Politik auf dem Prüfstand: Die neoliberale Prägung westlicher Werte (Teil 2)

Die schmähliche Niederlage der NATO und ihrer Verbündeten in Afghanistan hat zum wiederholten Mal gezeigt, dass westliche Werte vielerorts auf wenig Resonanz stoßen. In diesem dreiteiligen Beitrag wird untersucht, was sie beinhalten, warum sie abgelehnt werden und wie sich die Linke positionieren sollte.
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von Bernd Murawski

Dieser zweite Teil illustriert den neoliberalen Gehalt westlicher Wertesysteme und untersucht, wie dieser sich historisch etablieren konnte. Im erstenTeil wurde die Frage aufgeworfen, weshalb sich die Linke westlichen Wertvorstellungen unterwirft, obwohl ihre politischen Kernziele nur bedingt mit diesen vereinbar sind. Im dritten und letzten Teil wird der wachsende Widerstand gegen das neoliberal geprägte Werteverständnis thematisiert und eine Neuorientierung linker Politik gefordert.

Neoliberalismus in der Wirtschaft und im täglichen Umgang  

Der Neoliberalismus-Begriff hat im Zuge wachsender Systemkritik ein negatives Image erhalten. Dies war zum Zeitpunkt seiner Prägung während der 1960er Jahre in Anlehnung an den Ordoliberalismus, der staatliche Eingriffe in die Wirtschaft befürwortete, noch nicht der Fall. Heute wird mit dem Ausdruck eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und Zurückdrängung des öffentlichen Einflusses verbunden, die seit den 1980er Jahren mit dem Machtantritt Margaret Thatchers und Ronald Reagans einsetzte.

Neoliberale Wirtschaftspolitik ist auf einen Abbau administrativer Hemmnisse ausgerichtet. Im zwischenstaatlichen Verkehr wird die Realisierung der „vier Freiheiten“ angestrebt, womit die Liberalisierung des Austausches von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften gemeint ist. Das erklärte Ziel ist die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, was zumindest in der Anfangsphase durch eine verbesserte Allokation von Ressourcen erreicht wurde.

Zugleich fand eine Machtverschiebung zugunsten der Wirtschafts- und Finanzelite statt, in deren Folge die Einkommens- und Vermögensunterschiede beträchtlich zugenommen haben. Dies verursachte einen tendenziellen Nachfrageschwund bei den Endverbrauchern, der sich negativ auf das Wachstum auswirkte. Unausweichliche Folgen waren die Zunahme der privaten und öffentlichen Verschuldung, der Abbau sozialer Leistungen und ein sinkender Lebensstandard bei immer mehr Bürgern.  

Die Einflussnahme des Neoliberalismus beschränkt sich jedoch nicht auf die Wirtschaft, sondern manifestiert sich zunehmend im alltäglichen Leben. Wie eine jahrzehntelange Indoktrination durch neoliberale Inhalte neue zwischenmenschliche Umgangsformen kreiert, illustrieren Nina Horaczek und Walter Ötsch in ihrem neuen Buch "Wir wollen unsere Zukunft zurück" wie folgt:

"Bestimmte Eigenschaften sind für das berufliche Weiterkommen heute unabdingbar. Am wichtigsten ist es, sich gut ausdrücken zu können, denn man muss so viele Menschen wie möglich für sich gewinnen. Der Kontakt kann dabei nur oberflächlich sein, das fällt nicht weiter auf. Schließlich trifft dies heutzutage auf die meisten zwischenmenschlichen Kontakte zu.

Des Weiteren muss man sich und die eigenen Fähigkeiten 'gut verkaufen' können – man kennt viele Leute, verfügt über jede Menge Erfahrung und hat erst vor kurzem ein größeres Projekt beendet. Wenn sich später herausstellt, dass das meiste davon heiße Luft war, ist dies lediglich der Ausweis für eine andere nützliche Eigenschaft: Man ist in der Lage, überzeugend zu lügen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Deshalb übernimmt man auch nie Verantwortung für sein Verhalten. Außerdem ist man flexibel und impulsiv, immer auf der Suche nach neuen Anreizen und Herausforderungen. In der Praxis führt das zu riskantem Verhalten, aber keine Sorge – nicht man selbst wird hinterher die Scherben zusammenkehren müssen."

