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Kiew: Geheimdienst ermittelt gegen Beteiligte am Pachtvertrag für russische Marinehäfen auf der Krim

Der SBU hat ein Vorermittlungsverfahren wegen Staatsverrats eröffnet. Anlass sind Vorbereitung und Ratifizierung des Charkow-Abkommens vom 21.4.2010 über die Fortführung der Verpachtung von Marinestützpunkten auf der Krim an Russland durch das Parlament des Landes.
Kiew: Geheimdienst ermittelt gegen Beteiligte am Pachtvertrag für russische Marinehäfen auf der KrimQuelle: AFP © SERGEI SUPINSKY / AFP

Der SBU plant, auf Anweisung des RNBO(U) (Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine) die damaligen Abgeordneten der Werchowna Rada zu verhören: Man will feststellen, welche Rolle das Charkow-Übereinkommen von 2010 bei der "Annexion" der Krim gespielt hätte. Dieses Abkommen sah die Verlängerung der Stationierung und Wartung der russischen Flotte in Sewastopol bis zum Jahr 2042 vor.

Im Gegenzug gewährte Russland der Ukraine einen Rabatt auf Erdgaslieferungen über Pipelines. Experten sind der Ansicht, dass die Vereinbarung zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine für beide Seiten vorteilhaft war und die Ereignisse des Jahres 2014 in keiner Weise beeinflusst hat. Analytiker bieten daher für das Einleiten von Strafermittlungsverfahren zweierlei Erklärungen: Einmal wäre da ein Wunsch Selenskijs, im Kampf um den russlandfeindlich eingestellten Teil der Wählerschaft größere Zustimmung zu gewinnen. Ferner sollen zusätzliche Druckmittel gegen Befürworter einer möglichen Wiederannäherung an Russland aufgebaut werden.

Die Hauptuntersuchungsdirektion des SBU leitete laut eigener Bekanntgabe zunächst die Voruntersuchung wegen Hochverrats im Zeitraum der Jahre von 2008 bis 2010 ein. Insbesondere planen die SBU-Beamten, die Umstände der Vorbereitung, Unterzeichnung und Ratifizierung des sogenannten Charkower Abkommens vom Jahre 2010 zu untersuchen, wonach der Aufenthalt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim bis zum Jahre 2042 verlängert wurde. Die Folgen dieser Vereinbarung, so der ukrainische Inlandsgeheimdienst, sollen Moskau geholfen haben, die Halbinsel im Jahr 2014 zu "annektieren".

"Nach den vorläufigen Daten der Untersuchung führte die Unterzeichnung dieses Dokuments zu einer Erhöhung der Personalzahl der militärischen Formationen und Geheimdienste der Russischen Föderation, die an der Annexion des Territoriums der AR (Anm.: Autonome Republik) Krim beteiligt waren", erklärte der SBU auf seiner Internetpräsenz.

"Die Zerstörung des gesamten Systems unserer Sicherheit"

Die Klärung der Umstände um den Abschluss der Vereinbarung von Charkow begann der SBU nach einer entsprechenden Anordnung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine.

"Es gibt eine separate Anweisung an den SBU, zu klären, wie diese 236 Abgeordneten in dieser Frage (Anm.: Frage der Ratifizierung der Vereinbarung von Charkow) abstimmten. Wenn der SBU es für notwendig hält, muss er [ein Verfahren] nach Artikel 111 des Strafgesetzbuches (Anm.: Hochverrat) gegen die betreffenden Personen eröffnen", kündigte der Sekretär dieser Behörde, Alexei Danilow, auf einer RNBO(U)-Sitzung an.

Der Beamte befindet, das Inkrafttreten der Vereinbarungen von Charkow wäre der "erste Stein" gewesen, mit dem die "Zerstörung des gesamten Sicherheitssystems" begann. Laut Danilow hatte "die Kette des Verrats nicht im Jahr 2014, sondern im Jahr 2010" ihren Anfang genommen.

Er erklärte, dass die Ratifizierung des Vertrages mit Moskau die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates vom Jahr 2008 außer Kraft gesetzt habe, gemäß denen Russlands Pachtvertrag für den Stützpunkt in Sewastopol 2017 ausgelaufen wäre.

