Bisher konnte Deutschland noch jede Jahrhundertflut bezwingen
Betroffene sterben, verunglücken oder verlieren durch die Wassermassen, was ihnen lieb und teuer ist: Hochwasser ist für die Menschheit überall auf der Welt katastrophal. In der Bundesrepublik hat sich ein eigener Umgang mit Flutkatastrophen herausgebildet. Vergangene Hochwasser haben gezeigt: Hier sind Politiker und Bewohner oft über sich hinausgewachsen, haben gezeigt, dass sie im Ernstfall zusammenrücken und zusammenhalten.
Eine Sturmflut kann sogar für die Wahl der Bundesregierung ausschlaggebend sein. So ziehen die deutschen Politiker auch während der jetzigen Flut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Gummistiefel an und den Opfern werden schnelle Hilfszahlungen zugesagt. Wer für sein politisches Leben noch Pläne hat, der breche besser schnell seinen Urlaub ab und eile vor die Kameras.
Hochwasserkatastrophen sind aber auch für Deutschland in erster Linie wohl ein Stresstest. Hat man das Schlimmste geschafft, folgt die Schadensanalyse. Dann stellt man sich die Frage, wie man sich bei der nächsten Flut noch besser zur Wehr setzen kann. Es zeigt sich erst daran, ob und wie das Land noch funktioniert.
Die Sturmflut 1962: Als Hamburg im Wasser versank
In Küstennähe ist man Wind und Wetter gewöhnt. Doch die Sturmflut von 1962 überraschte selbst viele Bürger Hamburgs wortwörtlich im Schlaf. Der Orkan Vincinette näherte sich am 16. Februar der deutschen Nordseeküste mit Windstärke zwölf, Dank gebührt zumindest der Warnung des Deutschen Hydrographischen Instituts. Die Böen treffen auf Hamburg, die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk sind bereits im Ausnahmezustand.
Am Abend aber wird deutlich, dass Hamburgs Deichhöhe von 5,70 Meter überschritten werden kann. Sturmflutwarnungen für die Hansestadt gibt es dennoch nicht.
Durch den starken Wind steigt der Meeresspiegel und drückt das Wasser in die Elbe zurück. Feuerwehr und Wasserschutzpolizei versuchen, die bereits schlafenden Menschen in Elbnähe zu wecken. Aber weder eine koordinierte Warnung noch Evakuierungspläne für den Katastrophenfall gibt es. Provisorische Maßnahmen, um die Menschen zu warnen, wie etwa Sirenen, Warnschüsse oder sogar das Einschlagen von Fenstern zeigen kaum Wirkung.
Erst tief in der Nacht beginnt der Kommandeur der Schutzpolizei, den Zentralen Katastrophendienststab aufzubauen. Doch da liegt Hamburg zu großen Teilen bereits im Dunklen – und steht unter Wasser. Kraftwerke sind überflutet, ebenso Autobahnen und Eisenbahnstrecken, einfache Häuser werden gar mitgerissen. Die Menschen, vom Hochwasser geweckt, beginnen um ihr Überleben zu kämpfen.
Am frühen Morgen übernimmt Helmut Schmidt (SPD), damals noch Polizeisenator von Hamburg, das Kommando. Obwohl er verfassungsrechtlich hierzu nicht befugt ist, ruft er die Bundeswehr und sogar im Ausland NATO-Kräfte zu Hilfe. Hubschrauber starten trotz Flugverbots, das aufgrund des Orkans herrscht, und retten so hunderte Menschen von den Dächern der Häuser. Insgesamt koordiniert Schmidt 15.000 militärische und zivile Einsatzkräfte, später sind es über 25.000 Helfer. Auch die Hamburger packen mit an. Mit vereinten Kräften versorgt und verpflegt man die Obdachlosen in Notunterkünften mit Kleidung und Essen.
Am 19. Februar fließt das Wasser bereits ab. Das Schlimmste hat Hamburg hinter sich. Um den Vorgang zu beschleunigen, beschließt man, Lücken in die Deiche zu sprengen. Der Erste Bürgermeister Paul Nevermann verspricht Hilfszahlungen und den Bau eines neuen Deichsystems.
Eine Woche später läuten alle Kirchenglocken der Hansestadt. Rund 150.000 Menschen versammeln sich auf dem Hamburger Rathausmarkt und gedenken der 315 Toten, die das Hochwasser gefordert hat. Ohne den beherzten Eingriff des späteren Bundeskanzlers wären es womöglich mehr gewesen. Schmidts Rolle während Sturmflut ist mittlerweile legendär. Sein späterer gewohnt lapidarer Kommentar:
"Es waren lauter aufgeregte Hühner – und einer musste die Dinge in die Hand nehmen."
Das Weihnachtshochwasser 1993: von Koblenz bis in die Niederlande
Der November 1993 war recht regenarm. Unerwartet heftige Regenfälle führten jedoch im Dezember zu einer Flutwelle im Rhein. Nur wenige Tage vor Weihnachten steht den Menschen im Rheingebiet das Wasser plötzlich bis zum Hals. Von Baden-Württemberg bis Nordrhein-Westfalen kommt es zu schweren Gebäudeschäden. Tote gibt es zum Glück kaum.