Ein weiteres empfehlenswertes Werk, das sich mit der Umwälzung des Alltagslebens nach neoliberalen Vorgaben befasst, ist "Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus" von Patrick Schreiner. Anstelle der üblichen Fixierung auf den Wirtschaftssektor thematisiert Schreiner in seiner Neoliberalismus-Kritik die Neuorganisation von Arbeitstätigkeiten, die Schaffung von Leitbildern in Kultur und Sport, und das veränderte Konsumverhalten. Er gelangt zu dem Schluss (S. 108):

"Der Neoliberalismus will die ganze Persönlichkeit, die ganze Person mit Haut, Hirn und Haaren. Er erfasst das private, das öffentliche und das berufliche Leben. Der ideale Mensch im Neoliberalismus lebt die neoliberale Moral, entwickelt sie weiter und begeistert andere von ihr. Er weiß sie anzuwenden auf Situationen und Entscheidungen im Alltag wie auch im Politischen. Er ist aus sich heraus marktkonform, unternehmerisch und auf sich selbst bezogen. Er zeigt sich anpassungsbereit und flexibel aus innerem Antrieb."

Veranschaulichung des neoliberalen Werteverständnisses

Um das Eindringen des Neoliberalismus in Wirtschaft, Politik und Alltag ethisch-moralisch zu rechtfertigen, bedurfte es einer Neutaxierung der Wertesysteme. Diese sind zum einen durch Elemente geprägt, die eine Infiltration neoliberalen Gedankenguts ermöglichen und befördern. Zum anderen gibt es aber auch bedeutende Gegengewichte. Diese Ambivalenz soll im Folgenden durch sechs Gegensatzpaare beschrieben werden, anhand derer die neoliberalen Bestrebungen veranschaulicht werden. Sie betreffen wirtschaftliche, gesellschaftliche und persönliche Optionen:

1. Individuelle kontra gesellschaftliche Interessen. Nach neoliberalem Verständnis ist es müßig, letztere zu bestimmen, da diese sich zwangsläufig aus den Aktivitäten der Individuen ergeben. Indem jeder Bürger eigene Ziele und Wünsche einbringt, nimmt er Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen. Wer sich engagiert und die nötigen Kompetenzen erwirbt, hat einen größeren Anteil daran. Wer nicht einmal an Wahlen teilnimmt, soll sich später nicht beschweren. Pressure-Group-Verhalten und Lobbyismus sind gängige Mittel, ebenso Begünstigungen und Drohungen, soweit sie nicht gegen Gesetze verstoßen. Dass das Resultat angesichts der bestehenden Machtverhältnisse kaum dem Allgemeininteresse entspricht, wird nicht hinterfragt.

2. Freiheit kontra Gemeinsinn. Während die freie Entfaltung zu einem Grundrecht erhoben wird, sind Rücksichtnahme auf die Mitbürger und Verantwortung für die Gemeinschaft wünschenswert, aber nicht zwingend. Sie gelten als "sozialer Luxus", der zwar Sympathien einbringt, jedoch dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg wenig dienlich ist. Allein die Erfolgssuche um jeden Preis führt auf der Karriereleiter nach oben. Wird das Freiheitsstreben Einzelner im sozialen Umfeld als Behinderung oder Belästigung empfunden, dann sind deren Aktivitäten nach neoliberalem Verständnis dennoch akzeptabel, solange sie gesetzeskonform erfolgen.

3. Konkurrenzdenken kontra Solidarverhalten. In einem solidarischen Umfeld dient Wettbewerb als Stimulator für sportliche und spielerische wie auch für berufliche und wissenschaftliche Leistungen. Aus neoliberaler Sicht ist er ein prägender Faktor zwischenmenschlicher Beziehungen, bei denen es jeweils um die maximale Durchsetzung von Interessen geht. Zugrunde liegt die Annahme, dass die Gegenseite eigene Ziele mit besonderer Hartnäckigkeit verfolgt und nur durch den Einsatz aller verfügbaren legalen Mittel daran gehindert werden kann. Konkurrenzdenken erschwert solidarisches Verhalten und gemeinsame Aktivitäten, da fehlende Rücksichtnahme und Argwohn ständige Begleiter sind.

