Das Kaspar-Hauser-Jahr: Corona-Maßnahmen und Menschlichkeit
von Dagmar Henn
Als am 26. Mai 1828 in Nürnberg ein Jugendlicher auftauchte, der sich Kaspar Hauser nannte und erzählte, er sei über Jahre hinweg isoliert aufgewachsen, war das der Auslöser für Debatten, welchen Anteil Sprache und Kontakt an der menschlichen Natur hätten. Seine Geschichte diente, auch wenn viele Details darin fraglich sind, noch im vergangenen Jahrhundert als Anlass, den geistigen und emotionalen Verfall isolierter Kinder, den Hospitalismus, als Kaspar-Hauser-Syndrom zu benennen.
Hospitalismus wurde, das lässt sich schon am Namen erkennen, zuerst in Krankenhäusern beobachtet. Kinder, die längere Zeit dort verbrachten, ohne Kontakt, Zuwendung und Nähe zu erfahren, werden apathisch, entwickeln sich zurück, werden aber auch deutlich anfälliger für Krankheiten aller Art. Eine Zeit lang wurde Hospitalismus, als man die Bedeutung der Hygiene gerade erst entdeckt hatte, regelrecht gefördert – die Regeln in manchen Waisenhäusern untersagten jegliche Berührung, und die Kinder, die unter diesem Regime aufwuchsen, überlebten es meist nicht, obwohl sie nach damaliger Überzeugung bestens vor Infektionen geschützt wurden.
So wie das Erscheinen Kaspar Hausers zu einer Beschäftigung mit der Rolle der sprachlichen Kommunikation führte, sorgte das Phänomen des Hospitalismus, als es dann erkannt wurde, für ein Nachdenken über die Rolle körperlicher Zuwendung. Berühmt wurden die Experimente von Harry Harlow, der Rhesusaffenbabys vor die Wahl zwischen einem milchspendenden Drahtkörper und einem milchlosen Fellkörper stellte, wobei sich zeigte, dass die Affenbabys den Drahtkörper nur zum Trinken aufsuchten. Im Gefolge dieser Erkenntnisse wurde es unter anderem Müttern ermöglicht, bei ihren kranken Kindern zu bleiben, wenn diese in die Klinik mussten, und Neugeborene wurden nicht mehr systematisch von ihren Müttern getrennt.
Das gesamte letzte Jahr wirkt, als wären all diese Erkenntnisse von einem bösen Zauberer plötzlich hinweggeblasen worden, und an ihre Stelle trat ein Lebensregime, das wirkt, als hätte man das gesamte Land in ein Waisenhaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts verwandelt. Seitdem unterliegt das Dasein einer Form verordneter Vernachlässigung, deren Folgen zwar inzwischen benannt sind, aber nichts an dem regierungsamtlichen Willen ändern, das Experiment weiter fortzusetzen.
Das, was so heuchlerisch "soziale Distanz" genannt wird (eine Art schwarzer Schimmel), ist mit unserer Primatennatur unverträglich. Schon ohne Corona bräuchten die meisten von uns mehr Berührung, nicht weniger, und sei es, um den Blutdruck zu senken. Wir bräuchten mehr, nicht weniger echte Gespräche, mehr, nicht weniger Zeit in sozialen Gruppen, und mehr, nicht weniger Nähe. Wir sehnen uns nach dem Lächeln, aber eine Umgebung, in der keine Mimik mehr zu erkennen ist, macht uns Angst. Selbst wenn diese Angst nicht ins Alltagsbewusstsein vordringt, sie ist da und wirkt, weil die hormonellen Reaktionen nur begrenzt durch den Verstand beeinflusst werden können.
Wie hatte das der TK-Gesundheitsreport vor wenigen Wochen formuliert? "Wenn aber nur noch Arbeit erlaubt ist, während alle anderen sozialen Bereiche des Lebens massiv eingeschränkt sind, führt das auf Dauer zu hohen psychischen Belastungen mit noch nicht absehbaren gesellschaftlichen Auswirkungen auf die (psychische) Gesundheit."
Das Schlimme daran (und auch das hatte dieser Bericht angedeutet) – es handelt sich um einen Kreislauf stetiger wechselseitiger Verstärkung. Weil weder der Stress, den jene erleben, die sich vor der Krankheit fürchten, noch der Stress, der aus dem völlig aus den Fugen geratenen Alltag resultiert, durch die Handlungen abgebaut werden können, die dazu beitragen; weil in diesem Fall es ja eben die Nähe, die Kommunikation, das Sich-aneinander-Aufrichten sind, die unterbunden und untersagt werden, die spontane Berührung, das aufmunternde Lächeln. Das letzte "Runterschließen" ist noch nicht verdaut, da droht schon das nächste, und das letzte fand viele schon am Ende ihrer Kraft.
