Politik auf dem Prüfstand: Zurückweisung des neoliberalen Werteverständnisses (Teil 3)
von Bernd Murawski
Dieser letzte Teil thematisiert den wachsenden Widerstand gegen das neoliberal geprägte Werteverständnis und fordert eine Neuorientierung linker Politik. Im ersten Teil wurde die Frage aufgeworfen, weshalb sich die Linke westlichen Wertvorstellungen unterwirft, obwohl ihre politischen Kernziele nur bedingt mit diesen vereinbar sind. Im zweiten Teil wurde der neoliberale Gehalt westlicher Wertesysteme illustriert und untersucht, wie dieser sich historisch etablieren konnte.
Widerstand gegen neoliberale Erscheinungen im Alltag
Nicht nur in traditionellen Gesellschaften, sondern auch im stärker emanzipierten Westen gibt es zunehmenden Widerstand gegen das neoliberal geprägte Werteverständnis. Zwar wird der gegenwärtige wirtschaftspolitische Kurs von den meisten Bürgern angesichts ihres eingeschränkten Urteilsvermögens akzeptiert, woran die Linke wegen versäumter Aufklärungsarbeit eine Mitschuld trägt. Gleichwohl führt das sich schleichend durchsetzende "Recht des Stärkeren" und die damit einhergehende soziale Kälte zu wachsendem Unbehagen. Je tiefer jemand in konventionellem Denken verankert ist, desto größer ist die Diskrepanz zwischen den alltäglichen Erfahrungen und dem eigenen Anspruch von Moral und Anstand.
Trotz der Vielfalt an Formen zwischenmenschlichen Umgangs in verschiedenen Erdregionen finden sich in allen Wertesystemen Forderungen nach Rücksichtnahme auf die Mitbürger und Verantwortung für die Gemeinschaft. Diese gehen notwendig mit der Einschränkung individueller Freiheiten einher, was im Zuge der Sozialisation verinnerlicht und ohne Widerstreben umgesetzt wird. Ein entsprechendes Sozialverhalten wird im Familienkreis, unter Freunden und im Umgang mit anderen nahestehenden Personen als Selbstverständlichkeit empfunden. Beispielsweise werden provozierende Äußerungen vermieden, abweichende Ansichten und Verhaltensweisen toleriert, die Interessen der Betroffenen bei Entscheidungen berücksichtigt und ein Konsens bei gemeinsamen Vorhaben angestrebt.
Verantwortungsvolles Handeln, Rücksichtnahme und Konsensstreben verlangen ein Nachgeben jener Akteure, die sich jeweils in der stärkeren Position befinden. Sie müssen bereit sein, auf die Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten, ohne eine Gegenleistung etwa materieller Art zu erhalten. Solches kann in einer Welt individualisierter Personen, deren Schicksal vom Durchsetzungsvermögen in Konkurrenzsituationen abhängt, nicht erwartet werden. Anders ist die Lage dort, wo Gemeinsinn vorherrscht. Wer zurücksteckt, erwirbt das Vertrauen des Gegenparts und erzeugt bei ihm das Gefühl, fair und gerecht behandelt zu werden. Der Stärkere erwirbt eine natürliche Autorität und kann mit Anerkennung und Unterstützung rechnen, anstatt auf Argwohn und Opposition zu stoßen.
Rückbesinnung auf traditionelle Werte
Neben dem Unmut über neoliberal geprägte Umgangsformen sind es vor allem die enttäuschten Versprechungen einer Verbesserung der materiellen und sozialen Lage, die zu wachsender Unzufriedenheit führen. Hinzu tritt ein Gefühl von Ohnmacht, nachdem über einen längeren Zeitraum solidarisches Verhalten erstickt und dessen gesellschaftliche Instrumente geschwächt wurden. Für jene, die sich aus Ängstlichkeit oder aus Mangel an Kompetenz vor einem politischen Engagement scheuen, verbleibt die Stimmabgabe bei Wahlen als einzige Protestform.
