Deutschland

Fordern und Kürzen trotz Pandemie: Jobcenter sanktionieren wieder strenger

Im Hartz-IV-Budget sind Corona-Mehrausgaben bis heute nicht eingepreist, die Jobsuche ist zugleich schwieriger geworden. Dennoch sanktionieren Jobcenter inzwischen wieder häufiger. Auch auf einem Teil der Mietkosten bleiben viele Betroffene sitzen.
Fordern und Kürzen trotz Pandemie: Jobcenter sanktionieren wieder strengerQuelle: www.globallookpress.com © Jens Kalaene/ZB

von Susan Bonath

Viele Soloselbständige stehen seit Monaten ohne Einnahmen da, kleine Betriebe geben auf, die staatlichen Hilfen reichen nicht und fließen nur schleppend, viele Beschäftigte rettet nur das Kurzarbeitergeld vor der Arbeitslosigkeit. Am Ende der Abwärtsspirale lauert Hartz IV. Die Unterwerfung unter rigide Auflagen ist Voraussetzung für den Bezug dieser Leistung.

Wie nun eine am Montag veröffentlichte Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigt, sanktionierten die Jobcenter "ungehorsame" Leistungsberechtigte 2020 trotz Pandemie weiter. Zudem erstatteten sie, anders als suggeriert, keineswegs jedem die volle Miete. Mehr als eine halbe Milliarde Euro sparte der Staat im ersten Pandemie-Jahr bei der Erstattung der Unterkunftskosten. Die Betroffenen mussten die verweigerten Summen aus ihren mageren Regelsätzen berappen.

2020: Zehntausenden die Grundsicherung gekürzt

Den BA-Daten zufolge verhängten die Jobcenter im ersten Pandemie-Jahr 2020 insgesamt 171.112 Sanktionen gegen 115.231 Betroffene. Wie bereits in den Vorjahren üblich, sanktionierten sie somit zahlreiche Betroffene auch mehrfach. Mehr als 126.300 Strafen davon hagelte es wegen eines versäumten Termins. Hier sieht das Zweite Sozialgesetzbuch eine Kürzung um zehn Prozent des Regelsatzes für drei Monate vor.

14.248 Sanktionierte hatten eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme "nicht aufgenommen oder fortgeführt", 4.145 weitere Betroffene gaben demnach "Anlass zum Abbruch einer Maßnahme". Darüber hinaus verstießen 8.717 Personen gegen andere Auflagen der sogenannten Eingliederungsvereinbarung. Darin wird etwa verlangt, eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen nachzuweisen oder den wohnortnahen Bereich an Werktagen nicht zu verlassen. Für derlei "Vergehen" gibt es drei Monate lang 30 Prozent weniger.

Höhere Sanktionen hatte das Bundesverfassungsgericht im November 2019 für grundgesetzwidrig erklärt. Totalsanktionen, die unter 25-Jährige schon nach einem "Pflichtverstoß" erhalten konnten, setzte die BA danach aus. Bis heute hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Hubertus Heil (SPD) keine entsprechende Gesetzesnovelle vorgelegt.

Darüber hinaus verweigerten die Jobcenter offenbar mehr als 16.000 Arbeitslosengeld-I-Beziehern mit geringen Leistungsansprüchen die Aufstockung mit Hartz IV für die Dauer einer Sperrzeit. Solche Sperrzeiten bis zu maximal zwölf Wochen verhängen die Arbeitsagenturen, wenn sie neu arbeitslos Gemeldeten vorwerfen, selbst für die Kündigung ihres Arbeitsplatzes verantwortlich zu sein.

Jobcenter werden wieder sanktionswütiger

Nachdem die Bundesregierung im März 2020 die "epidemische Notlage von nationaler Tragweite" ausgerufen hatte, stoppte die BA die Leistungskürzungen vorübergehend. Ganz eingehalten wurde das nie, und bereits im Juli 2020 setzten die Behörden die Sanktionspraxis fort. Die Anzahl der Kürzungen, die zeitweise pro Jahr die Marke von einer Million geknackt hatten und pro Monat zwischen 70.000 und 90.000 schwankte, ist zwar massiv gesunken, steigt aber derzeit von Monat zu Monat wieder stetig an.

So hatten die Jobcenter im August 2020 nur 4.144 neue Kürzungsstrafen gegen knapp 3.800 Betroffene verhängt, insgesamt lebten in diesem Monat 7.625 mit mindestens einer Sanktion, die teilweise aus den Vormonaten rührte. Im Oktober 2020 verzeichnete die BA bereits 12.837 neue Sanktionen gegen rund 11.500 Leistungsbezieher, insgesamt bekamen fast 19.000 Menschen weniger Geld.

Im Dezember 2020 kletterte die Zahl neu verhängter Sanktionen auf 19.619, betroffenen davon waren mehr als 17.500 Hartz-IV-Berechtigte. Insgesamt harrten im letzten Monat des Vorjahres bereits wieder über 37.000 Menschen mit weniger Geld aus, als ihnen der Staat mit dem als Existenzminimum deklarierten Hartz-IV-Budget eigentlich zubilligt.

Jobcenter übernahmen Wohnkosten oft nur teilweise

Ähnlich kurz gehalten werden Hartz-IV-Betroffene bei den Wohnkosten, obwohl die Mieten allerorts steigen. Zwar hat das BMAS die Sonderregeln verlängert, wonach Anträge einfacher gestellt werden können, Vermögen bis zu 60.000 anrechnungsfrei bleiben und auch Mieten, die die von Kommunen festgelegten Obergrenzen übersteigen, vorläufig anerkannt werden sollen. Allerdings gelten diese Regeln nur für Bedürftige, die aus Gründen der Pandemie-Maßnahmen seit März 2020 einen Erstantrag stellen müssen.

