"Wie man ein mieses Spiel glücklich gewinnt" 2.0 – Zehnter Jahrestag des Georgienkrieges und die ARD

Vor zehn Jahren schickte Michail Saakaschwili Panzer, Kampfjets und Raketenwerfer nach Südossetien und provozierte damit den Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland. Für die "Tagesthemen" Anlass für eine bemerkenswert kreative Geschichtsklitterei.
"Wie man ein mieses Spiel glücklich gewinnt" 2.0 – Zehnter Jahrestag des Georgienkrieges und die ARDQuelle: Reuters © Reuters

von Leo Ensel

Ja, Sie haben richtig gelesen! Sie kennen diese Überschrift.

Aber keine Angst, ich werde Ihnen nicht nochmals denselben Essay auftischen, den ich hier am 13. Juli veröffentlicht habe. Diesmal geht es nicht um Fußball, sondern um Krieg. Genauer: um den Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland, den der damalige georgische Präsident Saakaschwili vor genau zehn Jahren vom Zaun brach, als er in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 die südossetische Hauptstadt Zchinwali mit schwerem Artilleriebeschuss belegte, um im Schatten der Olympischen Sommerspiele in Peking die abtrünnige Region zurückzuerobern.

Am Dienstagabend in den Tagesthemen gab es aus diesem Anlass wieder mal ein eindrucksvolles Exempel qualitätsjournalistischer Faktenverdrehung zu bewundern. Bitte lassen Sie sich die folgende Anmoderation (00:18:41-00:19:20) durch Pinar Atalay auf der Zunge zergehen:

Heute Nacht ist es genau 10 Jahre her, dass dort, wo Europa an Asien grenzt, Schüsse fielen und Panzer Granaten abfeuerten. Östlich des Schwarzen Meeres brach in der Nacht zum 8. August 2008 der Kaukasuskrieg zwischen Russland und Georgien aus. Das kleine Georgien, einst Teil des Riesensowjetreiches, kämpfte um seine abtrünnigen Landesteile Abchasien und Südossetien – und verlor! Bis heute sind die Teilrepubliken nur von Russland und wenigen anderen Staaten als souverän anerkannt. Der Krieg damals dauerte nicht mal eine Woche. Seine Folgen aber haben ein Jahrzehnt überdauert.

Lügen, ohne zu lügen!

Es lohnt sich, diese Sätze einmal penibel anzuschauen und herauszuarbeiten, wie raffiniert hier, ohne direkt zu lügen, die Wahrheit verdreht wird! Es beginnt mit poetischen Umschreibungen des Landes in der Ferne: „Dort, wo Europa an Asien grenzt, östlich des Schwarzen Meeres brach der Kaukasuskrieg zwischen Russland und Georgien aus.“ Er brach aus. In dieser klassischen Idylle. Einfach so! Und zwar genau in dieser Reihenfolge: zwischen Russland und Georgien! Und wie der Krieg ohne Subjekt einfach ausgebrochen ist, so „fielen Schüsse und Panzer feuerten Granaten ab.“ Ebenfalls einfach so! Offenbar haben Krieg, Schüsse und Panzer sich damals einfach selbständig gemacht.

„Das kleine Georgien, einst ein Teil des Riesensowjetreiches, kämpfte um seine abtrünnigen Landesteile Abchasien und Südossietien – und verlor!“ Ein ungebildeter Tölpel, wer nicht sofort an David und Goliath denkt, ein kaltherziger emotionaler Analphabet, wer nicht spontan für den mutigen David Partei ergreift! Dass, im Gegensatz zu dem alttestamentarischen Helden, das „kleine Georgien“, will sagen: David, gegen den Goliath aus dem ehemaligen „Riesensowjetreich“ jedoch verloren hat, verleiht der Geschichte erst die notwendige tragische Tiefe und verfestigt endgültig die Sympathien mit dem tapfer gescheiterten David. Schließlich hat dieser ja nur – und jetzt wird es sprachlich wirklich delikat – „um seine abtrünnigen Landesteile Abchasien und Südossetien“ gekämpft. Um – nicht gegen! By the way: „Landesteile“, eine Formulierung mit vielen umstrittenen Implikationen. 

Dass „bis heute die Teilrepubliken nur von Russland und wenigen anderen Staaten als souverän anerkannt sind“, macht natürlich klar, wer hier im Recht ist und wer im Unrecht. Frei nach dem berühmten Motto: „Fresst Scheiße, Leute! Hundert Millionen Fliegen können nicht irren!“ 

Wer auch immer den Text entworfen haben mag, es handelt sich um einen Virtuosen der Demagogie. Denn noch einmal: Nichts in Atalays denkwürdiger Anmoderation ist direkt gelogen! Durch die ästhetische Grundierung des Handlungsortes, durch die Ausblendung der Schuldfrage, durch die implizite Rollenverteilung von David und Goliath und durch die Marginalisierung der nach Unabhängigkeit strebenden Regionen wird den Zuschauern jedoch subkutan eingeträufelt, was sich in ihrem Unterbewusstsein festsetzen soll: Das riesengroße Russland hat vor zehn Jahren das kleine Georgien aus heiterem Himmel überfallen und damit mal wieder seine unberechenbare Aggressivität unter Beweis gestellt! (Wie richtig ist es doch, dass wir uns alle jetzt wieder gegen dieses Land wappnen.)

