Asien

Taliban-Vertreter exklusiv bei RT: Wollen allgemeine Amnestie, Regierungsform ist zu verhandeln

Mit der Waffe in der einen Hand haben die radikalislamischen Taliban Afghanistan fast ganz erobert, in der anderen tragen sie den Olivzweig zur Schau. In einem Exklusivinterview mit RT macht ihr Vertreter ungewohnt versöhnliche Aussagen, an denen die Welt später ihre Schritte messen sollte.

Mohammad Naeem, ein offizieller Vertreter des politischen Zweiges der afghanischen Taliban*, hat sich zu einem Interview mit RT bereit erklärt. Hierbei entsteht der Eindruck, dass sich die Miliz ungewöhnlich betont versöhnlich und inklusiv geben will.

So gelte die jüngst erklärte Amnestie nicht nur für jene Afghanen, die mit der früheren Regierung oder den Besatzungsmächten zusammenarbeiteten, sondern ausdrücklich auch für alle, die dem Militär und den Sicherheitsorganen mit der Waffe in der Hand dienten; Rache sei nicht an der Tagesordnung. Nicht zuletzt sollen die Formen, die der Staat und das Leben des Volkes in Afghanistan in Zukunft annehmen werden, Verhandlungssache sein und im Rahmen anstehender Gespräche in Doha zwischen den Taliban einerseits und anderen afghanischen Autoritäten andererseits erörtert werden.

Weitere Themen waren die Beziehungen der Taliban und Afghanistans als Ganzes mit Russland – sowie nicht zuletzt der chaotische Abzug der ausländischen Truppen und örtlichen Kräfte aus dem Land. Dieser hätte laut Naeem gar nicht so chaotisch ablaufen müssen, wie man dies aktuell am Flughafen von Kabul beobachtet.

"Abzug ausländischer Truppen hätte auch geordnet erfolgen können – warum dieses Chaos in Kabul?"

Im Gegenteil, bei der Unterzeichnung ihres diesbezüglichen Abkommens mit den USA haben die Taliban vor allem auf einen geordneten Abzug bestanden und diese Forderung auch dann wiederholt, als klar wurde, dass die Frist dafür nicht eingehalten werden kann. 

RT: Herr Mohammad Naeem, wie können Sie die Verwirrung erklären, die man in den Reihen der US-Streitkräfte und derer, die mit ihnen zusammenarbeiten, beobachtet? Können wir davon ausgehen, dass die USA einen Abzugsplan entwickelt haben – was übrigens laut Militärexperten noch komplizierter ist als bei einem Offensivplan? Denn was wir sahen, waren Chaos, Verwirrung, Bilder, die an den Abzug der USA aus Saigon in Vietnam erinnern. Was war Ihrer Ansicht nach die Ursache? Waren diese Verwirrung und das Chaos in gewisser Weise ein Ergebnis der Einwirkung der Kräfte der Taliban, oder haben die USA die möglichen Entwicklungen nicht berechnet?

Naeem: Sie wissen, dass der US-Regierungschef Joe Biden Erklärungen abgegeben hat, dass diese Ereignisse auch ihn verwirrt hätten. Wie Sie schon sagten: Der Truppenabzug der USA sollte streng geordnet erfolgen. Wir sagten ihnen nach der Unterzeichnung des Abkommens, dass der Rückzug ihrer Streitkräfte in geordneter Weise und nach einem bestimmten vereinbarten Zeitplan erfolgen soll. Das sagten wir ihnen bei jedem Treffen. Und selbst als sie ihren Truppenabzug um vier Monate und sogar noch länger verschoben, sagten wir ihnen, dass ihr Truppenabzug in geordneter Weise ablaufen muss. Ich weiß nicht, warum es dieses Chaos, diese Verwirrung und diese Spannungen gibt, warum es diese Ereignisse auf dem Flughafen von Kabul gab, diese Szenen, die für alle Afghanen schmerzhaft sind, diese Angst bei Menschen, die ihr Land verlassen wollen.