Dass verbitterte Wähler im Westen weitaus zahlreicher für Rechtspopulisten anstatt für Vertreter der Linksparteien votieren, hat mehrere Ursachen. Forderungen nach einer Rückkehr zu Verhältnissen der Vergangenheit, die als intakt wahrgenommen werden, erwecken verständlicherweise Vertrauen. Dabei wird vielfach übersehen, dass sich Parteien mit konservativ-nationalem Anspruch gegen emanzipatorische Errungenschaften wie die Gleichstellung der Frauen, die Akzeptanz sexueller Minderheiten und eine kulturelle Vielfalt durch Zuzug ausländischer Staatsbürger positionieren. Dies ist gleichwohl ein gewichtiger Grund, weshalb sie ins Fadenkreuz liberal gesonnener Vertreter aus Politik und Medien geraten.
Da vom Rechtspopulismus andererseits kaum Widerstand gegen die neoliberale Agenda zu erwarten ist, wird er seitens der Elite als Auffangbecken von Proteststimmungen favorisiert und entsprechend hoffähig gemacht. Dagegen erscheinen linke Parteien angesichts ihrer Anpassungsbereitschaft als staatskonform, was Wähler mit Wunsch nach grundlegenden Veränderungen von einer Unterstützung abhält. Indem die Linke das westliche Werteverständnis demonstrativ mitträgt, verbaut sie sich selbst den Weg zu Alternativen jenseits des Neoliberalismus und verspielt tendenziell ihre Glaubwürdigkeit.
Das ideologische Fundament des Rechtspopulismus ist der Nationalismus. Bei der Trump-Administration und den Brexit-Befürwortern artikulierte er sich in der Forderung nach Wiederherstellung der Größe der Nation. Es sollte Nationalgefühl geweckt und die Unternehmen zu einer Rückverlagerung von Produktionsstätten veranlasst werden. Indes gelang es nicht, die Bürger für nationale Projekte zu begeistern, da sie auf den täglichen Überlebenskampf im neoliberalen Umfeld fokussiert waren und somit andere Sorgen hatten. Ebenso wenig ließen sich die Kapitaleigner mittels patriotischer Appelle zu Gewinnverzichten bewegen.
Erfolgreicher erwiesen sich nationale Orientierungen in Ungarn und Polen, wo traditionelle Strukturen und Denkweisen stärker erhalten geblieben sind. Der Einzug der neoliberalen Ideologie erfolgte zudem zügiger und war dadurch evidenter, was den Widerstand anfeuerte. Da ein Zurück zum Sozialismus als ausgeschlossen galt, gelangten die Kirchen als Moralträger in eine dominante Stellung. Eine vergleichbare Entwicklung ist in Russland zu beobachten, wo die orthodoxe Kirche ihr gesellschaftliches Gewicht im Zuge der Wiederbelebung traditioneller Werte vergrößern konnte. Noch stärker hat der religiöse Einfluss in muslimischen Ländern zugenommen, am deutlichsten in Iran und der Türkei, aber auch in Nordafrika und in einigen südasiatischen Ländern. Ebenfalls wurde Indien von einer religiös fundierten Neuorientierung erfasst.
Dass mit der Zurückweisung neoliberaler Wertvorstellungen vielerorts emanzipatorische Errungenschaften revidiert werden, ist dadurch zu erklären, dass Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften und anderen konservativen Gruppierungen in Machtpositionen aufgestiegen sind. Haben sie unter der Herrschaft der neoliberalen Elite eher ein Schattendasein geführt, so können sie nun ihre Weltanschauungen propagieren und zur Richtschnur erheben. Auch wenn ein bedeutender Bevölkerungsteil solche Ansichten nicht teilt, werden sie im Vergleich zu neoliberal geprägten Werten als kleineres Übel angesehen.
Ebenso werden in China seit einiger Zeit konfuzianische Tugenden beschworen. Das erklärte Ziel ist die Eliminierung von Negativerscheinungen, die sich während der nahezu ungezügelten kapitalistischen Aufbauphase ausgebreitet haben. Da die Initiative seitens der kommunistischen Führung erfolgt, führt die Zurückdrängung marktradikaler und egozentrischer Denkweisen zu keinem Einflussgewinn reaktionären Gedankenguts. Überhaupt konnten die vom nördlichen Buddhismus beeinflussten Staaten – neben China sind dies vor allem Japan, Korea und Vietnam – ihre durch hohes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein geprägten Wertesysteme weitgehend erhalten. Ein Grund dürfte sein, dass diese auf philosophischen statt auf religiösen Prämissen beruhen, weshalb sie nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Emanzipationsbestrebungen unter Druck gerieten.
