Bidens Außenpolitik basiert auf einer großen Lüge
Ein Kommentar von Scott Ritter
Es war einmal eine bipolare Welt, in der sich zwei konkurrierende Supermächte – die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – in einen "Kalten Krieg" verwickelt sahen, der von ideologischen und wirtschaftlichen Konflikten geprägt war und der gelegentlich von einem militärischen Wagnis angeheizt wurde, was beide Nationen stets an den Rand eines offenen Krieges brachte. Der konnte dank der Vernunft, die am Ende immer die Oberhand behielt, vermieden werden.
Die USA blickten starr und blauäugig auf das, was sie als Nation sein wollten – laut Ronald Reagan eine "leuchtende Stadt auf einem Hügel", die der ganzen Welt als Leuchtfeuer dient, "eine große, stolze Stadt, die auf Felsen gebaut wurde, die stärker sind als die Wogen der Ozeane … windgepeitscht, von Gott gesegnet und voller Menschen aller Art und Herkunft, die in Harmonie und Frieden leben; eine Stadt mit offenen Häfen, die vor Handel und Kreativität nur so strotzt. Und wenn es Stadtmauern geben musste, dann hatten diese Mauern Türen. Und diese Türen standen jedem offen, der den Willen und das Herz hatte, hierher zu kommen."
Der Kalte Krieg ermöglichte den USA jedoch zugleich einen klaren Blick auf die Realitäten in der Welt, in der sie lebten, nämlich einer Welt, in der die Konkurrenz der Supermächte die idealistischen Vorstellungen von Freiheit und Bürgerrechten für alle ablöste. In ihrem wegweisenden Essay "Diktaturen & Doppelmoral" hat Botschafterin Jeane Kirkpatrick in schonungsloser Weise die Realpolitik dargelegt, die Amerikas Beziehung zur Welt in einem Nullsummenspiel mit der Sowjetunion bestimmte: "Obwohl jeder Staatsführer von Zeit zu Zeit von amerikanischen Offiziellen wegen der Verletzung von Bürger- und Menschenrechten kritisiert wurde", schrieb Kirkpatrick, "hatte die Tatsache, dass die Menschen Irans und Nicaraguas nur selten jene den Bürgern westlicher Demokratien gewährten Rechte genossen, aufeinanderfolgende US-Regierungen nicht daran gehindert – mit der erforderlichen Zustimmung des jeweiligen Kongresses – diesen Ländern sowohl militärische als auch wirtschaftliche Hilfe zu gewähren."
Die Unterstützung dieser Diktaturen wäre für die nationale Sicherheit der USA von entscheidender Bedeutung gewesen, schreibt Kirkpatrick angesichts der schlimmeren Folgen eines Unterlassens solcher Art Hilfe. "Die amerikanischen Bemühungen, einer Regierung, die mit gewaltsamer innerer Opposition konfrontiert ist, Liberalisierung und Demokratisierung aufzuzwingen, ist nicht nur gescheitert", bemerkte sie, "sondern trug auch dazu bei, dass neue Regime an die Macht kamen, unter denen gewöhnliche Menschen weniger Freiheiten und weniger persönliche Sicherheit genießen als unter der früheren Autokratie – außerdem wären dies Regime, die den amerikanischen Interessen und ihrer Politik feindlich gesinnt waren."
Die sogenannte "regelbasierte internationale Ordnung" existierte ausschließlich, um die Interessen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu fördern. Matthew Yglesias, ein konservativ orientierter amerikanischer Journalist, erklärt es so: "Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Vereinigten Staaten – geleitet von liberalen Prinzipien des Internationalismus – erfolgreich, eine 'freie Welt' zu knüpfen von verbündeten Mächte, die untereinander und mit den USA auf der Basis von Regeln und Institutionen kooperativ interagieren. Dies machte die westliche internationale Politik zu einer Abfolge positiven Gesamtzusammenwirkens, was es uns ermöglichte, unsere kommunistischen Gegner einzudämmen und zu übertreffen."
