Nahost

Die Schlacht um Idlib war eine tickende Zeitbombe: Das Scheitern der europäischen Nahostpolitik

Bevor die Kämpfe um die Provinz Idlib wieder aufflammten, haben Russland und die Türkei unter dem Einschluss der syrischen Opposition jahrelange Gespräche geführt. Auch Deutschland und Frankreich waren an diplomatischen Bemühungen beteiligt. Ein RT-Rückblick.
Die Schlacht um Idlib war eine tickende Zeitbombe: Das Scheitern der europäischen NahostpolitikQuelle: Reuters © Globallookpress, Sputnik, RT bearbeitet

Derzeit werden große Teile des deutschen politischen Establishments von der Empörungswelle über den "Eroberungszug" (Norbert Röttgen) der Assad-Truppen gegen die regierungsfeindlichen radikalen Kräfte in der abtrünnigen syrischen Provinz Idlib erfasst. Die Schuld für das Leid der Zivilisten wird dabei Russland zugeschrieben, das die Regierungskräfte unterstützt. Zuweilen werden sogar zusätzliche Syrien-Sanktionen gegen Russland gefordert

Andererseits wird konstatiert, dass das sogenannte Sotschi-Memorandum vom 18. September 2018 zwischen Russland und der Türkei "keine tragfähige Lösung war", wie die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer es zuletzt sagte. Von ihr wird es wieder zum Anlass genommen, "ein verstärktes Engagement der Europäer in der Region" zu fordern. 

Doch dieses Unbehagen ist ein durchschaubares Ablenkungsmanöver. Es wird geflissentlich "übersehen", dass die Europäer sich sehr wohl in der Region "engagierten", und zwar in Form der harten antisyrischen Sanktionen und sowohl diplomatischer als auch geheimdienstlicher Unterstützung verschiedener bewaffneter Einheiten, die seit 2011 gegen die syrische Regierung kämpften. 

Erst später, im Oktober 2018, stiegen Angela Merkel und Emmanuel Macron in den Prozess der syrischen Regulierung ein, just zu dem Zeitpunkt, als die Regierungstruppen dabei waren, verschiedene Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Dabei hat Russland bereits im Jahr 2017 die sogenannten Astana-Gespräche zur innersyrischen Verständigung ins Leben gerufen und den Kongress des Nationalen Dialogs mit 1.500 Vertretern der syrischen Gesellschaft auf seinem Territorium organisiert. 

Bei dem diplomatischen Vorstoß des Vierer-Gipfels zwischen Putin, Macron, Merkel und Erdoğan ging es darum, den in Astana bereits angestoßenen politischen Prozess zur syrischen Verfassungsänderung weiterzuentwickeln und die gewaltsame Rückeroberung der letzten Hochburg der Rebellen, die Provinz Idlib, durch eine diplomatische Lösung zu ersetzen. 

Doch fehlte es letzten Endes an politischem Willen und der Bereitschaft, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad als legitime politische Kraft zu akzeptieren – sowohl in Ankara als auch in europäischen Hauptstädten. Die jetzige Eskalation in Idlib ist damit nichts anderes als ein Scheitern der europäischen Nahost-Politik. RT Deutsch hat sowohl die politische als auch die militärische Entwicklung im Syrien-Konflikt in seiner Berichterstattung dokumentiert.

Unsere Artikel lesen sich dabei als Zeitdokumente, die die gesamte Komplexität und auch Tragik dieses Bürgerkrieges, der gleichzeitig auch ein Proxykrieg regionaler Mächte ist, abbilden. Die türkische Politik gegenüber der sunnitisch geprägten syrischen Provinz wird dabei im Fokus stehen. Es folgt ein Rückblick über die Auszüge aus den Artikeln der letzten zwei Jahre:

11. Februar 2018

Kongress des Nationalen Dialogs: Boykott aus Genf und Logik des Bürgerkrieges

Am 30. Januar hat der Kongress des Nationalen Dialogs zu Syrien in der russischen Kurstadt Sotschi seine Arbeit beendet. Die Delegierten verschiedener politischer Gruppen, die Regierung, die Opposition und diejenigen, die vor allem sich selbst vertraten, erzielten einen wichtigen Konsens – über die Errichtung einer Verfassungsreformkommission, die das Grundgesetz Syriens entweder abändern oder vollständig neu schreiben soll. Wenn man diesen Erfolg des Kongresses in Sotschi würdigt, muss man gleichzeitig die ernsthaften Probleme einräumen, die den Reformern ihre Arbeit erschweren. Von einer umfassenden Beilegung des mittlerweile siebenjährigen Konflikts ganz zu schweigen.

