Die Ukraine, der Westen und Russland – oder: Deeskalation, jetzt!
von Leo Ensel
In den vergangenen Tagen waren in den Medien unter anderem folgende alarmierende Überschriften zu lesen: "Putin fordert von der NATO ein Ende der Osterweiterung"; "Polen: Standort von NATO-Nuklearwaffen? – Minsk würde dann russische Atomwaffen stationieren"; "Lawrow: Albtraumszenario der militärischen Konfrontation kehrt zurück nach Europa", völlig zu Recht führte der russische Außenminister hier aus: "Das albtraumhafte Szenario einer militärischen Konfrontation, das unser Kontinent nach dem berühmten NATO-Doppelbeschluss erlebte, kehrt zurück." Die Lage sei kurz davor, dass US-Mittelstreckenraketen auf europäischem Territorium wieder auftauchten. Und schließlich: "Putin: Mach-9-Hyperschallwaffe getestet – Fünf Minuten Anflugdauer zu feindlichen Entscheidungsträgern", die Indienststellung von Waffen dieses Typs werde Russlands Antwort auf eine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen der USA in Europa sein.
Man sieht, die nicht erst seit gestern existierenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland wären auch ohne die aktuellen Truppenansammlungen in der Ukraine und Russland, über die es kaum gesicherte Informationen gibt, bereits dramatisch genug. 'Benzinfässer' sind auf beiden Seiten eh längst bis zum Himmel aufgetürmt. In dieser ohnehin zugespitzten Situation kann jeder Funke als fataler Brandbeschleuniger fungieren und im Worst Case in Russland und im Westen alles in die Luft jagen.
So weit ist es bereits wieder gekommen!
Aber treten wir für einen Moment mal einen Schritt zurück. Was geschieht gerade zu beiden Seiten der ukrainisch-russischen Grenze? Was genau wissen wir? Und wie wird darüber berichtet?
Die Fakten und der Diskurs
Westlichen und ukrainischen Angaben zufolge soll Russland seit ungefähr drei Wochen "Truppen an der ukrainischen Grenze", genannt wurde die russische Stadt Jelnja, zusammenziehen. Die Anzahl der stationierten Soldaten beträgt angeblich mittlerweile um die 92.000. Das russische Außenministerium wiederum teilte am Mittwoch mit, Kiew habe im Donbass, ein genauer Ort wurde nicht mitgeteilt, bis zu 125.000 Mann zusammengezogen.
Dies sei, so die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa, etwa die Hälfte der ukrainischen Streitkräfte. – Das sind im Wesentlichen bereits alle Informationen, die den Medienkonsumenten – wie auch dem Autor dieses Textes – zur Verfügung stehen.
Westliche Medien und führende Politiker der NATO-Staaten vom amtierenden Außenminister Maas bis hin zu Generalsekretär Stoltenberg und US-Außenminister Blinken nehmen die russische Truppenkonzentration bei Jelnja nun seit Wochen zum Anlass, in den schrillsten Tönen vor einem möglicherweise bevorstehenden Überfall Russlands auf die Ukraine zu warnen. Allerdings fördert bereits ein einfacher Blick auf die wenigen gelieferten Informationen eine Reihe von Ungereimtheiten zutage.
Gibt man bei Google Earth die russische Stadt Jelnja ein, wo sich die russischen Truppenverbände aufhalten sollen, so stellt man fest, dass sie östlich von Smolensk liegt, ungefähr 400 Kilometer – die Tagesschau schreibt fälschlicherweise 250 – zur nächstgelegenen ukrainischen Grenze und um die tausend Kilometer von den Rebellenrepubliken im Donbass entfernt. Die Grenze zu Belarus dagegen ist mit 200 Kilometern nur halb so weit entfernt, sodass man sich unwillkürlich fragt, warum nicht – wenn schon – von einem russischen Truppenaufmarsch an der weißrussischen Grenze die Rede ist!