In verschiedenen Städten müssen die Einwohner evakuiert werden. Der Schaden: ca. eine Milliarde Mark. Fast ein Viertel von Koblenz ist betroffen. In Köln litt besonders die Altstadt. Sogar der Schiffsverkehr auf dem Rhein wurde vollständig gestoppt.
Es reichte schon, dass es mehr als sonst regnete. Hinzu kam eine stürmische Wetterlage, und so konnte der längste Fluss Deutschlands weit über seine Ufer treten. Dass die Erinnerung an die Katastrophe noch wach ist, zeigt der Köllner Blog Verliebt in Köln. In ihrer Facebook-Gruppe fragten die Betreiber im letzten Jahr ihre Nutzer nach ihren Geschichten. Die blickten da noch mal wehmütig, mal vergnügt zurück.
"Mein Bruder hat damals mit der Freiwilligen Feuerwehr Volkhoven/Weiler in der Altstadt gestanden, und meine Mutter und ich haben hunderte Brötchen geschmiert, Kaffee gekocht und Suppe gemacht und sind in die Altstadt gefahren und haben die Jungs versorgt."
Den Moment, als das passierte, haben viele Schaulustige beobachtet:
"Wir waren in Rodenkirchen am damaligen Lüchbaum [Lügenbaum] und haben gesehen, wie der Rhein so langsam über die Schutzmauer schwappte."
Nicht jedes Hochwasser bedeutet aber gleich Gefahr für jedermanns Leib und Leben. Der Schaden, den das Wasser an Gebäuden hinterlässt, kann dennoch enorm sein. Umso ärgerlicher, wenn Gaffer auftauchen – und dabei sogar die lebensrettenden Anstrengungen von Einsatzkräften behindern, wie es in Köln leider vermehrt vorkam. Manch einer erkannte sogar die Gelegenheit für ein gieriges Schnäppchen:
"Ich kann mich dran erinnern, dass ich bei dem ersten Mal gesehen hab, dass irgendeiner 'Hochwasser' in Flaschen auf der Brücke verkauft hat."
Schon im Januar 1995 kam es in Köln zur nächsten Überschwemmung. Der Schaden in Köln betrug zwar nur halb so viel wie bei der letzten Flut. Die Stadt nahm aber beide Überschwemmungen in so dichter Folge zum Anlass, endlich ihr Schutzkonzept zu überarbeiten.
Über 400 Millionen Euro wurden sofort in den Hochwasserschutz investiert. Der sichert die Altstadt bis zu einer Marke von 11,30 Metern. Der Normalwasserstand des Rheins bei Köln liegt bei 3,21 Meter. Derzeit liegt der Rheinwasserstand bei 7,62 Meter, Tendenz derzeit noch steigend.
Das "Jahrhunderthochwasser" 2002: Katastrophe kürt Kanzler
Als die Elbe im August 2002 in Sachsen über die Ufer trat und ein paar Gummistiefel deutsche Geschichte schrieben, war er dabei: Georg Milbradt (CDU), damals sächsischer Regierungschef. Zusammen mit Gerhard Schröder (SPD) begutachtete er die Schäden, die die Fluten angerichtet hatten. In einem Interview erinnert er sich daran, wie anstrengend das Krisenmanagement war, aber auch, wie über Parteigrenzen hinweg alle zusammenarbeiteten:
"Ich habe kaum geschlafen. Es gab auch keine politischen Auseinandersetzungen, alle zogen mit. Es blieb aber auch keine Zeit für Schuldzuweisungen."
Innenminister Schily (SPD) kam aus Berlin angereist, um das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen. Am 14. August machte sich der Bundeskanzler persönlich ein Bild von der Lage. Schröders Garderobe, besonders seine Gummistiefel, sind bis heute in Erinnerung geblieben – und wurden zum Symbol seiner Souveränität.
Milbradt selbst will ihm zu dem Schuhwerk geraten haben:
"Ich empfahl ihm dringend, Gummistiefel anzuziehen. Schröder hielt sich daran, seine Begleiter und viele Reporter dagegen nicht. Die versanken mit ihren normalen Straßenschuhen im Muldeschlamm von Grimma."
Schröders Auftritt, aber auch sein Versprechen, schnell und unbürokratisch zu helfen, sorgten dafür, dass eine Popularität in der Bevölkerung spürbar zunahm. Das soll ihm sogar zu seiner zweiten Amtszeit verholfen haben. Das Wiederaufbauprogramm des Bundes kam Sachsen und den betroffenen Ländern zugute. Alle zeigten sich damals solidarisch, so Milbradt:
"Eine Ellbogengesellschaft habe ich nicht erlebt. Das fing von den Nachbarn an, die sich gegenseitig halfen, über die Feuerwehrkameraden im Dauereinsatz, die Polizei und die Hilfsorganisationen bis zu den vielen Helfern aus ganz Deutschland."