Nach dem Treffen in Sotschi sagte Sergei Lawrentjew, der Vertreter des russischen Präsidenten, dass die Ergebnisse des Kongresses nach Genf übertragen werden sollen, wo der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura eine Verfassungskommission bilden soll. Das Hauptproblem dieser diplomatischen Lösung ist die Kombination des sogenannten Astana-Sotschi-Formats mit Genf. Man muss daran erinnern, dass das HNC (High Negotiations Committee) von der Schweiz aus den Kongress in Sotschi boykottiert hatte. Zudem kamen 100 Vertreter der FSA (Freie Syrische Armee) nicht aus dem Flugzeug und flogen zurück in die Türkei.

Bei allen Wünschen schaffen die Syrer es nicht, einen Modus vivendi miteinander abzumachen. Auf dem Territorium Syriens, wo Dschamil (Qadri Dschamil, Vertreter der gemäßigten Opposition, der sogenannten Moskauer Plattform - Anm. der Red.) vorschlug, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen und dem Krieg ein Ende zu setzen, wird nach wie vor alles mit Gewalt entschieden. Wer besser kämpft, erweist sich als der "Richtige" und ist weniger bereit für Zugeständnisse. Am Rande des Treffens in Sotschi sagte mir einer der Assad-nahen Journalisten, dass der syrische Präsident nach den militärischen Erfolgen in Aleppo, Palmyra, Deir ez-Zor und teilweise in Idlib weniger kompromissbereit sei als noch vor einem Jahr. Noch weniger dazu bereit wären die im Krieg verletzten Generäle, die viele ihrer Kameraden verloren haben. Unabhängig davon, wie die Verfassung am Ende zurechtgezerrt wird, ist es kaum möglich, über die Schlüsselfrage "Zukunft von Assad" ohne Druck von außen zu verhandeln. Die pro-türkische Freie Syrische Armee (FSA) und das pro-saudische und von den USA und der EU unterstützte High Negotiations Committee (HNC) fordern immer noch den Rücktritt von Assad.

2. September 2018:

Ringen um Idlib: Kein Rückzug für Türkei und Terroristen

Russland arbeitet an diplomatischen Kanälen mit der Türkei und setzt auf das Minimalziel – die Beseitigung von Terroristen der "Haiʾat Tahrir asch-Scham" (HTS), der ehemaligen al-Nusra-Front.

Deshalb sind jetzt alle Augen auf Ankara gerichtet. Die Bedenken der Türkei, deren Außenminister Moskau gewarnt hat, dass die Beginn einer Militäroperation in Idlib eine "Katastrophe" wäre, sind durchaus nachvollziehbar. Eine weitere Million Flüchtlinge zusätzlich zu den bereits drei Millionen Flüchtlingen im Land wäre eine untragbare Last für das türkische Innen- und Wirtschaftsministerium. Der Verlust von Idlib ist auch mit geopolitischen Risiken verbunden, weil die durch zwei Militäroperationen – "Schutzschild Euphrat" und "Olivenzweig" – gewonnenen strategischen Vorteile de facto annulliert würden. Idlib – ein Haus in den Händen der Türkei, die das schwächste Glied der Troika (Russland, die USA und die Türkei) in Syrien ist. Dass Idlib für die Türkei von höchster Priorität ist, bestätigen auch weitere Aussagen Çavuşoğlus, der klargestellt hat, dass eine Offensive "das Vertrauen zwischen Russland und der Türkei erschüttern würde". Somit deutete er ein mögliches Ende der Astana-Allianz mit Russland und dem Iran hingewiesen.

Wird die Türkei in der Lage sein, HTS zu "neutralisieren"? Wenn ja, hätte Erdoğan bessere Argumente gegenüber Putin, um die Operation in Idlib zu verzögern. Aber das Problem liegt darin, dass HTS sich weigert, zu verhandeln, aber gleichzeitig keinen Rückzugsweg hat. Idlib ist die letzte Hochburg. Es bleibt nur die Auflösung – und dies würde für sie eine endgültige Niederlage im Bürgerkrieg bedeuten. Angesichts der Haltung von HTS bliebe eine militärische Eskalation sowohl für Russland als auch für die Türkei die einzige Lösung.