Sollten die russischen Angaben der 125.000 zusammengezogenen ukrainischen Soldaten im Donbass stimmen, so wäre das Bild noch merkwürdiger: Diese würden dann offensichtlich selbst gar nicht mit einem russischen Angriff rechnen, denn sonst müssten sie nicht im östlichen Donbass, an der Grenze zu den Rebellenrepubliken Lugansk und Donezk, sondern – schauen Sie bitte auf der Karte nach! – an der nördlichen ukrainisch-russischen Grenze stationiert sein! Offenbar scheint also auch das ukrainische Verteidigungsministerium, allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz, davon auszugehen, dass es sich bei den Ereignissen in der Gegend um Jelnja um ein russisches Manöver handeln muss. (Was, nebenbei bemerkt, Russlands gutes Recht ist.)
Was also sollen die permanent tosenden Alarmglocken, was soll das mediale Dauerfeuer von einem möglichen Krieg Russlands gegen die Ukraine? Einem Krieg, der, wie man im Kreml sicher sehr genau weiß, auch Russland nur massiv schaden würde und dessen internationale Folgen nicht abzusehen wären! Könnte es sein, dass es im westlichen Diskurs gar nicht in erster Linie um die Fakten, sondern um das "Wording" geht?
Die Bedeutung der Deutung
Politisches Handeln ist immer auch Benennungshandeln, Interpretations- und Deutungsarbeit. Dass sich genau hier auch ein weiter Raum für Manipulation und Propaganda eröffnet, liegt auf der Hand. Die Deutung, die sich durchsetzt – durchgesetzt wird –, bestimmt die künftigen Konsequenzen auf der Handlungsebene. Pointiert zusammengefasst: Wichtiger noch als die Fakten selbst ist ihre Benennung. Perception creates reality. Blumiger: Nicht die Geburt entscheidet, sondern die Taufe!
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Im Sommer 2008 versuchte der damalige georgische Präsident Saakaschwili im Schatten der Olympischen Spiele in Peking, die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien mit Gewalt zurückzuerobern. Russland schlug militärisch hart zurück – der erste Militäreinsatz des neuen Russland außerhalb des eigenen Territoriums – und die georgischen Truppen mussten nach fünf Tagen eine vernichtende Niederlage einstecken. Dass tatsächlich Saakaschwili der Angreifer war – und nicht etwa Russland, wie damals postwendend nahezu der gesamte westliche Mainstream posaunte –, wurde ein Jahr später im Bericht der von der EU unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini eingesetzten "Unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien" bestätigt.
Aber da war es bereits längst zu spät, weil es dem mit allen amerikanischen PR-Wassern gewaschenen Saakaschwili inzwischen gelungen war, sich äußerst geschickt als verfolgte Unschuld zu inszenieren – was man ihm im Westen liebend gern abkaufte. Kurz: Russland hatte den Fünf-Tage-Krieg im Kaukasus zwar militärisch gewonnen, publizistisch aber haushoch verloren! (Dass das Land seitdem verstärkt auch in Softpower investiert, dürfte daher niemanden verwundern.)
Da sich die Interpretation, das kleine Georgien sei aus heiterem Himmel Opfer eines heimtückischen Angriffs durch den unberechenbaren großen nördlichen Nachbarn geworden, (fehlt nur noch der sprichwörtliche "Bär"!) auf breiter Front durchgesetzt hatte – sie hält sich bis heute in den deutschen Leitmedien –, konnte der Aggressor Saakaschwili sich obendrein auch noch verstärkter militärischer, wirtschaftlicher und publizistischer Unterstützung seitens des Westens, inklusive der (vagen) Aussicht einer NATO-Mitgliedschaft seines Landes, erfreuen. Man sieht, wie entscheidend für die künftigen Konsequenzen die jeweilige Deutung, die 'Taufe', inklusive eines passgenau zurechtgezimmerten Narrativs samt "Wordings" sein kann! (Analoges gilt für die "völkerrechtswidrige Annexion der Krim".)
Weiße Flecken in der westlichen Ukraine-Berichterstattung
Womit wir wieder bei der aktuellen Ukrainekrise wären.
Setzt sich die Deutung durch, dass Russland 'wieder mal' die Ukraine attackieren will, dieses Mal sogar ein russischer Großangriff bevorsteht, so sind aus westlicher Perspektive fast sämtliche Maßnahmen der militärischen Unterstützung – außer einer direkten Intervention – nicht nur erlaubt, sondern im Dienste der 'Friedenssicherung' dringend geboten! Handelt es sich dagegen nur um ein Manöver auf eigenem Territorium, wie im Frühjahr dieses Jahres – Russland beendete es nach einigen Wochen übrigens ohne die Ukraine zu überfallen –, so könnte man mit der Situation erheblich gelassener umgehen.
