Meinung

Erdoğan und Putin entscheiden über das Schicksal von Idlib - EU und USA im Abseits

Am 7. September sollte unter dem Vorsitz des türkischen Präsidenten Erdoğan in Istanbul ein Gipfel zu Syrien stattfinden. Wenige Tage vor dem Treffen, zu dem die Vertreter Russlands, Deutschlands und Frankreichs eingeladen wurden, ist die Situation angespannt.
Erdoğan und Putin entscheiden über das Schicksal von Idlib - EU und USA im AbseitsQuelle: Reuters © Sputnik Photo Agency

von Dr. Kamran Gasanov

Die deutsche Regierung kündigte in Person von Steffen Seibert an, dass es zu früh sei, die Frage der Wiederherstellung von Syrien mit der europäischen Finanzierung zu diskutieren, solange kein politischer Prozess begonnen habe. In Paris wurde auch der Gipfel wegen fehlender politischer Reformen und Garantien für einen Waffenstillstand in Frage gestellt. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu warnt seinen russischer Kollege Sergei Lawrow vor einen Offensive gegen die letzte Hochburg der Opposition - Idlib. Etwas früher sagten Lawrows Stellvertreter Sergej Bogdanow und der Pressesprecher des russischen Präsidenten Dmitrij Peskow, das Treffen sei nicht abgestimmt. Unabhängig davon, ob der Gipfel tatsächlich stattfindet, ist das Verhältnis im EU-Türkei-Russland-Format für die Zukunft Idlibs und der restlichen Teile Syriens entscheidend.

Russland agiert als Unterhändler derjenigen Kräfte, die die komplette Kontrolle von Damaskus über die Provinz einfordern – d.h. Assads, des Iran, der schiitischen Milizen und der Hisbollah. Die Ansammlung von Truppen an den südlichen Grenzen von Idlib, die Treffen der Leiter der Verteidigungsministerien und Geheimdienste der Türkei und Russlands, Assads Aussagen und die Vorbereitung von "chemischen Provokationen" (worüber das russische Militär informierte) - all das spricht für einen bevorstehenden Angriff auf Idlib durch die syrischen Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Russland arbeitet an diplomatischen Kanäle mit der Türkei und setzt auf das Minimalziel - die Beseitigung von Terroristen der "Haiat Tahrir asch-Scham" (HTS), der ehemaligen al-Nusra-Front. Die Militanten, die sich in der Nähe der russischen Militärbasis in Latakia befinden, bleiben nach wie vor eine Quelle von Bedrohung. Gleichzetig stellte Lawrow beim Treffen mit Çavuşoğlu fest, dass "es auch eine bewaffnete Opposition gibt, die daran interessiert ist, an den Siedlungsprozessen teilzunehmen".

Deshalb sind jetzt alle Augen auf Ankara gerichtet. Die Bedenken der Türkei, deren Außenminister Moskau gewarnt hat, dass die Beginn einer Militäroperation in Idlib eine "Katastrophe" wäre, sind durchaus nachvollziehbar. Eine weitere Million Flüchtlinge zusätzlich zu den bereits drei Millionen Flüchtlingen im Land wäre eine untragbare Last für das türkische Innen- und Wirtschaftsministerium. Der Verlust von Idlib ist auch mit geopolitischen Risiken verbunden, weil die durch zwei Militäroperationen - "Schutzschild Euphrat" und "Olivenzweig" - gewonnenen strategischen Vorteile de facto annulliert würden. Idlib - ein Haus in den Händen der Türkei, die das schwächste Glied der Troika (Russland, die USA und die Türkei) in Syrien ist. Dass Idlib für die Türkei von höchster Priorität ist, bestätigen auch weitere Aussagen Çavuşoğlus, der klargestellt hat, dass eine Offensive "das Vertrauen zwischen Russland und der Türkei erschüttern würde". Somit deutete er ein mögliches Ende der Astana-Allianz mit Russland und dem Iran hingewiesen.

Wird die Türkei in der Lage sein, HTS zu "neutralisieren"? Wenn ja, hätte Erdoğan bessere Argumente gegenüber Putin, um die Operation in Idlib zu verzögern. Aber das Problem liegt darin, dass HTS sich weigert, zu verhandeln, aber gleichzeitig keinen Rückzugsweg hat. Idlib ist die letzte Hochburg. Es bleibt nur die Auflösung - und dies würde für sie eine endgültige Niederlage im Bürgerkrieg bedeuten. Angesichts der Haltung von HTS bliebe eine militärische Eskalation sowohl für Russland als auch für die Türkei die einzige Lösung. Beide Seiten rechnen mit der Kapitulation der Terroristen. Zugleich wird Ankara höchstwahrscheinlich im Austausch für die Zustimmung zur Offensive der russischen Luftstreitkräfte und der syrischen Armee Garantien über die Unantastbarkeit der "moderaten Opposition" unter dem Dach der "Nationalen Befreiungsfront" verlangen. Aufgrund des Mangels an klaren Grenzen zwischen den Rebellen und HTS erfordert die Umsetzung einer solchen Bedingung jedoch die Präzision eines Uhrmachers.  

"In jedem Falle bleibt Idlib das Ziel von Damaskus. Und mithilfe der Verbündeten, d.h. Russlands und des Iran, wird die Regierung früher oder später in diesem Gebiet eine Operation durchführen. Aber die Rolle der Türkei wird sicherlich berücksichtigt. Doch dafür muss Ankara das Problem mit HTS lösen - entweder diese Organisation unterdrücken oder eine klare Linie zwischen ihr und der gemäßigten Opposition ziehen. Dann hätte die Türkei das Recht zu erklären, dass sie ihren Verpflichtungen nachkommt. Ansonsten wird diese Organisation immer ein Anlass für Militärschläge in Idlib sein. Weil HTS sich nahe Latakia befindet und ab und zu Drohnenangriffe auf die russischen Basis Hmeimim durchführt", sagte der Chefredakteur von MK Türkei, Jaschar Nijasbajew, im Gespräch mit dem Autor.

Was die Europäische Union betrifft, setzt sie für die Finanzierung des Wiederaufbaus Syriens politischen Reformen voraus. Bogdanow sagte offen, dass der Gipfel in Istanbul gerade wegen der fehlenden Einigung zwischen der EU und der Türkei in Frage stehe. Im Großen und Ganzen ist der Einfluss Europas minimal, solange die Militäroperationen im Feld weitergehen. Und es ist kein Zufall, dass Angela Merkels Sprecherin sagte, sie habe Putins Bitte, Syrien materielle Hilfe zu leisten, verweigert. Brüssel, Berlin und Paris hoffen immer noch - vergebens -, dass Assad besiegt werden könne, indem man ihn bankrott gehen lässt.

In derselben hilflosen Position in Idlib wie die EU sind auch die Vereinigten Staaten. Washington verhängte Sanktionen gegen seinen einzigen Verbündeten - die Türkei - sowie gegen den Iran und Russland, was den Anreiz für diese Länder verstärkt, im wirtschaftlichen und damit im politischen Bereich enger zusammenzuarbeiten. Im Falle einer Intensivierung des Wirtschaftskrieges gegen die EU könnte die Europäische Union auch dem Astana-Dreieck beitreten. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

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