Als der Kalte Krieg zu Ende ging, konkurrierten die USA jedoch nur noch mit sich selbst um die Weltherrschaft. Während die USA unter Präsident George H. W. Bush senior kurzzeitig mit der Idee einer von den Vereinten Nationen zentrierten "neuen Weltordnung" flirteten, war die Welt in Wirklichkeit nicht so positioniert, dass sie einen echten multipolaren Charakter annehmen konnte. Stattdessen fühlte sie sich zu dem hingezogen, was der konservative Kommentator Charles Krauthammer das "Unipolare Moment" nannte; eine Realität nach dem Kalten Krieg, in der die USA die Oberhand hatten. Die "innerwestliche internationale Politik" (d.h. jene "regelbasierte internationale Ordnung"), von der Matt Yglesias während des Kalten Krieges sprach, setzte sich fort, außer dass das von ihr produzierte "positive Gesamtzusammenwirken" nicht mehr darauf ausgerichtet war, einen kommunistischen Gegner in Schach zu halten, sondern einzig und allein auf die Förderung und Aufrechterhaltung der amerikanischen Hegemonie.
In den nächsten 30 Jahren (nach dem Ende des Kalten Krieges) pflegten die USA eine schizophrene Beziehung zur Welt und entfernten sich von dem Anspruch, in einer multipolaren Welt agieren zu wollen (wie unter den Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama), sondern wandten sich einer ehrlicheren Politik zu, nämlich mit den USA an der Spitze einer globalen Hierarchie, wie sie von amerikanischen ausländischen und nationalen Sicherheitseliten entworfen wurde, um die USA an der Spitze zu halten (wie unter den Präsidenten George W. Bush junior und Donald Trump). Während die USA an der Vorstellung festhielten, dass sich die ganze Welt auf ewig dem Willen und den Launen der USA unterzuordnen habe, entwickelten sich andere Länder zu einer Realität jenseits des Kalten Krieges, in der echte Bestrebungen nach einer multipolaren Ordnung über reine Rhetorik hinausgingen und zu einem praktischeren Herangehen führten, in der die US-Hegemonie oft als Hindernis angesehen wurde.
Die Beziehungen der USA zur Welt haben sich in den Jahren nach den Ereignissen des 11. September dramatisch verändert, als die USA eine echte Chance verspielte, zum Anführer einer vordergründig "neuen Weltordnung" zu werden, in der eine "regelbasierte internationale Ordnung" als Grundlage einer US-amerikanisch zentrierten globalen Stabilität hätte dienen können, anstatt nur als Vehikel zur Aufrechterhaltung eines einseitigen US-Machtanspruchs.
Dieses schizophrene Verhältnis zur Welt hat sich in der Außen- und Nationalen Sicherheitspolitik der Regierung von Präsident Joe Biden manifestiert. In seiner im März 2021 herausgegebenen vorläufigen Nationalen Sicherheitsrichtlinie wandelte Präsident Biden auf den Pfaden von Ronald Reagan, indem er eine Welt postulierte, in der die amerikanische Demokratie als veritable "leuchtende Stadt auf einem Hügel" thront, als ein Leuchtturm für eine Regierungsführung, wie sie die Welt anstreben solle.
"Ich glaube fest daran", erklärte Biden, "dass Demokratie der Schlüssel zu Freiheit, Wohlstand, Frieden und Würde ist. Wir müssen jetzt – mit einer Klarheit, die jeden Zweifel ausräumt – zeigen, dass Demokratie für unser Volk und für die Menschen auf der ganzen Welt noch immer etwas bewirken kann. Wir müssen beweisen, dass unser Modell kein Relikt der Geschichte ist; es ist der beste Weg, um das Versprechen für unsere Zukunft zu verwirklichen. Und wenn wir mit unseren demokratischen Partnern stark und selbstbewusst zusammenarbeiten, werden wir jede Herausforderung meistern und jeden Herausforderer übertrumpfen."
Die Vision der amerikanischen Demokratie als ein Modell, auf das sich die Nationen der Welt stützen sollten, wurde mit der Vorstellung einer wohlwollenden "regelbasierten internationalen Ordnung" als einem System verbunden, das sowohl die Interessen der Vereinigten Staaten als auch die der übrigen Welt fördern sollte.
Dieses System [d.h. die regelbasierte internationale Ordnung] ist keine Abstraktion, sagte Bidens Außenminister Antony Blinken kürzlich in einem Interview: "Es hilft Ländern, Differenzen friedlich beizulegen, multilaterale Bemühungen effektiv zu koordinieren und am globalen Handel mit der Gewissheit teilzunehmen, dass alle die gleichen Regeln befolgen." Laut Blinkens Weltgeschichte entstand diese "Ordnung" nach der Gründung der Vereinten Nationen in der Folge des Zweiten Weltkrieges und basiert auf gemeinsamen Prinzipien, die darauf abzielten, Konflikte zu verhindern, den Dialog zu fördern und aufrechtzuerhalten und ein System aufzubauen, das allen Nationen zugute kommen soll. "Es war aufgeklärtes Eigeninteresse“, erklärte Blinken. "Wir glaubten, dass der Erfolg anderer Nationen entscheidend für unseren Erfolg war."