4. Marktorientierung kontra staatliche Vorgaben. Marktgesetze gelten als neutral, und – da letztlich der Verbraucher die Entscheidung trifft – als demokratisch. Staatlichen Akteuren wird dagegen Selbstsucht und Korrumpierbarkeit unterstellt. Sie seien darüber hinaus bestrebt, die Freiheit der Wirtschaftssubjekte einzuschränken. Unterschlagen wird, dass der Markt keine soziale und ökologische Verantwortung kennt. Deregulierung und Privatisierung verändern außerdem die Machtverhältnisse zugunsten der Wirtschaftselite und benachteiligen Geringverdiener, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind.

5. Gewinnmaximierung kontra Bedürfnisorientierung. Gesellschaftliche Debatten und Entscheidungen über das Güterangebot gelten aus neoliberaler Sicht als Eingriff in die persönliche Freiheit des Konsumenten. Dagegen wird Gewinnorientierung als bedeutender Stimulator für wirtschaftliches Engagement angesehen. Das darauf beruhende Rentabilitätskalkül würde zudem ein Höchstmaß an Effektivität bewirken, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht zutreffen mag. Unberücksichtigt bleibt, dass häufig gesamtgesellschaftliche Belastungen entstehen und die Unternehmensleitungen und -eigentümer sich auf Kosten der Allgemeinheit und der Beschäftigten bereichern.

6. Habgier kontra Genügsamkeit. Das Streben nach persönlichem Reichtum wird als maßgeblicher Motivationsfaktor angesehen. Materielle Anreize erscheinen als unverzichtbar, was mit einem egozentrischen Menschenbild begründet wird. Ausgeschlossen wird, dass jemand aus gesellschaftlichem und ökologischem Verantwortungsgefühl bereit sein könnte, Konsumverzicht zu üben, ohne dass sein Leistungswille beeinträchtigt wird.

Je mehr der Neoliberalismus an Boden gewinnt, desto ausgeprägter sind die jeweils erstgenannten Optionen. Werden sie auf ein erträgliches Maß zurückgestutzt, können sie durchaus einen konstruktiven Zweck erfüllen. Zumal die Bürger des Westens durch neoliberale Leitbilder sozialisiert sind und nicht "über ihren Schatten springen" können. Dass ein zu starkes Schwenken zu den zweitgenannten Optionen problematisch ist, belegen die Erfahrungen der realsozialistischen Systeme aus der jüngsten Vergangenheit. Welche Gewichtung zwischen den beiden Polen als optimal anzusehen ist, hängt vom allgemeinen Werteverständnis ab und dürfte sich von Land zu Land unterscheiden.

Grundlagen und Veränderungen von Wertesystemen

Trotz jahrzehntelangen neoliberalen Drucks sind große Teile des westlichen Wertesystems wie auch jene anderer Kulturkreise erhalten geblieben. Dies war zu erwarten, da sie sich über einen längeren historischen Zeitraum entwickelt und bewährt haben, und somit eine relative Beständigkeit aufweisen. Wenn sie Veränderungen unterworfen sind, dann in der Regel durch Emanzipationsbestrebungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und externe Einflüsse.

Die traditionell bedeutendsten Träger von Wertesystemen sind religiöse Gemeinschaften. Als Basis dienen ferner humanistische Ideale mit unterschiedlichem ideologischem Hintergrund,  jedoch auch Annahmen zivilisatorischer oder rassischer Überlegenheit. Manche Wertkonstrukte werden aus mehreren Quellen gespeist. Sie haben zudem spezielle Ausprägungen in nationalen, regionalen, ethnischen und Sprach-Gemeinschaften.

Während der letzten Jahrzehnte ist der Einfluss der christlichen Kirchen zurückgegangen, weil sich die aufgeklärten und wissenschaftsorientierten Bürger des Westens vom Glauben an die Existenz eines belohnenden und strafenden Gottes abgewendet haben. Dass das entstandene Vakuum relativ leicht durch neoliberales Gedankengut gefüllt werden konnte, hat historische Gründe. Der Aufstieg des Kapitalismus in Europa und Nordamerika beruhte maßgeblich auf einem Menschenbild, das individuellen Leistungswillen betonte und wohl seinen stärksten Niederschlag in der protestantischen Ethik fand. Die globale Dominanz des Westens wurde als Beleg für die Überlegenheit des egozentrischen Werteverständnisses gewertet, was dessen Attraktivität erhöhte.