So lügt man, ohne zu lügen!

Dass der anschließende knapp dreiminütige Filmbeitrag von Demian von Osten ebenfalls ohne direkte Lügen auskam, sich sogar, im Gegensatz zur Anmoderation, den völlig zutreffenden Satz „Vor zehn Jahren schickte Georgiens damaliger Präsident Michail Saakaschawili sein Militär nach Südossetien“ leisten konnte, das konnte man sich bei den Tagesthemen nun angesichts der längst im gewünschten Sinne konditionierten Zuschauer tatsächlich leisten! 

Die prosaische historische Wahrheit 

Stellen wir dem schrecklich-schönen archaischen Schicksalsdrama Atalays nun die prosaische historische Wahrheit gegenüber! 

Dass der Konflikt zwischen Georgien und den Regionen Abchasien und Südossetien Wurzeln hat, die weit in vorsowjetische Zeiten zurückreichen, dürfte vielleicht nicht unbekannt sein. Dass bereits der sowjetische Bürgerrechtler Andrej Sacharow Georgien wegen des damals vorherrschenden extremistischen Nationalismus als „kleines Imperium“ bezeichnet hatte, möglicherweise auch. 

Bekannt ist jedenfalls, dass, nachdem sich im Frühjahr 2008 die Spannungen zwischen Georgien, Südossetien und Russland bereits verschärft hatten, die damalige US-Außenministerin Condolezza Rice noch kurz vor Saakaschwilis Überfall auf Südossetien zusammen mit etwa 130 US-Militärberatern in Georgien weilte. Ob es damals ihr Job war, den kaukasischen Heißsporn zu bremsen oder ob sie ihn zu seinem militärischen Abenteuer auch noch ermuntert hat, ist immer noch ungeklärt. Im Monat vor dem Angriff hatte obendrein auch noch ein gemeinsames Manöver mit mehr als 1.000 US-Soldaten stattgefunden. 

In der Nacht vom 7. auf den 8. August begann die georgische Großoffensive gegen Südossetien mit Panzern, Kampfjets und Raketenwerfern auf die schlafende Zivilbevölkerung und auf die dort stationierten russischen Friedenstruppen. Unter anderem wurden Streubomben eingesetzt. Laut offiziellen russischen Angaben kamen 162 Zivilisten und 14 Angehörige russischer Friedenstruppen ums Leben. Russland griff nun seinerseits Georgien an, vertrieb die georgischen Truppen aus Südossetien und rückte weiter auf georgisches Territorium vor – unter anderem in die Geburtsstadt Stalins, Gori und in die Hafenstadt Poti –, wo es militärische Ziele zerstörte.

Anfang Oktober zog Russland nach Ankunft einer EU-Beobachtermission seine Truppen aus dem georgischen Kernland zurück. Nach dem Krieg erkannte Russland die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an und schloss mit ihnen Beistandspakte, die es ihm erlauben, dort jeweils 3.800 Mann und schwere Waffen zu stationieren.

Soweit die Fakten, die ein Jahr später durch eine Untersuchungskommission der EU bestätigt wurden. 

Saakaschwili: Militärischer Verlierer – publizistischer Sieger!

Obwohl erwiesenermaßen der Aggressor, schaffte es jedoch der in den USA ausgebildete Saakaschwili durch geschickte Public Relations und unter williger Mithilfe westlicher Medien, sich als die verfolgte Unschuld zu präsentieren. Die Argumentationen nahmen bisweilen abenteuerliche Ausmaße an. Unvergessen die westliche Erzählung, Saakaschwili sei im Sommer 2008 „den Russen in die Falle gelaufen“. Denkt man diese schräge Logik konsequent zu ende, dann wäre auch Adolf Hitler am 1. September 1939 den Polen „in die Falle gelaufen“. Schließlich tönte der ja sinnigerweise am selben Tage im Großdeutschen Rundfunk aus der ‚Goebbelsschnauze‘: „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!“

Kurz: Russland hat den Georgienkrieg militärisch gewonnen und publizistisch haushoch verloren! Es ist daher kein Wunder, dass Russland nach diesem katastrophalen PR-Desaster verstärkt in Auslandsmedien und Softpower investiert hat.

 Dass der publizistische Sieg des mittlerweile in seinem Heimatland wegen Korruption und Amtsmissbrauchs zur Fahndung ausgeschriebenen und aus Poroschenkos Ukraine ausgewiesenen, zeitweise staatenlosen georgischen Heißsporns Saakaschwili bis auf den heutigen Tag anhält, dafür ist nicht nur Pinar Atalays rührselige Anmoderation in den Tagesthemen ein Beleg, sondern auch die Tatsache, dass beispielsweise in Zeit Online nach wie vor und unwidersprochen die Unwahrheit verbreitet wird, Russland habe als Aggressor den Georgienkrieg angefangen. 

Nicht zuletzt ein weiteres hervorragendes Beispiel dafür, wie man  „ein mieses Spiel am Ende glücklich gewinnt.“

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