Ein säkulares Wertesystem, das eine Alternative zum Neoliberalismus darstellen könnte, hat sich vor der Wende in der DDR herausgebildet. Nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft waren die Bemühungen führender Köpfe der Opposition, den eigenen Staat zu erhalten und nicht durch die westdeutsche "Ellbogengesellschaft" geschluckt zu werden, angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage zum Scheitern verurteilt. Es dürfte kaum ein geeigneteres Objekt aus der jüngeren europäischen Geschichte für ein alternatives Wertekonzept geben. Dabei beschränken sich die Verdienste der DDR-Führung darauf, Rahmenbedingungen zu dessen Herausbildung geschaffen zu haben. Ihre Herrschaftspraxis hat indessen eine Umsetzung auf vielfältige Weise erschwert.
Vertreter der Linken scheuen sich vor einer positiven Beurteilung von DDR-Erfahrungen, da sie befürchten, als SED-Sympathisanten stigmatisiert zu werden. Zudem dürfte manches historisch überholt sein, da seit der Wende mehr als 30 Jahre vergangen sind. Gleichwohl ist genügend Zeit verstrichen, sodass es möglich sein sollte, das Wertemodell der damaligen DDR unvoreingenommen zu studieren.
Fragwürdige Anpassungsversuche der Linken
Während der neoliberale Einfluss auf Wirtschaft, Politik, Alltag und Werteverständnis bei der Linkspartei und dem ihr nahestehenden "Neuen Deutschland" unterbelichtet bleibt, werden Themen und Aussagen westlicher Medien und Politiker regelmäßig übernommen, meist ohne sie zu hinterfragen. Dabei sollte zu denken geben, dass die dort angeprangerten Verstöße gegen demokratische Prinzipien und Verletzungen von Menschenrechten überwiegend in Staaten geortet werden, die sich aus der neoliberalen Umklammerung lösen wollen. Desgleichen gehen unabhängige linke Intellektuelle in Vorträgen, Podcasts und Artikeln auf Distanz zu Russland, China und anderen Staaten, die dem Neoliberalismus trotzen und eine unilaterale US-geführte globale Ordnung ablehnen. Es sei dahingestellt, ob weltfremder Idealismus, der Glaube an die Redlichkeit westlicher Politik oder die Angst vor einer Brandmarkung als Gegner westlicher Werte das zugrundeliegende Motiv ist.
Westliche Leitmedien liegen mit ihrer Kritik oft nicht einmal falsch, wenn diese auch meist mit Stilmitteln der Propaganda und zweifelhaften Recherchen ausgeschmückt wird. So erscheint etwa eine Problematisierung der "erziehungsdiktatorischen" Maßnahmen im chinesischen Xinjiang durchaus berechtigt. Eine Relativierung wäre dennoch angebracht, etwa mittels eines Vergleichs mit westlichen Werteexport-Bemühungen. Während die ethnischen Minderheiten in China zumindest von einem steigenden Lebensstandard profitieren und ihre Identität trotz einiger Abstriche bewahren können, hat der Westen ganze Staaten zerrüttet und korrupte Eliten installiert, als deren Folge die Völker verarmt sind. Parallel dazu werden traditionelle Lebensformen und Werte durch die Softpower westlicher Massenkultur und Leitbilder sukzessive zerstört.
Ausgewogenheit und Einordnung in Gesamtkontexte wie in diesem Beispiel fehlen jedoch großenteils in den Analysen und Stellungnahmen der Linken. Dies betrifft besonders "heiße Eisen" wie den Hype um Alexei Nawalny, die Lage in Weißrussland, die Kritik an der Corona-Politik oder die Zweifel an der offiziellen Version der sich aktuell jährenden 9/11-Anschläge. Vorzugsweise werden Fakten wie auch Erkenntnisse kritischer Wissenschaftler und Recherchen investigativer Journalisten, die am Selbstbild der westlichen Wertegemeinschaft kratzen, einfach ignoriert. Auf der anderen Seite greift die Linke Themen wie die Drangsalierung sexueller Minderheiten in Russland auf, um als Verteidigerin westlicher Werte zu erscheinen. Unerwähnt bleibt die weitaus größere Bedrohung Homosexueller in gefühlten 90 Prozent der Erdregionen inklusive weiter Teile der USA.