Die schrillen Alarmglocken im Westen und der Ukraine legen die Vermutung nahe, dass die Deutung im Sinne des Überfalles dort gar nicht so ungelegen kommen mag. Ob man an dieses Szenario tatsächlich glaubt, ist allerdings fraglich. Beide Akteure scheinen den russischen Truppenaufmarsch für die eigenen Interessen optimal nutzen zu wollen. Die Ukraine tut alles, um westliche Militärhilfe zu ergattern – womit sie bereits jetzt höchst erfolgreich ist – und den Westen möglichst tief in die Auseinandersetzung mit den Rebellen im Donbass und Russland hineinzuziehen, um so dem Fernziel einer NATO-Mitgliedschaft näher zu kommen. Russische Sicherheitsinteressen zählen dabei nicht.
Der NATO und den USA ist das laute Säbelrasseln willkommener Rückenwind, um die angebliche Notwendigkeit des Zwei-Prozent-Ziels und die Erhöhung westlicher Militärpräsenz einschließlich modernster Waffensysteme an der russischen Grenze der Öffentlichkeit zu verkaufen. Es ist zudem nicht völlig ausgeschlossen, dass Präsident Biden auch verbal eskaliert, um sich nach einer – absehbaren – Einigung mit Putin in den kommenden Tagen als Hardliner und Friedensretter inszenieren zu können.
Das Säbelrasseln von Politikern und Militärs wird flankiert von einem westlichen Mediensturm, der in Bezug auf die Ukraine einige bemerkenswerte weiße Flecken aufweist. Dass Kiew beispielsweise, mit offensichtlicher Duldung des Westens, seit über sechseinhalb Jahren seinen zentralen Verpflichtungen aus dem Minsk-II-Abkommen – Verabschiedung einer Verfassungsreform bis Ende 2015 (!) im Sinne einer Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Gebiete Donezk und Lugansk ("Südtirol-Lösung") – nicht nachkommt, wird so gut wie nie, bestenfalls am Rande, thematisiert. Wenig bekannt ist im Westen auch, dass die Ukraine nicht nur "im Karabachkrieg bestens bewährte" türkische Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2 einkauft und kürzlich gegen die Rebellenstellungen bei Donezk abfeuerte, sondern bereits mit der Türkei über eine Lizenzproduktion verhandelt.
Völlig unbekannt hierzulande ist jedoch die Tatsache, dass die USA bereits seit Mitte der Neunzigerjahre unter dem Etikett "Rapid Trident" (früher: "Peace Shield") jährlich auf dem Gebiet der Westukraine Manöver mit ukrainischen Truppen durchführen, zuletzt vom 20. September bis 1. Oktober dieses Jahres zusammen mit Soldaten aus Ländern wie Bulgarien, Kanada, Georgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Jordanien, Moldawien, Pakistan und Polen. Dasselbe gilt für die Marinemanöver "Sea Breeze" der USA seit 1997 vor der Küste der Ukraine im Schwarzen Meer. Im Sommer dieses Jahres waren Einheiten aus nicht weniger als 32 Staaten beteiligt.
Man stelle sich vor, was im Westen los wäre, wenn Russland jährlich zusammen mit Soldaten aus Belarus, Serbien, China, Kuba, Venezuela, Iran und anderen Staaten Truppenübungen in Mexiko oder Marinemanöver im gleichnamigen Golf vor der Küste Floridas unternehmen würde!