Personen, die nicht derselben Wertegemeinschaft wie ihre Umgebung angehören, sei es aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation, sei es aus eigener Überzeugung, werden vielfach ausgegrenzt. Dies ist besonders dann problematisch, wenn die verantwortlichen Wertehüter einen Absolutheitsanspruch erheben. Begründet wird die vermeintliche Einzigartigkeit der eigenen Werte mit religiöser Auserwähltheit, zivilisatorischer Überlegenheit oder einer Auserlesenheit der eigenen Rasse. Eine Unterdrückung von Minderheiten und imperiale Bestrebungen mit Kreuzzugmentalität sind die oftmalige Folge.

Egozentrisches Menschenbild als fragwürdiger Hintergrund

Die Bereitschaft, eigene Wertvorstellungen zu hinterfragen, nimmt naturgemäß mit zunehmendem Alter ab. Wenn Vertreter der älteren Generation großen Einfluss haben, wird ein Erneuerungsprozess gewöhnlich abgebremst. Dies führt zuweilen zu heftigen Generationskonflikten. Ferner bestehen vielerorts gravierende Unterschiede zwischen Stadt und Land, da die urbane Bevölkerung häufiger und intensiver mit anderen Kulturen und Lebensformen in Kontakt kommt und dadurch angeregt wird, etablierte Wertpostulate zu hinterfragen.  

Mit diesem Argument wird vielfach die Ablehnung westlicher Werte in Ländern wie Afghanistan begründet. Diese würde durch fehlenden Respekt und das Wedeln mit Dollarbündeln noch verstärkt werden. Eine solche Beobachtung mag korrekt sein, sie ignoriert jedoch die konkreten Erfahrungen der Bürger vor Ort. Durch den Umgang mit den westlichen Besatzern und den mit ihnen kooperierenden afghanischen Kräften offenbarte sich ihnen ein Menschenbild, das mit seinem schrankenlosen Streben nach persönlichen Vorteilen eigenen ethischen Grundsätzen widersprach. Es blieb ihnen nicht verborgen, wie die institutionalisierte Macht des Stärkeren Opportunismus, Korruption und Willkür förderte.

Aus westlicher Sicht handelten die eigenen Staatsbürger in Afghanistan korrekt, als sie die Bewohner des Landes zu Hilfskräften degradierten. Die verbündeten örtlichen Führer erschienen ein wenig rabiat, aber das Angebot an kooperationswilligen Kräften war ja beschränkt. Der Übergang von traditionellen zu westlichen Werten beflügelte ihren Freiheitsdrang, den sie oftmals extensiv auslebten. Aus neoliberaler Sicht gab es an den Handlungen der in- und ausländischen Machtträger nichts Ungewöhnliches. Vielmehr sei die eigentliche menschliche Natur zum Tragen gekommen, die nun einmal durch Machtstreben, Selbstbezogenheit und Konkurrenzdenken geprägt ist.

Die Behauptung, das egozentrische Menschenbild ließe sich biologisch erklären, ist ein zentrales Rechtfertigungselement des neoliberal geprägten Wertesystems. Andreas von Westfalen zeigt dagegen auf, dass es für diese Annahme keine wissenschaftlichen Belege gibt. Er verweist auf Untersuchungen über das Verhalten von Kleinkindern, wonach Altruismus einen weitaus größeren Stellenwert hat als allgemein angenommen. Ferner berichtet er von hochkomplexen Computermodellen, die die Entwicklungsetappen der Menschheit nachzeichnen und die verbreitete Annahme falsifizieren, in der Evolution hätten sich überwiegend Egoisten durchgesetzt. Westfalen schlussfolgert:

"Die in die Tiefe gehende Untersuchung der wahren Natur des Menschen gehört unbedingt wieder in das Zentrum des öffentlichen Interesses und des öffentlichen Diskurses, um endlich weitere schädliche Nebenwirkungen und immer mehr selbst erfüllende Prophezeiungen eines unzutreffenden Menschenbildes zu verhindern."

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