Geld oder reisen: Hartz-IV-Bezieher mussten schon vor der Pandemie zu Hause bleiben

Weil ein Mann seine Freundin zur Geburt des gemeinsamen Kindes begleitet hatte, strich ihm das Jobcenter vor drei Jahren die Leistungen. Ein Gericht hob die Entscheidung nun teilweise auf. Grundsätzlich gilt für Hartz-IV-Bezieher die sogenannte Ortsanwesenheitspflicht.
Geld oder reisen: Hartz-IV-Bezieher mussten schon vor der Pandemie zu Hause bleibenQuelle: www.globallookpress.com © Kira Hofmann

von Susan Bonath

Der Lockdown nach dem Lockdown nach dem Lockdown nach dem Lockdown ist da, die Macht liegt nun in der Hand der Bundesregierung. Inzidenzregulierte nächtliche Ausgangssperren und Reisebeschränkungen sind nur zwei von zahlreichen Grundrechtseinschränkungen, die alle auf der Erzählung von einer "tödlichen Pandemie" gründen. Doch Beschränkungen der Freizügigkeit sind für einen Teil der Menschen in der Bundesrepublik keineswegs neu.

Im Asylbewerberrecht gelten sie seit Langem. Und Hartz-IV-Beziehende sowie -Aufstocker begleiten sie seit Inkrafttreten des Zweiten Sozialgesetzbuches im Jahr 2005. Welche Auswirkungen das auf Betroffene hat, zeigt ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg. Weil ein Hartz-IV-Berechtigter im Jahr 2018 zu seiner Freundin reiste, um ihr bei der Geburt seines Kindes beizustehen, forderte das Jobcenter 1.000 Euro zurück – laut LSG zu Unrecht.

Sozialgericht: Jobcenter müssen Elternrecht gewähren

Dabei hatte der Kläger sich zunächst an die Vorgaben gehalten. So müssen Hartz-IV-Bezieher an allen Arbeitstagen eine sogenannte Ortsanwesenheitspflicht einhalten. Das heißt, sie dürfen sich von montags bis samstags nicht über den "wohnortnahen Bereich" hinaus fortbewegen, um gegebenenfalls rasch in Arbeit vermittelt werden zu können.

Haben Betroffenen dennoch vor, zu verreisen, müssen sie die Reise beim Jobcenter beantragen, begründen und sich zuerst genehmigen lassen. Laut der Mitteilung vom LSG tat der Mann dies auch eine Woche vor Antritt der Fahrt. Doch das war dem Jobcenter des Landkreises Reutlingen zu wenig. Es forderte von ihm einen weiteren Antrag unmittelbar vor Antritt der Reise.

Doch der Mann stieg im Mai 2018 ohne weiteren Antrag in den Zug nach Schleswig-Holstein und blieb sechs Wochen bei seiner Freundin und seinem neugeborenen Kind. Die Behörde bekam das mit und reagierte rasch. Per Bescheid forderte sie 958 Euro Leistungen für diesen Zeitraum von ihm zurück. Der junge Vater widersprach und zog vor Gericht.

Bereits die Vorinstanz hob den Bescheid des Amtes auf. Begründung: Der Eingliederung in den Arbeitsmarkt habe ein wichtiger Grund entgegengestanden, nämlich das vom Grundgesetz garantierte Elternrecht. Um das Grundrecht auf Freizügigkeit ging es dabei nicht.

Weil das Reutlinger Jobcenter das Urteil nicht hinnehmen wollte, zog es in die nächste Instanz. Die LSG-Richter sahen ebenfalls einen Grundrechtsverstoß im Vorgehen des Jobcenters – allerdings nur für die ersten drei Wochen seiner Abwesenheit. Denn länger dürfen Hartz-IV-Berechtigte binnen eines Jahres ihren Wohnort nicht verlassen. Dagegen kann die Behörde nun noch vor das Bundessozialgericht (BSG) Kassel ziehen. Die juristische Odyssee um das versagte Existenzminimum könnte also weitergehen.

Für Lohnabhängige und Bedürftige hatte die Freiheit schon immer Lücken

Vor drei Jahren gab es noch keine ausgerufene Pandemie – und offiziell auch keine Einschränkungen der Grundrechte für Hartz-IV-Bezieher. Der Staat bediente (und bedient) sich hierfür eines Tricks: Wer – warum auch immer – keinen Job hat und mittellos ist, müsse eben auf die existenzsichernden Leistungen verzichten, wenn er sein Grundrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen wolle, so das Argument. Und Lohnarbeiter könnten auch nicht einfach mal eben verreisen, ohne ihren Chef um Urlaub zu bitten, heißt es. Dies zu Ende gedacht heißt im Prinzip: Unbeschränkte Freizügigkeit gab es auch vor der Pandemie nur für jene, die nicht auf Lohneinkommen oder Sozialleistungen angewiesen sind.

Ganz grundsätzlich gedacht, sind damit sowohl Hartz-IV-Bezieher als auch abhängig Beschäftigte ohnehin nicht frei, was die Freizügigkeit betrifft. Die einen sind abhängig vom Unternehmen, von dem sie Lohn erhalten, die anderen vom Staat und seinen Sozialleistungen. Noch unfreier sind Asylsuchende. Solange sie Geld vom Staat erhalten, müssen sie sich in den ersten drei Jahren des Aufenthalts in Deutschland an eine Wohnsitzauflage halten. Sie dürfen nicht wegziehen aus dem Bundesland, dem sie zugewiesen wurden.

Mehr noch: Asylsuchende, die nur geduldet sind, etwa weil in ihrer Heimat Krieg herrscht, müssen sich sogar an eine Residenzpflicht halten. Das bedeutet: Sie dürfen das Bundesland, in dem sie wohnen, auch sonntags nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen. Bis vor einigen Jahren mussten sie sogar im Landkreis ausharren und vielerorts für eine sogenannte Verlassenserlaubnis sogar zehn Euro bezahlen – von einem Bargeldbetrag von gerade etwa 40 Euro, der ihnen damals monatlich gewährt wurde. In Sachsen-Anhalt hatte ein Betroffener aus Togo 2011 erfolgreich dagegen geklagt.

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