"Ohne die Unterstützung der Volksvertreter, die mit ihrer Stimmabgabe die Vereinbarungen von Charkow ratifizierten und damit effektiv die Tür für eine militärische Invasion öffneten, hätten ein Versuch der Annexion der Krim und die vorübergehende Besetzung bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Lugansk nicht stattfinden können", mutmaßte Danilow.

Zur Erinnerung: Das Abkommen über die Verlängerung der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim wurde am 21. April 2010 in Charkow im Ergebnis der Verhandlungen zwischen den damaligen Präsidenten der Ukraine (Viktor Janukowitsch) und Russlands (Dmitri Medwedew) unterzeichnet.

Im Rahmen dieser Vereinbarungen erhielt Kiew im Gegenzug für die Verlängerung des Pachtvertrags über den Marinestützpunkt Sewastopol und andere Marineeinrichtungen einen Rabatt von satten 30 Prozent auf russisches Erdgas, das an die Republik per Pipeline geliefert wurde (jedoch nicht mehr als 100 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter), und zwar ebenfalls für 25 Jahre.

Nach Ansicht von Janukowitsch und seinen Anhängern trugen die Vereinbarungen von Charkow zur Stabilisierung der russisch-ukrainischen Beziehungen bei, die zuvor während der Präsidentschaft von Viktor Juschtschenko mehrere Krisen durchliefen.

Ähnliche Ansichten über die Vereinbarungen wurden auch im Kreml vertreten. Im Mai 2010, am Vorabend seines offiziellen Besuchs in Kiew, bezeichnete Dmitri Medwedew in einem Interview mit ukrainischen Fernsehsendern die Charkower Vereinbarungen als "ausgewogen und nützlich" sowie "für beide Seiten vorteilhaft".

Dennoch wurde das Abkommen zwischen Russland und der Ukraine von den politischen Kräften unter Kontrolle von Juschtschenko und Julia Timoschenko vehement abgelehnt. Die Opposition warf Janukowitsch vor, die Interessen des Landes zu verraten – und provozierte ein Handgemenge in der Werchowna Rada während der Abstimmung über die Ratifizierung des Abkommens mit Russland.

Auch von RT befragte weitere Experten vertreten die Ansicht, dass die Vereinbarungen von Charkow wirklich für beide Seiten von Vorteil waren und auch keinerlei Einfluss auf die Ereignisse des "Krim-Frühlings" hatten.

So erinnerte Wladimir Olentschenko, ein leitender Forscher am Zentrum für Europäische Studien des Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, in einem Interview mit RT daran, dass die Halbinsel ausschließlich nach dem Willensausdruck der großen Mehrheit ihrer Bewohner wieder Teil der Russischen Föderation wurde.

"Die Logik Danilows und des SBU steht in keinerlei Verhältnis mit der Realität. Die Krim trennte sich von der Ukraine ab, weil die Bevölkerung dies wünschte. Russland seinerseits reagierte auf ihre Anfrage."

In einem Gespräch mit RT betonte der ukrainische Politologe Alexander Semtschenko:

"Der RNBO(U) und der SBU verzerren absichtlich die Lage. Sie wollen weder die wahren Gründe für den Verlust der Krim herausfinden noch diejenigen bestrafen, die wirklich dafür verantwortlich sind. Schließlich sind das in erster Linie die Leute, die den Staatsstreich durchführten."

Ferner erinnerte Semtschenko daran, dass die Vereinbarungen von Charkow nichts mit dem Verlust der Krim für die Ukraine zu tun hatten. Denn – so argumentiert er – der Pachtvertrag über den Marinestützpunkt Sewastopol an die russische Schwarzmeerflotte wäre ohnehin erst im Jahr 2017 und damit lange nach dem "Krim-Frühling" ausgelaufen.

Infolge des Beitritts der Krim zu Russland kündigte Russlands Präsident Wladimir Putin am 2. April 2014 das Charkow-Abkommen und andere Verträge, welche die Bedingungen für den Aufenthalt der Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel festlegten.

Es wird erwartet, dass der SBU in naher Zukunft jeden damaligen Abgeordneten der Werchowna Rada verhören wird, der für die Ratifizierung der Charkower Vereinbarungen stimmte.