Deeskalation, jetzt! – Für eine neue Entspannungspolitik
Kommen wir noch mal zu den geopolitischen Rahmenbedingungen, zum neuen Kalten Krieg zurück, in dem sich die aktuelle Ukrainekrise abspielt. Wenn diese im Worst Case der Funke sein könnte, der die überall angehäuften Benzinfässer zum Explodieren bringt, dann reicht es offensichtlich nicht aus, diesen Funken gerade noch rechtzeitig zu eliminieren. Denn in dieser angespannten Situation kann es jederzeit zu einem neuen Funkenflug kommen. Es kommt also, um im Bild zu bleiben, darauf an, die bis zum Himmel aufgetürmten Benzinfässer nach und nach wieder abzubauen! Solange dies nicht geschieht, besteht die allergrößte Gefahr darin, dass die Dinge – durch welchen Zufall auch immer – allen Akteuren entgleiten, sich verselbstständigen und alle in ein Szenario wie vor dem Ersten Weltkrieg schlittern könnten, zu dem zwar alle beigetragen, das aber so niemand gewollt hätte. Der Dritte Weltkrieg könnte ein zweiter Erster Weltkrieg sein!
Konkret: Es reicht nicht, dass – so dringend dies geboten ist – die Präsidenten Biden und Putin in den kommenden Tagen via Onlinekonferenz direkten Kontakt miteinander aufnehmen, um die aktuelle Ukrainekrise hoffentlich zu entschärfen. Es müssen endlich substanzielle Schritte in Richtung Deeskalation unternommen werden! Eine Konsequenz aus der Kubakrise war seinerzeit die Einrichtung des berühmten Roten Telefons. Heute existieren fast sämtliche bi- und multilaterale Gesprächsformate, die, wie der NATO-Russland-Rat, genau für solche Krisensituationen geschaffen wurden, nicht mehr. Sie müssen dringend reaktiviert bzw. durch neue krisensichere Formate ersetzt werden. Ebenso notwendig ist eine Deeskalation in der Wortwahl. Man kann Kriege auch herbeireden! Es ist hier wie mit dem Denken und Handeln in Worst-Case-Szenarien, die den Worst Case nur immer wahrscheinlicher machen.
Schritt für Schritt abgebaut werden könnten die 'Benzinfässer' allerdings nur im Rahmen einer Entspannungspolitik 2.0. Konzepte dafür liegen längst vor – unter anderem von der langjährigen Moskaukorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz –, sodass es hier genügt, sie nochmals kurz stichwortartig zusammenzufassen: Verbindliche Umsetzung sämtlicher Vereinbarungen von Minsk II, Verhandlungen zwischen den USA und Russland über die Nichtstationierung (am besten: Eliminierung) von Trägersystemen mittlerer und kürzerer Reichweite, Abbau des westlichen Raketen'abwehr'systems Aegis mit seinen Modulen in Rumänien und Polen sowie paralleler Rückzug der russischen Iskanderraketen aus dem Kaliningrader Oblast und schließlich Durchführung einer großen "Konferenz zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt".
Würde die NATO hier die Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien rechtsverbindlich zurücknehmen, so könnte Russland seinerseits einer Stationierung internationaler Friedenstruppen unter UN-Mandat im Donbass zustimmen, falls dies dann noch notwendig wäre. Denkbar wären zudem Verhandlungen über einen Rückzug der Truppen von NATO und USA aus Polen und dem Baltikum, wenn Russland bereit wäre, zugleich seine grenznahen Truppen aus den westlichen Militärbezirken und dem Kaliningrader Oblast zurückzuverlegen. Diese Maßnahmen könnten zu einem entmilitarisierten Korridor zwischen Russland und den westlichen Anrainerstaaten bis zum Schwarzen Meer ausgebaut werden. Manöver würden wieder angekündigt und ausländische Beobachter eingeladen, was zahllosen Gerüchten und Spekulationen einen Riegel vorschieben würde. – All diese Schritte würden Europa erheblich sicherer machen, die Rekonstruktion des Vertrauens zwischen den Akteuren fördern und den Weg für Abrüstungsverhandlungen auf strategischer Ebene freimachen.
Es wäre allerdings naiv zu erwarten, dass diese Entspannungspolitik 2.0 ohne Druck von unten, d. h. ohne Druck einer endlich aufgewachten politischen Öffentlichkeit, umgesetzt werden könnte. Vor vier Jahrzehnten – lang, lang ist's her – war es fast Allgemeingut, dass der Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt und der Kampf gegen die weltweite Aufrüstung zwei Seiten derselben Medaille sind. "Ökopax" hieß damals das Zauberwort. Genau hier muss heute wieder angeknüpft werden.
Wir brauchen nicht nur "Fridays for Future", sondern auch "Sundays for Deescalation"!
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