Eine rote Welle rollt durch Südamerika – und wird wohl noch eine Weile weiterrollen
von Tom Fowdy
In den letzten Tagen waren viele Augen in der westlichen Hemisphäre auf die heiß umkämpfte Präsidentschaftswahl in Peru gerichtet. Der linke Kandidat Pedro Castillo von der antiimperialistischen Partei Freies Peru hat in einem hitzigen Wahlkampf die Oberhand gegen die etablierte Rechts-Kandidatin Keiko Fujimori gewonnen, worauf diese Castillo der Wahlmanipulation beschuldigte. Die Wahl eines so radikalen Sozialisten, der sich in der Öffentlichkeit gerne bescheiden in Poncho, Sandalen und Strohhut zeigt, wurde von einer Generation junger Menschen entschieden, die von der zunehmenden Ungleichheit und den anhaltenden Armuts- und Korruptionsskandalen des Landes zutiefst desillusioniert ist, sowie von Wählern in ländlichen Gebieten und von indigenen Gemeinschaften.
Ein solches politisches Erdbeben fand jedoch nicht allein in Peru statt, sondern ist eines von vielen, die zunehmend den ganzen Kontinent erschüttern. Lateinamerika erlebt eine "rote Welle" – ein folgenschwerer Ausbruch linksgerichteter Energie, die über mehrere Länder hinwegfegt und den Durst nach radikalen Veränderungen wachsen lässt. Während die Wahl in Peru praktisch besiegelte Sache ist, wird Kolumbien weiterhin von Protesten und Aufständen erfasst, hat Chile seine Verfassung aus der Pinochet-Ära aufgegeben, und der ehemalige linke Präsident Luiz Inácio Lula da Silva feiert in Brasilien ein Comeback.
Aber was verursacht diese Renaissance linker Politik? Was haben diese Länder gemeinsam? Die Antwort darauf ist: Ihnen gemeinsam ist die Ablehnung einer neoliberalen, von den USA geführten Wirtschaftsordnung des "Marktfundamentalismus", die zu einer enormen ungleichen Verteilung des Reichtums, zum Abbau der Chancengleichheit und zu einer hohen Arbeitslosigkeit geführt hat – Faktoren, die zu einer wachsenden Desillusionierung in der Bevölkerung geführt haben und die Wirtschaft auf dem südamerikanischen Kontinent eine Dekade lang in Stagnation verharren ließen. Jetzt ist der Wind der Veränderung da – und das alles geschieht aus Sicht der USA im eigenen "Hinterhof", den sie zwar für sich beanspruchen, aber nicht pflegen.
In vielerlei Hinsicht wurde das Unglück Lateinamerikas durch die jeweils herrschende Geopolitik verschlimmert. Seit dem 19. Jahrhundert praktizieren die USA ihre "Monroe-Doktrin" – ein außenpolitischer Ansatz, der eine unangefochtene Dominanz über die gesamte westliche Hemisphäre zum Schutz US-amerikanischer Interessen und der nationalen Sicherheit proklamiert. Eine solche Politik hat in Washington zur jahrzehntelangen Praxis geführt, Regierungen – insbesondere sozialistische Regierungen – abzusetzen oder zu sabotieren, deren Präferenzen nicht mit jenen der USA übereinstimmten. Dies hat zu vielen offen geführten Kriegen, Staatsstreichen und verdeckten Regimewechseln geführt, die alle die chronische Instabilität in Latein- und Südamerika verlängerten und viele der beteiligten Länder in ihrer Entwicklung ernsthaft zurückwarfen.
Dieses traditionelle Verlangen der USA nach politischer Dominanz wurde in der Folge nicht mit einer Strategie zur Förderung von Entwicklung, Investitionen und Wachstum auf dem gesamten Kontinent kombiniert. Die Vereinigten Staaten haben lange versucht, ihr Wirtschaftssystem in der gesamten Region durchzusetzen, aber es hat nicht Wachstum und Wohlstand erzeugt – wie es versprochen wurde –, sondern führte stattdessen zu einer umfassenden Privatisierung von Vermögenswerten, die unter US-amerikanischer Kontrolle kamen.
Einher ging damit ein "Fundamentalismus des freien Marktes", die Erosion der ohnehin schon schwachen nationalen industriellen und technologischen Basis sowie die Schaffung kleiner, superreicher und pro-US-amerikanischer oligarchischer Klassen, bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber der breiten Bevölkerungsmasse – was letztlich, mangels Perspektiven im eigenen Land, zu einer Masseneinwanderung in die USA selbst führte.
Als US-Vizepräsidentin Kamala Harris vergangene Woche in Guatemala auftauchte, war die einzige Botschaft, die im Gedächtnis der Weltgemeinschaft hängen blieb: "Kommt nicht" – was den chronischen Mangel an Empathie und wirtschaftlichem Fokus offenbart, den Washington Lateinamerika seit jeher entgegenbrachte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in der Folge politische Bewegungen im Süden entstanden sind, die eine populäre Veränderungen fordern. Sie werden nicht von geopolitischer Konkurrenz getrieben, die Ereignisse in Peru, Chile und Kolumbien lassen sich nicht mit Russland, China oder Kuba erklären, sondern mit einem kaputten Status quo und einem permanent gegen das Volk manipulierten System. Der US-Neoliberalismus in dieser Region ist ein gescheitertes Experiment.
Nachdem die Vereinigten Staaten nun entschieden haben, dass die Zukunft der Welt im Indopazifik und in Asien liegt, wo bleibt dann Südamerika?
Es wird interessant sein zu sehen, wie das außenpolitische Establishment der USA auf die "rote Welle" vor seiner Haustür reagiert. Wird es das als Bedrohung der nationalen Sicherheit wahrnehmen? Wird es versuchen, diese Bewegungen zu entwurzeln und zu spalten? Oder sogar Staatsstreiche anzetteln? Auch wenn die politischen Entwicklungen in Latein- und Südamerika nicht von einem bestimmten geopolitischen Rivalen befeuert werden, ist es nicht schwer zu erkennen, warum man dort – angesichts der Geschichte – größtenteils eindeutig "antiamerikanisch" ist.
Aber selbst wenn es nicht zum Äußersten kommt, kann Washington diese Ereignisse aufgrund ihres expliziten ideologischen Elements sicherlich nicht ignorieren, was den populären Diskurs in den USA in Frage stellen wird, Ostasien sei die "Baustelle des 21. Jahrhunderts". Diese neue linke Bewegung kann auf unvorhergesehene Weise Auswirkungen auf die ganze Welt haben. Die rote Welle erfindet Südamerika neu – und sie wird wohl noch eine Weile weiterrollen.
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Übersetzt aus dem Englischen. Tom Fowdy ist ein britischer Autor und Analytiker für Politik und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien.
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