Wenn Autoren des linken Spektrums auf kritischen Internetportalen Missstände benennen, dann konzentrieren sie sich auffällig oft auf Themen, die sie selbst tangieren. Solche sind Zensurtätigkeit, Einsatz manipulativer Techniken und Diffamierung politischer Gegner im eigenen Land. Sie vermitteln dabei implizit den Eindruck, dass eine Rückkehr zu fairen, demokratischen Spielregeln sie prinzipiell zufriedenstellen würde. Diese Erwartung wird sich jedoch nicht erfüllen, weil weder Sturheit noch Unwissenheit hinter der Tätigkeit der medialen und politischen Elite steckt. Vielmehr will sie die Dominanz der neoliberalen Ideologie durch eine Einschränkung und Kanalisierung von Kritik sichern, wobei als Vorwand der Anti-Terror-Kampf, die Abwehr von Cyberangriffen oder die Verhinderung der Verbreitung von Fake News dienen.
Notwendige Fokussierung auf die Abwehr des Neoliberalismus
Es liegt offenbar im ureigenen Interesse der Linken, den Kampf gegen den Neoliberalismus ins Zentrum ihrer Aktivitäten zu rücken. Die Frage, wer Verbündeter und wer Gegner ist, muss neu gestellt werden. Eine Konfrontation mit den staatstragenden Parteien lässt sich kaum vermeiden. Auch muss das Risiko in Kauf genommen werden, von Leitmedien heftig angegriffen zu werden. Desto wichtiger erscheint eine linke Gegenöffentlichkeit, die sich dadurch auszeichnen sollte, dass sie Propaganda und Polemik vermeidet und stattdessen mit Sachlichkeit, Offenheit und Faktenbasiertheit punktet.
Wie weit sich die Linke vom Rechtspopulismus und von autoritären Herrschaftsformen abgrenzt, sollte vom jeweiligen ideologischen Hintergrund und Werteverständnis abhängig gemacht werden. Die Nähe zum Nationalsozialismus ist hierbei ebenso ein No-Go wie ein Absolutheitsanspruch. Letzteren erheben aber nicht nur politische Gegner des Westens, sondern auch relevante Teile seines eigenen Establishments. Überhaupt stellt sich die Frage, ob die führenden Politiker integrer sind als deren gescholtene Gegner. Zweifel sind angebracht, wenn sie etwa eine Aufstockung des Verteidigungsetats verlangen, obwohl allein die europäischen NATO-Staaten mehr als die dreifache Summe des potenziellen Kontrahenten Russland für das Militär aufwenden.
Anstatt von anderen Ländern eine Umsetzung westlicher Werte zu fordern, sollte die Linke eine multipolare Ordnung akzeptieren, die eine Vielfalt an Herrschaftsstrukturen auf Grundlage der jeweiligen nationalen Wertesysteme zulässt. Dennoch sollte verlangt werden, dass Regierungen die Bestimmungen der UN-Menschenrechtsabkommen anerkennen und sichtbar gewillt sind, sie umzusetzen. Bei der Beurteilung sollten verlässliche Quellen genutzt werden, die eingestandenermaßen nicht leicht zu finden sind. Es wäre ein lohnendes Projekt für die Linke, über internationale Kontakte auf die Gründung einer seriösen, global aktiven NGO hinzuwirken.
Linke Parteien sollten weiterhin zu einer Kooperation mit politischen Kräften bereit sein, die sich zu neoliberalen Werten bekennen. Ist die eigene politische Zielsetzung klar definiert und kommuniziert, dann kann ohne Sorge um Glaubwürdigkeitsverlust eine Regierungsbeteiligung erwogen werden, was sich besonders im kommunalen Bereich anbietet. Gelingt es, Privatisierungen staatlichen Eigentums und einen Abbau öffentlicher Leistungen zu verhindern, dann wird zugleich ein Beitrag zur Abwehr des Neoliberalismus geleistet.
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Mehr zum Thema - Politik auf dem Prüfstand: Westliche Werte und die Position der Linken (Teil 1) und Die neoliberale Prägung westlicher Werte (Teil 2)
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