"Hegen keinen Rachewunsch – wollen nicht mehr (wie) in der Vergangenheit leben"

Diese Angst der Afghanen, die mit der afghanischen Regierung unter der ausländischen Besatzung oder den Besatzern selbst zusammenarbeiteten, wertete der Vertreter der größten Gruppierung islamischer Fundamentalisten in Afghanistan als völlig unbegründet. Er wies jeden Verdacht der Rachemotive ausdrücklich als rückwärtsgewandt ab – sie würden dem Wunsch der Taliban nach einer geeinten afghanischen Nation und einem würdigen Leben für die Afghanen zuwiderlaufen. Naeem verwies dabei auf eine Reihe von jüngst von den Taliban erlassenen Dekreten, die spezifisch diese Fragen betreffen. Nicht zuletzt betreffe die von den Taliban ebenso unlängst erlassene Amnestie ausnahmslos alle Afghanen – auch diejenigen, die den Taliban zuvor bewaffnet entgegentraten. 

RT: Genau das wollen wir ja gerade verstehen. Es sollen etwa 70.000 Afghanen mit den Besatzungskräften kollaboriert haben. Was ist ihr Schicksal? Sind sie in ihren Häusern sicher, und wird ihr Leben normal weitergehen – oder könnte ihnen Gefahr drohen?

Naeem: Sie sind nicht in Gefahr – denn sie sind in ihrer Heimat, in ihren Häusern, inmitten ihres Volkes. Wir streben danach, für die Menschen und das Land eine würdige Zukunft zu gestalten. Wir hegen keinen Wunsch, uns an diesen Leuten zu rächen. Wir streben danach, dass unsere Nation geeint ist. Trotz allen Herausforderungen wollen wir ein neues Land – und für unser Volk ein zukünftiges Leben in Würde – aufbauen. Wir wollen nicht mehr, dass die Menschen wie in der Vergangenheit leben. Damit ist abgeschlossen.

Also, diese Leute bekommen überhaupt keine Probleme: Wir haben mehrere Dekrete erlassen, darunter ein Dekret zu Dolmetschern, die aus dem einen oder anderen Grund mit dem Besatzungsregime kollaboriert haben. Vergangenheit ist Vergangenheit.

RT: Herr Mohammad Naeem, stimmt es, dass es Razzien gegen Ghani-Anhänger gibt, die mit den Besatzungsbehörden zusammenarbeiten, dass sie getötet werden?

Naeem: Wenn dies wahr wäre, würden die hohen Führungskräfte in Kabul, die sich uns angeschlossen haben, wie [etwa auch] Ismail Khan [in Herat], wie Hakim in Kandahar und andere in vielen Provinzen, uns nicht anerkennen. Wir behandeln die Menschen gut, auf brüderliche, auf menschliche Art. […] Wir haben allen Amnestie gewährt, eben nicht nur bestimmten Personen oder denjenigen, die nicht mit der Waffe in der Hand gekämpft haben. 

"In Kabul herrscht ein Machtvakuum – wollen Kontakte mit allen, die eigene Meinung und Vision haben"

Die selbst gestellte Aufgabe, Afghanistan als Nation zu einen, scheint man bei der Taliban-Bewegung keineswegs allein angehen zu wollen. Auch wenn der Sprecher eingangs souverän erklärte, seine Gruppierung habe das Land unter Kontrolle, und massenhafte Beitritte der Afghanen in die Reihen der Taliban beschrieb, die sich in der letzten Zeit ereignet hätten: Das nach Naeems eigenem Wortlaut in Kabul neuerdings herrschende Machtvakuum wollen oder können, so scheint es, die Taliban nicht auf Dauer im Alleingang füllen – jedenfalls soll, so der Taliban-Vertreter, im Verlauf anstehender Verhandlungen in Katars Hauptstadt Doha über die zukünftige Staats- und Regierungsform und nicht zuletzt über die Besetzung der Regierungsposten entschieden werden. Naeem wurde der Beteuerung nicht müde, dass all diese Fragen Sache unmittelbar sowie in naher Zukunft anstehender Verhandlungen seien. (An den in den nächsten Tagen anstehenden Gesprächen in Doha werden laut Berichten zum Beispiel von BloombergQuint afghanische Autoritäten, die nicht zur radikalislamischen Miliz gehören, als die Gegenpartei zu den Taliban teilnehmen.)