Der Mensch ist eben nicht nur ein biologischer Automat, der Nahrung verwertet und deren Überreste wieder ausscheidet. Er ist, das ist die einfache Botschaft des Harlow-Experiments, wie alle Primaten vor allem ein soziales Wesen. Primaten sind keine Tiger, die allein durch riesige Jagdgebiete streifen und sich nur zur Paarung treffen. Und das Gruppenverhalten, das alle Primaten zeigen, hat sich beim Menschen um ein Vielfaches verstärkt, hin zu großen Gesellschaften, die auf einem ungeheuren Maß an Zusammenarbeit aufbauen. Einsamkeit, das ist tief in unserem Neurotransmittersystem verankert und medizinisch belegt, ist ein bedrohlicher Zustand.
Auch Erkenntnis ist kein Ergebnis von Isolation; im Gegenteil, sie ist, wie die Kunst, eigentlich ein über Jahrhunderte und Kontinente ausgedehntes Gespräch. Selbst im ganz Persönlichen – es kommt einem albern vor, das erwähnen zu müssen, aber wie wichtig ist oft das Gespräch mit einem guten Freund oder einer guten Freundin, um bei Problemen die richtige Perspektive zu finden. Man muss es erwähnen, weil selbst das schwierig geworden ist, und digital oft nicht ersetzbar.
Die Quarantänen, die in China verhängt wurden, waren übrigens an diesem einen Punkt grundlegend anders: die riesigen Behelfskrankenhäuser, die in Wuhan aus dem Boden gestampft wurden, dienten dazu, die nur leicht Erkrankten, die in Quarantäne mussten, eben nicht in Isolation voneinander zu halten, sondern nur in Isolation von den nicht Erkrankten. Es gibt Videos, die Tanzveranstaltungen in diesen Kliniken zeigen, oder Tai-Chi-Übungen.
Wie vor langer Zeit in den Waisenhäusern stellt sich die Frage, ob die Infektionen gefährlicher sind oder das, was sie verhindern soll. Der AOK-Pflegereport belegte, dass die Sterblichkeit in den Pflegeheimen im letzten Jahr die Folgen der Grippewelle 2018 nicht erreichte – mit einer Ausnahme: Die Sterblichkeit bei an Demenz Erkrankten war deutlich höher. Das sind aber genau die Pflegebedürftigen, die sich ihre plötzliche Isolation nicht einmal mehr erklären können und bei denen das Bedürfnis nach Nähe am ausgeprägtesten ist; gleichzeitig gibt es keinen physischen Grund, warum ihre Sterblichkeit über jener Anderer mit höchster Pflegestufe liegen sollte. Es ist die menschliche Not, der menschliche Mangel, der diese Differenz erklärt. Einsamkeit und fehlende Zuwendung töten.
In den 1980er Jahren waren Theorien populär, die die Entstehung des modernen Staates aus der Quarantäne begründeten. Nicht die Auseinandersetzungen der Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts, wie Hobbes das behauptete, seien es gewesen, die zu der deutlichen Straffung von Herrschaft und der verschärften Triebkontrolle geführt hätten, die die Phase des Absolutismus kennzeichnet; nein, es sei der Versuch gewesen, die Kontrolle über die großen Seuchen zu gewinnen, die damals in Europa wüteten; die Pest, die Pocken und die Syphilis. Dort sei der Ursprung jener immer weiter internalisierten Regelwerke zu suchen, die in der mittelalterlichen Gesellschaft noch nicht existierten oder nur als von äußerer Macht auferlegte Grenzen, die noch nicht mit der Selbstwahrnehmung verbunden waren.
Ein Punkt, an dem sich dieser Unterschied zeigt, ist die Wahrnehmung der weiblichen Sexualität. Texte aus der frühen Neuzeit schreiben von der nie zu befriedigenden Wollust des Weibes; im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert hatte sich das so weit geändert, dass Frauen vielfach jedes eigene Begehren abgesprochen wurde. Dazwischen lag jener Umbruch, der den modernen Staat hervorbrachte, begleitet von Bürgerkriegen und Hexenverbrennungen. Im Zusammenhang mit der Syphilis, die vermutlich durch eine aus Südamerika eingeschleppte Variante deutlich schneller zu Tode brachte, machte es selbst aus heutiger Sicht sogar Sinn, dass die mittelalterlichen Badehäuser verschwanden und Sexualität auf vielfache Weise reglementiert wurde, und zumindest an diesem Punkt ist die Quarantänetheorie auch schlüssig, selbst wenn in diesem Zeitraum ganz gewaltige andere Kräfte auftauchen und wirken: der ungeheure Zufluss von Gold aus Südamerika beispielsweise, der Sklavenhandel und der dadurch akkumulierte Reichtum, das Aufkommen des Protestantismus als einer dem entstehenden Kapitalismus adäquaten Glaubensvariante ...
Heute leben wir gerade in einem Kaspar-Hauser-Experiment von ungeheuren Ausmaßen. Es gibt erste Berichte, dass Jugendliche, die inzwischen ein Jahr Maskengebote und Distanzregeln hinter sich haben, mit Befremdung auf ganz gewöhnliche menschliche Nähe reagieren. Das sollte ein Alarmzeichen sein. Denn Eingriffe in die tiefsten Bereiche, die uns als Menschen ausmachen, bleiben nicht ohne Folgen. Wenn diese Maßnahmen, deren Befolgung ja nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Zwang beruht, noch über unabsehbare Zeit erhalten bleiben, verändern sie die Gesellschaft.