Verfassungswidrige Repressionen gegen Befürworter einer Wiederannäherung an Russland

Der russische Forscher Olentschenko sieht das Verfahren als problematisch – vor allem auch, weil es rechtswidrig ist:

"Das ist kein sehr kluger Schachzug seitens der ukrainischen Behörden. Es sind mehr als zehn Jahre vergangen, und es ergibt überhaupt keinen Sinn mehr, eine Klärung durchzuführen. […]Nach der Logik der derzeitigen ukrainischen Behörden könnte Bogdan Chmelnizki, der auf den russischen Zaren einen Eid schwor, durchaus strafrechtlich verfolgt werden. […]Außerdem widerspricht dieses Vorgehen des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und des Sicherheitsdienstes der Ukraine der Verfassung der Ukraine, die eine strafrechtliche Verfolgung von Abgeordneten, auch ehemaligen, für ihre Tätigkeit in der Rada verbietet."

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Unter den ehemaligen Abgeordneten, die den Ermittlern Rede und Antwort stehen sollen, finden sich Menschen entweder von hohem Einfluss oder zumindest von hoher politischer Bekanntheit: neben AndreiDerkatsch und Igor Paliza (beide aktuell ebenfalls Rada-Abgeordnete) auch die Oligarchen Rinat Achmetow und Wassili Chmelnizki. Auch wegen der politischen Brisanz, die einer – zumal verfassungswidrigen – Strafverfolgung dieser politischen Prominenz innewohnt, wäre Olentschenkos Wertung zuzustimmen.

Indes ist es möglich, dass es bei der Ermittlung nicht einmal ausschließlich um die ehemaligen und aktuellen Rada-Abgeordneten geht: Analytiker wähnen im Visier des SBU erst recht auch den Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch, den ehemaligen Premierminister Nikolai Asarow und Mitglieder von dessen Kabinett, die an der Vorbereitung der Charkower Vereinbarungen unmittelbar beteiligt waren; darüber hinaus könnte die Untersuchung wegen Staatsverrats den ersten stellvertretenden Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Ruslan Demtschenko, betreffen, der 2010 als stellvertretender Außenminister der Ukraine fungierte. Olentschenko befürchtet:

"In der aktuellen Situation, so scheint es mir, wird dieser Fall zu einem Instrument des Drucks auf diejenigen, die es wagen, für die Normalisierung der Beziehungen mit Moskau zu sprechen."

Gespielter Aktionismus als Wahlkampfmethode

Gänzlich anderer Ansicht ist hingegen Alexander Semtschenko. Es sei unwahrscheinlich, so der ukrainische Politologe, dass das Strafverfahren überhaupt irgendeine Gruppe von Personen tatsächlich treffen wird, egal ob Janukowitschs Regierung, den Oligarchen Achmetow, ehemalige oder derzeitige Abgeordnete der Werchowna Rada:

"Achmetow hat viele Schwachstellen, gegen die man einen Schlag führen könnte, doch damit wird Selenskij sich nicht befassen. Im Gegenteil, zu diesem Geschäftsmann hat er ein sehr gutes Verhältnis. Was Janukowitsch betrifft, so ist er schon lange keine bedeutende Figur in der ukrainischen Politik mehr."

Er stellt das SBU-Strafermittlungsverfahren in die Nähe einer für die heutige Ukraine überhaupt typischen "banalen Simulation reger Tätigkeit" seitens des Präsidialamtes und des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates zum "Schutz der Interessen der Ukraine". Laut Semtschenko versucht Selenskij nun, seine Umfragewerte aufzubessern und dafür zwischen Poroschenko, der im Jahr 2010 den Abschluss der Charkower Vereinbarungen unterstützte, und dessen Wählerschaft mittels russlandfeindlicher Parolen und Aufführungen einen Keil zu treiben, um schließlich einige dieser Wähler des Ex-Präsidenten auf seine Seite zu ziehen:

"Selenskij baut sich als Patriot auf, als eine starke Führungspersönlichkeit im Kampf für die Interessen des Landes. Deshalb verspricht er ständig, dass er alle "Kränker" der Ukraine unbedingt bestrafen werde. Doch in Wirklichkeit tut der Präsident nichts gegen diejenigen, die wirklich den Staat ruinieren."

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