Ein "globales öffentliches Gut"? Westliche Staaten fegen Corona-Impfmarkt leer
Immer weitere Impfstoffe drängen weltweit auf den Markt, um SARS-CoV-2 in die Schranken zu weisen. Doch über die Kritik an den im Schnellverfahren entwickelten medizinischen Präparaten hinaus droht die große und ungleich härter getroffene Mehrheit der Weltbevölkerung, bei der Impfstoffverteilung extrem benachteiligt zu werden.
Während sich die USA, die EU und Großbritannien etwa durch Vorkaufsverträge hunderte Millionen Dosen potentieller Corona-Impfstoffe im Kampf gegen die postulierte globale Pandemie sicherten, ist es um den globalen Süden offensichtlich nicht gut bestellt. Laut Informationen von Citi Research seien 85 Prozent der bereits bestellten Impfstoffe für den kleinen, dafür aber im Vergleich äußerst wohlhabenden Teil der Weltbevölkerung reserviert.
"Länder wie die USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Australien und die Länder der Europäischen Union haben Vorräte bestellt, die ihre Bevölkerungszahl übersteigen", heißt es seitens der Analysten.
Allein Kanada könnte seine Staatsangehörigen fünfmal impfen lassen. In Folge müssten die sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer wohl erheblich länger warten, bis deren Bevölkerungen in den Genuss flächendeckender Impfungen kommen – bis Ende 2022 oder sogar noch länger.
"Fast 70 ärmere Länder werden im kommenden Jahr nur zehn Prozent ihrer Bevölkerung gegen COVID-19 impfen können – wenn die Regierungen und die Pharmaindustrie nicht sofort Gegenmaßnahmen ergreifen", heißt es bei Amnesty International.
Dahingegen hatte US-Multimilliardär Bill Gates vor Monaten in Sachen Corona-Impfungen gar von einem "globalen öffentlichen Gut" gesprochen.
Es ruhten die Hoffnungen vor allem auf COVAX, ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiiertes Programm, das die Versorgung der Entwicklungs- und Schwellenländer mit Corona-Impfstoffen gewährleisten und subventionieren soll. 190 Länder beteiligen sich an der Initiative, darunter auch Deutschland, China und die USA.
Ziel ist es, bis Ende 2021 mindestens zwei Milliarden Impfdosen für 20 Prozent der am stärksten gefährdeten Menschen in 91 Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen, vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika, zur Verfügung zu stellen. Selbst diese 20 Prozent wären noch immer weit entfernt von den 60 Prozent, die mutmaßlich zur Erreichung einer Herdenimmunität notwendig wären.
Doch offensichtlich ist es um das COVAX-Programm nicht gut bestellt.
"Das Risiko, dass das Vorhaben, eine erfolgreiche COVAX-Einrichtung aufzubauen, scheitert", sei "sehr hoch", lautet es demzufolge in einem internen Bericht an den Vorstand von Gavi, einer Impfallianz aus Regierungen, Pharmafirmen, Wohlfahrtsverbänden und internationalen Organisationen, die weltweite Impfkampagnen organisiert.
Gavi leitet das COVAX-Programm gemeinsam mit der WHO. Noch Ende November hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Videobotschaft zum G20-Gipfel erklärt, dass der "Zugang zur Impfung (…) für alle Länder möglich und bezahlbar sein" müsse.
Am Freitag wurde dann jedoch berichtet, dass COVAX sich genügend Impfstoff gesichert habe, so dass auch ärmere Länder 2021 mit der Impfung derjenigen beginnen können, die es am dringendsten brauchen. Bis Ende des Jahres könnten nun etwa 20 Prozent der Bevölkerung abgedeckt werden.
Ebenfalls am Freitag hatte auch UN-Generalsekretär António Guterres an die Solidarität appelliert und eine gerechte weltweite Verteilung der Impfstoffe gegen das Coronavirus gefordert.
"Jetzt ist es wichtig, dass die Impfstoffe als globales öffentliches Gut betrachtet werden. Sie müssen überall und für alle Menschen zugänglich und bezahlbar sein. Ein Impfstoff, der den Menschen gehört", erklärte er in Berlin in einer Rede im Bundestag.
COVID-19 sei "nicht durch Nationalismus" zu bekämpfen, "sondern durch internationale Zusammenarbeit", ergänzte der UN-Generalsekretär.
Guterres forderte mehr Anstrengungen bei der Finanzierung der COVAX-Initiative, denn es bestehe eine Finanzierungslücke von über fünf Milliarden US-Dollar bis Ende Januar. Weitere 20 Milliarden Dollar fehlten, die für das Programm noch "erforderlich" seien.
Dass es um die "globale Solidarität" nicht allzu gut bestellt ist, bestätigte derweil auch eine Studie des Global Health Innovation Center der US-amerikanischen Duke University. Länder mit hohem Einkommen sowie einige Länder mit mittlerem Einkommen, die über Produktionskapazitäten verfügen, hätten sich demzufolge bereits knapp vier Milliarden Impfdosen gesichert, mit Optionen auf weitere fünf Milliarden.
"Das ehrgeizige Bemühen, ein globales System der Impfstoff-Gerechtigkeit zu schaffen, wird untergraben, da eine Handvoll Länder – einschließlich derer, die sich zur Chancengerechtigkeit verpflichtet haben – sich so viele Dosen wie möglich sichern", beschreibt die Studie.
Tatsächlich zeigten die Daten, heißt es weiter, dass mehrere COVAX-Unterzeichnerstaaten, darunter Großbritannien, die EU und Kanada, den Pakt effektiv aushöhlten, indem sie "Nebenabsprachen" für große Impfstofflieferungen aushandelten, die dazu führen, dass "für die gerechte globale Verteilung nur noch ein kleiner Teil des Kuchens zur Verfügung" stehe.
Um diesen Vorgängen Einhalt zu gebieten, forderten Menschenrechtsorganisationen und Länder wie Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) zuletzt, die geistigen Eigentumsrechte auf COVID-19-Impfstoffe und entsprechende Therapeutika während der Dauer der Pandemie auszusetzen. Dies würde es den Schwellenländern erlauben, anhand von Generika selbst zu produzieren, "bis eine weit verbreitete Impfung weltweit eingeführt ist und die Mehrheit der Weltbevölkerung eine Immunität entwickelt hat."
Längst haben sich weitere Entwicklungs- und Schwellenländer dem Antrag angeschlossen, darunter Kenia, Pakistan, Mosambik und Bolivien.
Gleichzeitig stößt der Vorstoß auf Widerstand und Kritik vor allem seitens der Pharmaindustrie. In einem kürzlich erschienenen Kommentar in der New York Times warnte ein Vertreter der Industrie, dass "die Bemühungen zukünftige medizinische Innovationen gefährden und uns anfälliger für andere Krankheiten machen" würden.
Die Gegenseite möchte dieses Argument nicht gelten lassen und verweist darauf, dass ein Großteil der Forschung öffentlich finanziert wurde oder von Wohltätigkeitsorganisationen kam.
Dennoch stellten sich die WTO-Delegationen der westlichen Staaten, darunter die USA, Kanada und die Europäische Union, laut Menschenrechtsorganisationen gegen die Forderung der Entwicklungs- und Schwellenländer. Laut Brook Baker, einem Spezialisten für geistiges Eigentumsrecht an der US-amerikanischen Northeastern University, handele es sich dabei um eine "unmoralische Entscheidung":
"Sie haben ihre (Impfstoffe) bekommen und wollen andere Länder daran hindern, ebenfalls versorgt zu werden."
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