Menschen sind ungeheuer anpassungsfähig, selbst an die absurdesten Regeln; Berichte von Überlebenden aus Konzentrationslagern bekunden das. Aber es gibt keine Trennung zwischen Innen und Außen; wenn ich meine Mitmenschen tagtäglich, über eine lange Zeit hinweg, wie eine Gefahr behandle, selbst wenn das erzwungen geschieht, und sie mich ebenso, dann folgt mein Denken und Fühlen irgendwann dem täglich Erlebten, oder es bedarf einer großen psychischen und intellektuellen Anstrengung, dass das nicht geschieht. Das funktioniert übrigens auch andersherum, wenn ich jeden als Freund behandle und von ihm behandelt werde, werde ich freundlicher.
Allerdings ist der Hintergrund, vor dem diese Maßnahmen wirken, eine Gesellschaft, die ohnehin schon unter der ständigen Konkurrenz leidet und von ihr ermüdet ist; in der die sozialen Netzwerke vom Zerfall bedroht sind und so gut wie jede Form von Gemeinschaft aufgelöst wurde, also eine, gegen die man die Humanität zuvor schon ständig verteidigen musste. Eine Gesellschaft, in der die Verächtlichmachung der Besitzlosen zum guten Ton gehört, wie auch das Beiseiteschauen, wann immer Elend sichtbar wird, die aber den zügellosen Reichtum, das obszön ausgelebte Ego noch mit Beifall überschüttet. Bezos' fliegender Phallus ist ein passendes Beispiel dafür.
Wie viel Menschlichkeit ist noch übrig nach fünf Jahren unter solchen Bedingungen? Wenn das letzte Jahr eines gezeigt hat, dann, dass die Politik dieses Landes nicht im Stande oder nicht Willens ist, gesundheitliche und soziale Auswirkungen abzuwägen oder die menschlichen Kollateralschäden auch nur zur Kenntnis zu nehmen, und auch die Medien verweigern sich jeder Debatte über das rechte Maß. Ganz zu schweigen davon, sich tatsächlich einer offenen Diskussion zu stellen, ob nicht der Preis der asozialen Distanz letztlich zu hoch ist.
Im Gegenteil, die Menschenverachtung, der spätestens mit der Einführung der Hartz-Gesetze freie Bahn geschaffen wurde, tobt sich in vielerlei sadistischen Vorschlägen aus, vom Kinderimpfzwang bis zur Dauerstigmatisierung Nichtgeimpfter bis hin zum jüngst in Australien erfolgten Vorschlag, doch das Miteinanderreden zu unterlassen. Die Verbreiter dieser Positionen scheinen dabei keinerlei Hemmung zu empfinden; sie bemerken es nicht einmal mehr, wie Würde und Entscheidungsfreiheit anderer von ihnen übergangen werden. Im Pflegereport der AOK gab es einen Aufsatz, der eine der vielen nicht gestellten Fragen des letzten Jahres aufwarf: warum die entscheidungsfähigen Bewohner von Pflegeheimen massiven freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen wurden, ohne zumindest gehört zu werden. Nicht, dass dieser Aufsatz breit zur Kenntnis genommen worden wäre ...
Was schrieb der Philosoph Giorgio Agamben in seinem neuen Buch? "Die Pandemie hat zweifellos gezeigt, dass der Bürger auf das nackte biologische Dasein reduziert wird."
Die jüngst in Frankreich verabschiedeten Gesetze zeigen, wohin die Reise geht. Der Druck wird schlicht noch weiter erhöht. Ein halbes Jahr Gefängnis für das Aufsuchen eines Restaurants ohne Impfausweis? Das entspricht schon einer schweren Körperverletzung. Mit Sorge um das Wohl der Bevölkerung hat das nichts mehr zu tun; das ist die Umwandlung eines Landes in ein Gefängnis.
Noch ein Kaspar-Hauser-Jahr? Vielleicht ist es nötig, auf einen Schluss zu verweisen, der aus dem originalen Antifaschismus stammt, ehe wieder solche wie Correctiv oder Mimikama etwas von "Pandemieleugner" murmeln: Wenn es nötig ist, zwischen Gefahr für das eigene Leben oder Verlust der Menschlichkeit zu entscheiden, dann sollte die Entscheidung für die Menschlichkeit fallen. Das gilt, ob die Gefahr von anderen Menschen ausgeht oder nicht. Wer aber schon bereit ist, sie angesichts einer auf der Skala der Seuchen eher unbedeutenden Krankheit preiszugeben und zwischen den Mühlsteinen menschenwidriger Gebote zu zermalmen, der wäre niemals in der Lage, sie ernsthaft zu verteidigen.
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