Protestwahl in Sachsen-Anhalt: Konservativ, neoliberal oder moralischer Zeigefinger?
von Susan Bonath
Der zerstrittenen CDU entflieht ein Teil ihrer Wählerschaft in Richtung marktradikale FDP. Die AfD arbeitet weiter erfolgreich daran, vor allem politisch frustrierte Arbeiter abzuholen. Dies hat die Linkspartei über Jahre versäumt. Nun läuft wohl ein weiterer Teil ihrer Wähler aus der Mittelschicht zu den Grünen über, während über die SPD höchstens noch ein kleines Grüppchen spricht. Für die Medien scheint derweil das größte Problem ein möglicher Wahlsieg der AfD zu sein, wovor die CDU die bürgerliche Mitte bewahren müsse. Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt nächstes Wochenende zeugt schon im Vorfeld von einer tiefen sozialen und ideologischen Spaltung der Gesellschaft und der zunehmenden Angst bei Politikern und Meinungsmachern vor unliebsamen Ergebnissen, die das Land unregierbar machen könnten.
Kopf-an-Kopf-Rennen von CDU und AfD
Umfragen diverser Meinungsforscher sind zwar mit Vorsicht zu genießen. Doch geben sie zumindest Hinweise darauf, in welche Richtung es gehen könnte. Vorab also zur groben Orientierung ein paar Zahlen:
Das Sozialforschungs-Unternehmen INSA sah die CDU zuletzt bei 25 Prozent, fast vier Prozentpunkte unter ihrem Ergebnis vor fünf Jahren. Die AfD lag um einen Prozentpunkt vor der CDU. Die Linkspartei rutschte in der Umfrage von 16,3 auf 13 Prozent, die SPD von 10,6 auf zehn Prozent. Die Grünen könnten demnach ihr Wahlergebnis auf elf Prozent fast verdoppeln, die FDP könnte mit acht Prozent wieder in den Landtag einziehen.
Die Forschungsgruppe Wahlen (FW) sah indes die CDU bei 29, die AfD bei 23 Prozent. Die Linke wollten nur elf Prozent der Befragten wählen, zehn Prozent sprachen sich für die SPD aus. Die Grünen kamen hierbei auf neun, die FDP auf acht Prozent. Zu den kleineren Parteien – immerhin treten insgesamt 22 an – gibt es leider von Meinungsforschern und Medien keine Zahlen. Man summiert sie unter "Sonstige".
Keine linke Kraft in Sicht
Man könnte sich zunächst fragen: Warum tendieren in einem Land mit der zweithöchsten Armutsquote und besonders niedrigen Löhnen fast zwei Drittel der Wähler entweder zu konservativen bis offen neoliberalen Parteien? Immerhin kamen die SPD und die Vorläuferin der Linkspartei PDS vor 20 Jahren zusammen noch auf mehr als 50 Prozent.
Das hat Ursachen: Erstens verabschiedete sich die SPD schon vor langer Zeit von ihrer proletarischen Wählerschaft, die sie in Ostdeutschland zudem nie hatte. Wie auf Bundesebene wurde sie in Sachsen-Anhalt zur politischen Handlangerin der CDU. Die Linkspartei hält es bis heute nicht für nötig, sich um Arbeiter und Abgehängte nennenswert zu kümmern. Wie die Grünen hebt sie mit Vorliebe moralisierend den Zeigefinger und erklärt politisch inkorrekte Abgehängte zu Nazis. Kurzum: Eine wirklich linke Kraft ist nicht in Sicht. Es ist eben nicht überall drin, was draufsteht.
Zweitens hat die AfD zwar wenig mit sozialer Gerechtigkeit für Niedriglöhner, Erwerbslose, Armutsrentner und sonstige Abgehängte am Hut. Aber sie gibt sich nach wie vor erfolgreich als Protestpartei, die neben Merkel, Spahn und Co. sogar noch einen weiteren "Feind" im Gepäck hat: die Ausländer. Vielfach herrscht der Glaube vor, man könnte mit der Wahl der AfD die CDU stürzen, der SPD und der Linkspartei eins auswischen oder den Grünen, die derzeit mit CDU und SPD das Land regieren, den Mittelfinger zeigen. Man könnte es als Verzweiflungstat in einer Ära weitgehender politischer Gleichschaltung bezeichnen.
Schwarzblaue Nähe
Zwar ringt die CDU, die ihre Felle davonschwimmen sieht, tatsächlich mit der AfD um die meisten Stimmen. Zwar beteuert deren blasser Spitzenkandidat Reiner Haseloff, der zum dritten Mal Ministerpräsident werden will, stets vehement, niemals mit der AfD zu koalieren. Zwar überschlagen sich die Medien mit Warnungen vor einer "Apokalypse", wenn es diesmal für Schwarz-Rot-Grün oder Schwarz-Rot-Gelb nicht reichen sollte. Und freilich geht es auch um staatliche Zuschüsse, Wählerbindung und all dies.
Tatsächlich aber ist die politische Nähe zwischen beiden Parteien nicht gerade klein. So mauschelt die CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt seit dem Einzug der AfD mit selbiger sehr rege. Immer wieder stimmten die beiden Fraktionen gemeinsam ab. Vor vier Jahren beispielsweise sorgten CDU-Abgeordnete für einen Eklat der Entrüstung bei den Koalitionspartnern. Sie hatten der AfD mit ihren Stimmen zu einer (inzwischen kläglich gescheiterten) Enquete-Kommission verholfen, die "Linksextremismus" im Land untersuchen sollte.
