nicht nur teuer geworden, sondern teilweise gar nicht mehr verfügbar." Einer der Gründe für die Verteuerung ist die CO₂-Steuer, da die Herstellung einiger Düngemittelkomponenten sehr energieintensiv ist.

Der andere Grund ist die Freigabe des Erdgashandels durch die EU, die in den letzten Monaten zu einer enormen Spekulation geführt hat: "Die Hauptursache für die hohen Düngerpreise ist der außergewöhnliche Preisanstieg von Erdgas, das als Rohstoff für die Düngemittelherstellung benötigt wird. Innerhalb von wenigen Monaten habe sich der Erdgaspreis verfünffacht, sagt Christopher Profitlich, Pressesprecher des Düngemittelherstellers SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Sachsen-Anhalt."

Nur damit deutlich wird, welche Konsequenzen das hat: der Preis von Düngemitteln und Kraftstoffen hat eine unmittelbare Auswirkung auf die Lebensmittelpreise, die ohnehin in den letzten Monaten beträchtlich gestiegen sind. Und mehr noch, in manchen Bereichen kann ein weiteres Ansteigen der Düngerpreise sogar die Produktion selbst gefährden.

Viele Ackerbauern fragen sich, wie es 2022 weitergehen wird. Viele Feldfrüchte müssen im Laufe der Vegetation dreimal gedüngt werden.

"Wenn wir wüssten, dass es zur zweiten oder dritten Düngung keinen Dünger mehr gibt, dann bräuchten wir die erste Düngergabe auch nicht streuen", sagt Landwirt Max Ampferl. "Dann bräuchten wir gar nicht erst ansäen und müssten sagen: In diesem Jahr können wir kein Getreide erzeugen."

Ehe man sich in die Fantasie flüchtet, eine Produktion andernorts in der EU würde diese Ausfälle ersetzen – die Düngemittelpreise steigen europaweit; in Spanien haben gerade Bauern deshalb protestiert. Nicht zu vergessen: die geopolitischen Spielchen, die gerade die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 verzögern oder gar gefährden, dürften das Problem noch weiter verschlimmern. Da Erdgas ein Rohstoff zur Erzeugung von Kunstdünger ist, könnte die hiesige Düngemittelerzeugung komplett einbrechen.

Das ist natürlich der perfekte Moment, um Düngemittelimporte aus Weißrussland zu unterbinden. Wegen der Menschenrechte oder wegen Lukaschenko oder weil die Sonne im Osten aufgeht. Vorausgesetzt, man schießt sich gern ins eigene Knie.

Wobei ich zugebe, dass das leider nicht ganz das Knie der Herrschaften in Brüssel ist, sondern nur das der europäischen, insbesondere der deutschen Bevölkerung – oder eher deren Brotkasten und Suppentopf. Die Bevölkerung aber bietet selten einträgliche Geschäfte, im Gegensatz zu Konzernen wie Pfizer. Weshalb man sie beim Nachdenken über neue Sanktionen auch entspannt ignorieren kann.

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