Wer hingegen bereits länger auf Hartz IV angewiesen ist, bekommt weiterhin seine Miete nur bis zur Höhe der kommunalen Obergrenzen erstattet. So gewährt beispielsweise die Stadt Leipzig Alleinstehenden höchstens eine Warmmiete von 347,84 Euro, Vierpersonen-Haushalten gesteht sie 662 Euro dafür zu. Das führt dazu, dass viele Betroffene einen teils erheblichen Anteil ihrer Miete aus ihrem Regelsatz berappen müssen.

Laut einer ebenfalls am Montag veröffentlichen neuen BA-Statistik führte dies allein im Dezember 2020 dazu, dass die Kommunen bundesweit 44,3 Millionen Euro anfallender Mietkosten nicht übernahmen. Im gesamten Jahr mussten demnach Hartz-IV-Berechtigte etwa 530 Millionen Euro aus eigener Tasche für ihre Unterkunft zuzahlen. Genaue Zahlen dazu, wie viele Haushalte davon betroffen waren, will BA-Sprecher Christian Weinert in den kommenden Tagen der Autorin übermitteln.

Pandemie-Zuschuss lässt auf sich warten

Wie Bedürftige, die auf Hartz IV, Sozialhilfe oder Asylbewerberleistungen angewiesen sind, durch Corona bedingte Mehrausgaben stemmen sollen, interessiert die Bundesregierung ebenfalls nicht sonderlich. Erst auf Druck von Sozialverbänden hatte sich der Bundestag zu Jahresbeginn auf einen Corona-Zuschuss von einmalig 150 Euro pro Person geeinigt.

Das Sozialgericht Karlsruhe hatte diese Summe am 24. März als "zu gering und verfassungswidrig" bezeichnet. Denn einmalig 150 Euro deckten die anfallenden Zusatzausgaben nicht und seien außerdem ins Blaue hinein geschätzt. Nötig sei eine Erhöhung des Regelsatzes um monatlich rund 100 Euro, und zwar solange pandemiebedingt Mehrausgaben fällig würden. Dasselbe Gericht hatte kurz zuvor entschieden, Jobcenter müssten Hartz-IV-Beziehern wöchentlich 20 FFP2-Masken kostenlos zur Verfügung stellen – oder 129 Euro dafür monatlich mehr auszahlen.

Auswirkungen über die beklagten Einzelfälle hinaus hatte allerdings keiner der Gerichtsbeschlüsse. Auch kamen Bedürftige bis heute nicht in den Genuss des beschlossenen Pandemie-Zuschusses. Das BMAS hatte mitgeteilt, das Geld werde wohl im Mai ausgezahlt. Ein genauer Termin ist nicht bekannt.

Immer mehr Menschen brauchen Hartz IV

Laut BA befanden sich im März 2021 mehr als 2,9 Millionen Familien im Hartz-IV-Bezug, rund 61.000 mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Personen in sogenannten Bedarfsgemeinschaften wuchs demnach binnen Jahresfrist um 75.000 auf gut 5,7 Millionen an, von denen allerdings nur 5,45 Millionen leistungsberechtigt waren. Bei den etwa 250.000 Menschen ohne Leistungsansprüche dürfte es sich vor allem um Kinder von Alleinerziehenden handeln, deren Kindergeld und Unterhalt den Regelsatz übersteigt. Insgesamt lebten im März rund 1,8 Millionen Kindern in Haushalten, die sich mit Hartz IV über Wasser halten müssen.

Darüber hinaus befanden sich laut Daten des Ifo-Instituts München im März noch etwa 2,7 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Das waren acht Prozent aller Menschen mit einem sozialversicherungspflichtigen Job. Die BA hatte im vergangenen Monat fast 1,2 Millionen Arbeitslose für den Rechtskreis des Arbeitslosengelds I erfasst, von denen aber nur gut eine Million tatsächlichen Anspruch auf die Versicherungsleistung hatte. Wegen dieser hohen Zahlen steht die BA offenbar massiv unter Druck. "Wir haben die Hälfte des Fachpersonals für Statistik in den Bereich Kurzarbeit versetzt", sagte BA-Sprecher Weinert im Gespräch mit der Autorin.

Magere Grundsicherung: Corona bis heute nicht eingepreist

Seit Januar 2021 stehen alleinstehenden Bedürftigen ab dem 25. Geburtstag 446 Euro monatlich zu. Hinzu kommt ein Mietkostenzuschuss bis zur Höhe der kommunal festgelegten Obergrenzen, die fast überall um einiges unter denen liegen, die zum Wohngeldbezug berechtigen. Für Paare gibt es insgesamt 802 Euro pro Monat, 18- bis 24-Jährige erhalten 357 Euro. Kleinkindern bis zu fünf Jahren gesteht der Gesetzgeber insgesamt 283 Euro monatlich zu, Sechs- bis 13-Jährigen 309 Euro und 14- bis 17-Jährigen 373 Euro – das Kindergeld und etwaiger Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss wird davon abgezogen. Ausgaben für pandemiebedingte Sonderausgaben sind bis heute nicht in die Sätze eingepreist worden.

Asylbewerber bekommen noch geringere Hilfen. Alleinstehenden ab dem vollendeten 25. Lebensjahr gewährt der Staat monatlich 364 Euro. Paare erhalten zusammen 656 Euro, 18- bis 24-Jährige 292 Euro. Für Kinder gibt es je nach Alter 247 bis 323 Euro pro Monat. Die geringeren Sätze begründet die Bundesregierung unter anderem damit, dass Betroffenen Strom und Möbel als Sachleistung gestellt würden. Auch in diesen ebenfalls sanktionierbaren Leistungen sind keine Corona-Mehrkosten enthalten.

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