Während die Scharade sowohl von Biden [nämlich dass die amerikanische Demokratie als das tragfähigste Modell für den Rest der Welt dient] als auch von Blinken [demzufolge die regelbasierte internationale Ordnung existiert, um gemeinsam das Wohl der USA und der Rest der Welt zu fördern] zwar unter den Bedingungen der USA als einziger Supermacht, die als Oberhand hat, nachhaltig sein könnte, ist es jedoch eine Realität, dass sich die Welt dramatisch verändert hat, seit solche Modelle noch als lebensfähig angesehen wurden. In einer kürzlich publizierten Präsentation am Aspen Institute stellte der Vorsitzende des US-Generalstabs General Mark Milley fest, dass die Welt eine "Singularität" nach dem Kalten Krieg hinter sich gelassen habe und die Vereinigten Staaten nun in einen neuen "tripolaren" Kalten Krieg eingetreten seien, in dem die USA, China und Russland als Großmächte konkurrieren.
General Milley bezeichnete China als die größere Bedrohung für das Biden/Blinken-Modell der US-dominierten globalen Führung. China strebe an, die Vereinigten Staaten weltweit herauszufordern, sagte Milley. "Sie haben das sehr deutlich gemacht. Sie haben einen China-Traum und wollen die sogenannte liberale, regelbasierte Ordnung herausfordern, die 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft trat. Sie wollen diese Ordnung überarbeiten. Wir haben also ein Land, das außerordentlich mächtig wird und die internationale Ordnung zu seinem Vorteil revidieren will."
Aus der Perspektive einer regelbasierten internationalen Ordnung betrachtet, die das Wohl aller Nationen fördert, propagieren die Kommentare von General Milley die Vorstellung von China als einem globalen Ausreißer – als einer Nation, deren Politik dem internationalen Frieden und der internationalen Sicherheit entgegenstehe. Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan jedoch enthüllte den realpolitischen Kern der Biden-Umarmung einer "regelbasierten internationalen Ordnung", wie es an Ehrlichkeit fast jener Enthüllung von Jeane Kirkpatrick nahekommt.
"Das Ziel der amerikanischen China-Politik ist es", so sagte Jake Sullivan kürzlich in einem Interview, "ein Umfeld zu schaffen, in dem zwei Großmächte auf absehbare Zeit in einem internationalen System operieren müssen, und wir wollen Bedingungen in dieser Art Koexistenz im internationalen System, die den amerikanischen Interessen und Werten zuträglich sind." Das Ziel dieser Politik, so Sullivan, sei es, "das internationale Umfeld so zu gestalten, dass es den Interessen und Werten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten und Partner gleichgesinnter Demokratien besser entspricht".
Es ist nichts Falsches daran, dass eine Nation ihr eigenes Wohlergehen auf Kosten anderer fördern will. Sullivans Kommentare entblößen jedoch jeglichen Vorwand von Blinkens angeblichen, fiktiven "aufgeklärten Eigeninteressen" seitens der Vereinigten Staaten, eine "regelbasierte internationale Ordnung" vorantreiben zu wollen. Der Erfolg anderer Nationen gilt nun nämlich nicht mehr als wichtiger Bestandteil der US-Politik, sondern als eine Folge, die "ganz nett" wäre, wenn sie noch dazu käme. Das Hauptziel von Bidens Außenpolitik ist die ausschließliche Förderung der amerikanischen Hegemonie. Biden tritt damit in die Fußstapfen seiner Vorgänger der letzten 30 Jahre. Der einzige Unterschied besteht darin, dass jetzt die "leuchtende Stadt auf einem Hügel" in Trümmern liegt, die amerikanische Demokratie einer buchstäblichen Selbstparodie gleicht und der amerikanische Unilateralismus durch eine neue trilaterale Realität nach dem Kalten Krieg ersetzt wurde, in der die USA nicht mehr auf der Spitze der Pyramide thront.
Es war einmal eine monopolare amerikanische Supermacht, die in der Lage war, dem Rest der Welt ihren Willen praktisch ohne Konsequenzen aufzuzwingen. Es war einmal – oder wie Bob Dylan in seinem berühmten Lied sang: "… denn die Zeiten ändern sich."
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Übersetzt aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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