Ähnliche Aufreger in der CDU gab es häufig. Mehrere Politiker dieser Partei flogen wegen Mitgliedschaften in Verbindungen auf, die unter dem Verdacht rechtsextremer Bestrebungen stehen, darunter der Verein Uniter. Rassistische Anspielungen aus CDU-Kreisen waren in Sachsen-Anhalt keine Seltenheit. Und mal ehrlich: Auch die schwarz-rot-grüne Landesregierung setzte zum Beispiel knallhart unzählige Abschiebungen von Familien mit Kindern in Krisengebiete durch. Da hätte es gar keiner fordernden AfD bedurft.
Tatsächlich führte die Liebäugelei eines Teils der CDU-Fraktion mit der AfD immer wieder zu Protesten der Koalitionspartner. SPD und Grüne drohten sogar mehrmals damit, die Regierung platzen zu lassen. Just umgesetzt haben sie das nie. Wer schaut schon gerne tiefer in den Spiegel und gibt dazu Ministerposten auf? Und falls die Ergebnisse es diesmal zulassen werden, würden es SPD und Grüne wohl wieder tun.
"Die Guten" und "die Bösen"
Mit Empörung über die AfD überbieten sich auch die Medien. Rauf und runter berichten sie über deren Wahlkampfauftritte. Man entrüstet sich darüber, wenn Björn Höcke wieder irgendwo pathetisch und leicht drohend die deutsche Herkunft überhöht oder Sachsen-Anhalts Spitzenkandidat Oliver Kirchner sich wie der Guru der Anti-Lockdown-Bewegung gebärdet (was er auch in diesem Bundesland nicht ist) und – weitere Empörung! – das Thema Flüchtlinge doch glatt vergisst.
Glaubt man den Medien, ist das Hauptproblem das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD. Was müsste, könnte, sollte Erstere tun, um zu gewinnen? Hat sich die CDU zu lasch von der AfD abgegrenzt? Es wird getan, als wäre dies ein Kampf zwischen Gut und Böse. Kurzum: Selten wird über eine Partei so viel berichtet wie über die AfD – nicht erst seit Beginn des Wahlkampfs in Sachsen-Anhalt.
"Cancel Culture"
Mal abgesehen davon, dass die AfD seit ihrem Bestehen schon immer genau das Gegenteil von dem postuliert hat, was die sogenannten "Altparteien" fordern: Dass es noch andere Lockdown-Gegner gibt, wie zum Beispiel die neue Partei "Die Basis", wird weitgehend verschwiegen. Nicht einmal beim MDR war ein Wort vom gut gefüllten Magdeburger Domplatz am letzten Mai-Wochenende zu hören oder lesen. Wohl mehr als 1.000 Menschen waren dort zu einer Kundgebung der Basis gekommen. Rechtsextreme wurden nicht gesichtet, nicht einmal eine einzige "Reichsbürger"-Flagge. Wollte man einfach nicht von der Erzählung abrücken, dass Lockdown-Gegner automatisch Rechtsextreme seien?
Vielleicht, und das ist nur reine Spekulation, will ja die Mittelschicht so gerne ihren Sündenbock behalten: den "ungebildeten" Arbeiter, der aus Frust die AfD wählt und sich – Skandal! – nicht demütig dem Corona-Regime unterwerfen will. Vielleicht betreiben die Medien ja einfach nur gewöhnlichen Klassenkampf der Mittelschicht: Erst präsentiert man tagein, tagaus den Buhmann, räumt ihm so den Platz des Blitzableiters ein, um dann auf viele kleine Mitläufer draufzuschlagen. Nach unten trat es sich schon immer leichter.
Der Nebeneffekt: Man braucht nicht in den Spiegel zu sehen, um zu erkennen, welchen Anteil man selbst zu der Entwicklung beigetragen hat. Und man hat zugleich einen Topf, in dem man auch unliebsame, potenzielle Mitbewerber aus der Mittelklasse stecken kann. Cancel Culture, wie man dazu heute sagt.
Im Rachemodus
Letztlich muss man konstatieren: Die Politik wird bei beiden anstehenden Wahlen nur ernten, was sie über Jahre gesät hat. Wer ungeniert Sozialabbau betreibt, für Alters- und Kinderarmut sorgt, Millionen in den Niedriglohnsektor treibt, die Kleinen "hängt" und die Großen stets laufen lässt und wer auf all das mit Corona immer noch eins draufsetzt, muss mit Rache aus der Bevölkerung rechnen. Blöderweise endet so etwas auch für die Rächer häufig nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben.
Nun, der Juni und später der September werden zeigen, ob das politische Establishment sich noch einmal an den Haaren aus dem Sumpf ziehen kann oder ob es zu einem Eklat der bürgerlichen Demokratie kommt. Mit politischem Fortschritt ist wohl aber nicht zu rechnen. Es ist eben auch nicht überall Erlösung drin, wo Protest draufsteht. Bei den großen Parteien ist die Auswahl jedenfalls recht beschränkt. Der Bürger kann sich entscheiden zwischen konservativ, neoliberal oder dem moralischen Zeigefinger.
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