Sogar die Bundeswehr und der Bundesgrenzschutz hätten einen enormen Anteil an der schnellen Hilfe geleistet, denn damals sei die Bundeswehr noch an vielen Standorten in Sachsen sehr präsent gewesen – im Gegensatz zu heute. Milbradts größte Sorge sei damals aber gewesen, dass die Wirtschaft einbreche. Doch auch in der Wirtschaft zeigte man sich solidarisch. Die Rolle der Medien war sogar vorbildlich:
"Auch die Medien spielten eine gute Rolle und verzichteten auf Sensationsgier. Durch ihre verantwortungsvolle Berichterstattung wurde die Spendenbereitschaft bundesweit deutlich verstärkt."
Die Flut habe sogar ihre positiven Seiten gehabt. So habe sie für einen Wachstums- und Modernisierungsschub gesorgt. Wie bereits in Hamburg und Köln überarbeitete man auch in Sachsen den Hochwasserschutz: Mit der Erneuerung und Verlegung von Dämmen, der Schaffung von Ausweichflüssen und neuen Rückhaltebecken im Gebirge, der Verbesserung der Notfall-Koordination und der Prognosesysteme, der Beschleunigung von Meldeketten und der Anpassung der Evakuierungspläne.
Umweltkatastrophen kann man vorbeugen. Es sei aber ein Irrglaube des modernen Menschen, mit dem technischen Fortschritt die Natur absolut in den Griff zu bekommen, so Milbradt. Das hätten schon unsere Vorfahren gewusst:
"Schauen Sie sich an, wo im Mittelalter Kirchen gebaut wurden: Die standen 2002 oft nicht unter Wasser, unsere Vorfahren wussten also, was auf sie zukommen konnte. Nein, der Mensch ist auch heute weiter ein Teil der Natur und nicht ihr Herrscher."
Große Flutereignisse, wie das im Jahre 2002, seien zwar selten, aber in der Natur etwas Normales.
Hochwasserkatastrophe 2021: "extraordinäre Wetterereignisse"
Der Schaden kann noch nicht ermessen werden, die Zahl der Toten steigt noch immer. Doch auch dieses Hochwasser wird man in Deutschland bezwingen – so wie die vielen früheren auch. Folgt man Milbradts Meinung, so ist ein Hochwasser tragisch, der Mensch kann aber den Schaden lediglich begrenzen – und daraus lernen.
Heute scheinen nicht mehr viele die Ansicht Milbradts zu teilen, wie Reaktionen auf das immer noch andauernde Hochwasser im Westen Deutschlands zeigen. So sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) während ihres USA-Aufenthalts zwar umgehend Unterstützung zu, lenkte das Thema aber auf den Klimawandel:
"Die Zahl von extraordinären Wetterereignissen hat dramatisch zugenommen."
Auch ihr Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, dass die Überschwemmungen mit dem fortschreitenden Klimawandel zu tun hätten, ebenso Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Der forderte weltweit mehr Tempo beim Klimaschutz.
Natürlich wurde schon in der Vergangenheit mit Hochwasser Politik gemacht. Jeder Politiker, der zum Ort der Katastrophe eilt und wie Schröder die Gummistiefel überzieht, arbeitet damit auch an der eigenen Wiederwahl. Neu ist, dass hochrangige Politiker die Katastrophe sofort in Verbindung mit dem menschengemachten Klimawandel als ein globales Problem darstellen.
Der Umgang Deutschlands mit vergangenen Fluten war dagegen entschlossen, hernach umgehend den Katastrophenschutz auszubauen, die Baupolitik anzupassen, für größere Uferflächen und gesunde Böden zu sorgen, in die das Wasser abfließen kann, den die Deiche um die nötigen Meter zu erhöhen. Der "Krieg gegen das Klima" wäre früher sinnlos erschienen, auf einen Sieg gegen die Natur zu hoffen – töricht.
Oder kann man grünen Strom zu einem Deich aufschütten? Wird die Flut erst einen Diesel, dann einen Benziner mit sich reißen und das Elektroauto stehen lassen? Solange der Mutter Natur menschliche Barrieren egal sind, solange wird es auch Hochwasser geben. Klüger ist es vorzubeugen.
Hierzu rät auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK). In einem Interview mit der Deutschen Welle kritisierte der Generalsekretär des DRK Christian Reuter, dass die Bundesvorhaltung vor Jahrzehnten abgeschafft wurde. Dabei handelte es sich um zehn zentrale Standorte, die für den Katastrophenfall umfangreich Materialien und Hilfsgüter wie Zelte, Decken und Vorräte bereithielten. Im Zuge einer Euphorie über die Friedensdividende Ende der 1990-er Jahre seien die Vorräte aber abgeschafft worden. Bisher sei der Bau erst eines solchen Standorts wieder genehmigt worden. Dabei halte die Welt laut Reuter immer mehr Herausforderungen bereit:
"Wir müssen uns besser auf schlechte Zeiten vorbereiten."
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