15. September 2018:

Türkei will Idlib auf jeden Fall für sich beanspruchen

Dutzende Kriegsgeräte, darunter auch Panzer, wurden an die syrische Grenze verlegt. Die Zahl der Truppen an den zwölf Kontrollpunkten in Idlib steigt weiter. Ankara erhöht nicht nur seine Präsenz, sondern lässt auch im benachbarten Tall Rifaat die Muskeln spielen, wo ebenfalls die russische Militärpolizei stationiert ist. Am 13. September bombardierte die türkische Luftwaffe Positionen der kurdischen YPG. Vor ein paar Tagen zitierte die Agentur Reuters einen hohen Beamten in Ankara, der erklärte, dass Assads Angriff auf Idlib als Angriff auf die Türkei betrachtet werden würde.

Trotz des Muskelspiels könnten Ankara und Moskau in letzter Minute doch eine taktische Lösung finden. Die Offensive würde sich ausschließlich auf die Positionen von HTS und die des IS beschränken, die der türkische Geheimdienst noch aufklären solle. Obwohl diese Aufgabe in der gegenwärtigen Situation sehr schwer realisierbar zu sein scheint. Denn auch wenn dieser Deal erreicht werden sollte, könnte nur von einem vorübergehenden Abkommen die Rede sein. Nachdem Assad die Terroristen vernichtet hat, wird er früher oder später den Rest von Idlib beanspruchen.

Die Schlacht um Idlib wird wahrscheinlich die größte in der Geschichte Syriens sein.

17. September 2018

Sotschi-Memorandum wird vereinbart: Türkei verpflichtet sich

"Die Terroristen versuchen, den Waffenstillstand zu untergraben. Darüber hinaus führen sie verschiedene Provokationen durch, auch mit chemischen Waffen", sagte Putin am 7. September vor Journalisten. Er stellte auch fest, dass die Terroristen von Idlib aus zahlreiche Angriffe gegen russische und syrische Truppen sowie Zivilisten gestartet hatten.

Die Türkei besteht darauf, dass Terroristen von der "gemäßigten Opposition" in der Region getrennt werden sollten, schwört aber, mit allen Nationen bei der Terrorismusbekämpfung zusammenzuarbeiten. "Wir kämpfen gegen alle Terrorgruppen. Ähnlich kämpfen wir gegen den Terrorismus in Idlib", sagte Erdoğan.

27. Oktober 2018:

Vierer-Gipfel in Istanbul: Der Weg zur Verfassung festgelegt, "radikale Elemente" sollen verschwinden

Moskau rechne damit, dass die Türkei so schnell wie möglich den Abzug der Opposition, schwerer Waffen und Waffeneinheiten aus der Deeskalationszone in der syrischen Provinz Idlib gewähren würde.

Russland behalte sich das Recht vor, die syrischen Regierungskräfte bei der Vernichtung einer möglichen Terrorbedrohung aus Idlib zu unterstützen, falls "radikale Elemente" bewaffnete Provokationen von der Deeskalationszone aus Unternehmen würden.

Russland behält sich das Recht vor, den entschlossenen Handlungen der syrischen Regierung zur Liquidierung dieser Herde der Terrorbedrohung eine aktive Unterstützung zu gewähren", so Putin.

Der Präsident schlug seinen Verhandlungspartnern vor, Russlands Initiative zur Einberufung einer internationalen Konferenz zu unterstützen, die sich mit den Problemen der syrischen Flüchtlinge auseinandersetzten soll.

Der gemeinsamen Abschlusserklärung zufolge soll das Komitee in Genf zusammentreten, wie die staatliche türkische Agentur Anadolu meldete. Der Ausschuss soll eine neue Verfassung ausarbeiten und so den seit mehr seit sieben Jahren tobenden Bürgerkrieg beenden.

Alle Seiten sollen das Komitee als legitim anerkennen. Erst dann werde diese Struktur effektiv. An der Arbeit zur Bildung des Komitees werde Russland als Garant der Verhandlungen in der Hauptstadt Kasachstans Astana "aktiv teilnehmen". Putin betonte, dass das syrische Volk selbst über das Schicksal seines Landes entscheiden solle.