RT: Sie stimmen Ihre Schritte jetzt mit Herrn Karzai, dem ehemaligen Präsidenten, und Herrn Abdullah Abdullah und Gulbeddin Hekmatyār ab. Werden diese Menschen zur künftigen Regierungsstruktur gehören? Wird Afghanistan dann tatsächlich als Islamisches Emirat in Afghanistan bezeichnet?

Naeem: Diese Fragen sind in den Verhandlungen zwischen den beiden Seiten in Doha zu erörtern, einschließlich des Namens des Landes: Wer der Präsident des Landes oder der Regierungschef sein wird, was für eine Art von Regierung das sein wird. […] Die Situation ist nicht mehr so wie vorher. […] In Kabul herrscht nun ein Machtvakuum: Wir werden uns mit allen Kontakten unterhalten, die eine eigene Meinung und Vision haben.

Russland – die hilfsbereite, vermittelnde Großmacht von nebenan

Die Rolle Russlands, eines großen, nahen Nachbarn von Afghanistan, kommentiert der Sprecher des Taliban-Politbüros als positiv – stets als Vermittler im innerafghanischen Konflikt tätig, halte sich Russland ansonsten aus den inneren Angelegenheiten des Landes diskret zurück. Er äußerte die Hoffnung auf einen Ausbau der Beziehung Afghanistans mit Russland, mit Aussicht auf russische Hilfe beim Wiederaufbau des kriegsgeplagten Landes.

RT: Herr Mohammad Naeem, wie sehen Sie die Rolle Russlands bei den jüngsten Ereignissen? Russland scheint das einzige Land zu sein, das bisher seine diplomatische Präsenz in Kabul aufrechterhält. Die russische Botschaft ist in Betrieb, und niemand hat sie verlassen. Wie beurteilen Sie die Position Russlands und Ihre Beziehungen zu Russland? 

Naeem: Wir haben gute Beziehungen und langjährige Kontakte zu Russland. In Moskau wurden mehrmals Gesprächstreffen durchgeführt. Wir schätzen die neutrale Position Russlands zu Afghanistan: Russland mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten Afghanistans ein, und diese Haltung ist als positiv zu werten. Wir hoffen, dass sich unsere Beziehungen in Zukunft ausweiten und festigen werden. Russland ist eine Großmacht – und ein naher Nachbar von uns. Russland hat eine positive Rolle inne, und wir wenden uns an Russland um Hilfe für das afghanische Volk, das unter zahlreichen zerstörerischen Kriegen gelitten hat.  

Die Zeit wird zeigen, ob und inwieweit sich die Taliban an die von ihrem Sprecher gegebenen Absichtsbekundungen halten wollen – oder halten können. Jedenfalls scheinen sie ihre Kontrolle über Afghanistan dauerhaft eingerichtet zu haben, und mit derartigen Aussagen setzen sie gerade jetzt eigenhändig und aktiv Maßstäbe, an denen sich ihre zukünftigen Schritte werden messen lassen.

*Im Juli 2021 erklärte das russische Außenministerium, Moskau habe bereits sieben Jahre zuvor damit begonnen, Kontakte zu den Taliban aufzubauen. Zweck war, an die islamisch-fundamentalistische afghanische Bewegung "Bedenken" hinsichtlich der Sicherheit in der Region heranzutragen. Russland ist neben den USA, Indien, Pakistan, China und anderen Weltmächten am afghanischen Friedensprozess beteiligt: Dieser hat zum Ziel, den Krieg in Afghanistan, der zwischen den Taliban einerseits und der zentralen afghanischen Regierung, den US-amerikanischen Streitkräften und deren Verbündeten andererseits beizulegen.

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