"Unsere prinzipielle Position besteht darin, dass das syrische Volk das Schicksal seines eigenen Landes selbst bestimmen muss, darunter auch die Wahl der Personalien auf der politischen Bühne", sagte Putin. Dafür brauche das Land bestimmte Bedingungen, zu denen auch die Gründung des Verfassungsausschusses und der Beginn seiner Arbeit gehörten.

25. August 2019

Syrische Armee überquert die Grenze zur Provinz Idlib

Laut einer militärischen Quelle in Hama hat die Syrisch-Arabische Armee (SAA) am Freitag die Kontrolle über die letzten fünf Städte übernommen, die in der Umgebung der Stadt Chan Schaichun im Süden der Provinz Idlib noch unter der Kontrolle von Haiʾat Tahrir asch-Scham und Dschaisch al-Issa standen: Kafr Zita, Latamina, Latmin, Morek und Lahaya.

Die syrische Armee hatte in dieser Woche einen großen Durchbruch im Süden Idlibs erzielt, als dschihadistische Rebellen mehrere Gebiete verließen, darunter die strategisch bedeutende Stadt Chan Schaichun, die an der Schnellstraße M5 liegt. Diese verbindet Damaskus mit Homs, Hama und Aleppo. Die Kontrolle über diese Straße konnten Regierungstruppen am Freitag erweitern.

Das syrische Außenministerium hatte am Donnerstag angekündigt, dass es einen "humanitären Korridor" für Zivilisten aus den Gebieten öffnet.

Der Fortschritt geht in rasantem Tempo weiter, da die Armee beabsichtigt, das gesamte Gebiet Syriens vom Schmutz der Terroristen und ihrer Gönner zu befreien", hieß es in einer Erklärung des Generalstabs, die der staatliche Sender Ichbarija ausstrahlte.

15. Februar 2020

Ankara hat den Kernpunkt seiner Verpflichtungen nicht eingehalten

Das rasche Vorrücken der syrischen Armee verursachte eine starke negative Reaktion unter den westlichen Mächten, die nicht daran interessiert waren, die Terroristenhochburg Idlib als Zentrum der Instabilität Syriens beseitigen zu lassen. Ebenso wenig war die Türkei daran interessiert. Die Türkei befürchtet, dass die Hauptmasse der Terroristen in die Türkei flüchtet und dort wiederum zu einem Sicherheitsrisiko wird, kann aber andererseits auch nicht die Kräfte bekämpfen, die es über Jahre unterstützte.

So wurde Ankara zu einem offiziellen Teilnehmer des Astana-Formats und staatlicher Garant des Deeskalationsabkommens von Idlib. Das Problem ist, dass Ankara den Kernpunkt der Astana-Vereinbarungen nicht eingehalten hat – es hat die von der Türkei unterstützten "gemäßigten Rebellen" nicht von den Al-Qaida-gebundenen Terroristen getrennt, die vom Waffenstillstandsregime ausgeschlossen sind. Jeder derartige Versuch wird unweigerlich offenbaren, dass Terroristen über 80 Prozent des von der Opposition gehaltenen Teils der Region Idlib kontrollieren.

Ankara wird offiziell bestätigen müssen, dass die Operation der syrischen Armee gegen sie im Rahmen der Astana-Abkommen erfolgt. Dies ist für die türkische Führung aber nicht akzeptabel, und sie setzt seit langem eine Vielzahl militärischer und diplomatischer Maßnahmen ein, um die Regierung Assad daran zu hindern, den Nordwesten Syriens wieder einzunehmen und den eigenen Einfluss in den Gebieten, in denen türkische Streitkräfte präsent sind, zu festigen. Im Rahmen des Entmilitarisierungsabkommens (September 2018) richtete die türkische Armee auch zwölf Beobachterposten ein, die angeblich den Waffenstillstand überwachen sollten. Präsident Erdoğan dachte wahrscheinlich, dass er mit diesem Schritt die gesamte Region Idlib für eigene geopolitische Ziele beanspruchen könnte.

20. Februar 2020

Kurz vor der Eskalation

Die Türkei eilt ihren Verbündeten (terroristischen Gruppierungen - Anm. der Red.) zu Hilfe und droht offen mit einer Invasion, sollte die syrische Armee sich nicht wieder zurückziehen. Der Krieg in Syrien steht somit entweder kurz vor dem Ende. Oder aber kurz vor der größtmöglichen Eskalation.

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