Politik auf dem Prüfstand: Westliche Werte und die Position der Linken (Teil 1)

Die schmähliche Niederlage der NATO und ihrer Verbündeten in Afghanistan zeigte zum wiederholten Mal, dass westliche Werte vielerorts auf wenig Resonanz stoßen. In diesem dreiteiligen Beitrag wird untersucht, was sie beinhalten, warum sie abgelehnt werden und wie sich die Linke positionieren sollte.
Politik auf dem Prüfstand: Westliche Werte und die Position der Linken (Teil 1)Quelle: www.globallookpress.com © Fabian Sommer/dpa

von Bernd Murawski

Dieser erste Teil wirft die Frage auf, weshalb sich die Linke westlichen Wertvorstellungen unterwirft, obwohl ihre politischen Kernziele nur bedingt mit diesen vereinbar sind. Im zweiten Teil wird der neoliberale Gehalt westlicher Wertesysteme illustriert und untersucht, wie dieser sich historisch etablieren konnte. Im dritten und letzten Teil wird der wachsende Widerstand gegen das neoliberal geprägte Werteverständnis thematisiert und eine Neuorientierung linker Politik gefordert.

Verunsicherung und Ohnmachtsgefühle bei der Linken

Das Ergebnis der Bundestagswahlen vom letzten Sonntag lässt sich mit drei Worten zusammenfassen: alles wie gehabt. Die Landesmutter Angela Merkel wird durch den Landesvater Olaf Scholz ersetzt, die inkompetente und konfliktschürende Außenpolitik eines Heiko Maas wird durch Annalena Baerbock fortgeführt und der neue Finanzminister Christian Lindner wird sich für eine Rückkehr zur "schwarzen Null" stark machen. Die wichtigste Veränderung neben dem massiven Einbruch der Unionsparteien dürfte der herbe Verlust der Linkspartei wie überhaupt die Zersplitterung auf dem linken Flügel sein.

Da es mangels realistischer Alternativen zur Ampel-Koalition kaum Stoff für kontroverse politische Debatten gibt, sollte die Linke die Wahlen zum Anlass nehmen, ihre politische Grundorientierung auf den Prüfstand zu stellen. Dabei geht es nicht um das Schicksal der einen oder anderen Partei, sondern um die Zukunft des gesamten linken Spektrums. Mit dem aktuellen Anspruch fällt es offenbar immer schwerer, die globalen Ereignisse und Tendenzen der Gegenwart adäquat zu erfassen.

Vieles scheint sich seit längerer Zeit in eine falsche Richtung zu bewegen. Das autoritäre China ist im Begriff, den Westen sowohl wirtschaftlich als auch in ökologischen und sozialen Belangen zu übertrumpfen. Die wachsende Unzufriedenheit der Bürger führt nicht zu einem Erstarken der Linken, sondern wird von rechten Populisten aufgesogen. Und die Machtübernahme der Taliban ist nicht nur für Befürworter der NATO-Intervention ein Schlag ins Gesicht, sondern auch für Vertreter der Linken, die manche Errungenschaften als verteidigungswürdig erachten.

In jedem dieser Fälle sind westliche Werte bedroht, denen sich progressive Oppositionelle gewöhnlich verpflichtet fühlen. Zwar beklagen sie die Verlogenheit der Politik im eigenen Land, für die bürgerliche Freiheiten, demokratische Strukturen und Rechtsstaatlichkeit vielfach nur Fassade sind. Gleichwohl wird ein globaler Vormarsch des Rechtspopulismus und autoritärer Herrschaftspraktiken konstatiert, der als noch größere Bedrohung wahrgenommen wird. Angesichts jener neuen Gefahren halten "Realos" einen Schulterschluss mit der politischen Elite für geboten, während "Fundis" in ein gesellschaftliches Abseits geraten.

Die Lage erscheint in jeder Hinsicht hoffnungslos. Wer Schlimmeres verhindern möchte, beschreitet den Weg anfangs kleiner und dann immer größerer Kompromisse, den die Grünen vor dreißig Jahren und die Sozialdemokraten etwa hundert Jahre davor einschlugen – mit bekanntem Resultat. Und wer standhaft bleibt, muss an den großen Knall glauben, der das gegenwärtige System beseitigt und die Elite entmachtet, ohne eine konkrete Vorstellung zu haben, was danach kommt. 

Das ambivalente Freiheitspostulat

Unübersehbar empfand die Linke Genugtuung, mit ihrer Kritik an der Afghanistan-Intervention richtig gelegen zu haben. Dennoch kam der rapide Zusammenbruch der vom Westen installierten Herrschaftsstrukturen für sie ähnlich überraschend wie für die politisch Verantwortlichen. Die Taliban werden offenbar von einer überwältigenden Mehrheit der Bürger als Befreier oder zumindest als kleineres Übel betrachtet. Damit dokumentiert die afghanische Bevölkerung gleichsam eine Ablehnung westlicher Werte. Zu fremd und abstoßend erscheint das Menschenbild, auf dem sie beruhen.

Dessen Grundlagen reichen bis ins späte Mittelalter zurück, nach Ansicht mancher Historiker bis zum frühen Christentum oder sogar zum antiken Griechenland. Das hervorstechende Merkmal der westlichen Zivilisation ist die zentrale Stellung des Individuums, dessen Freiheiten es zu maximieren gilt. Der Staat erscheint als Gegenspieler, der als Verwalter des Allgemeininteresses geneigt ist, den Entfaltungsspielraum der Bürger einzuschränken. Das Rechtssystem dient daher nicht nur dem Schutz vor kriminellen Akteuren, sondern auch vor der Übermacht des Staates.

Die Ausweitung der individuellen Freiheitsrechte ging einher mit deren Missbrauch durch Vertreter der Elite, die ihre Machtposition zum Nachteil der Bevölkerungsmehrheit nutzten. Um dem einen Riegel vorzuschieben, wurden über mehrere historische Etappen Instrumente entwickelt, die dem Mehrheitswillen Geltung verschaffen sollen: ein allgemeines Wahlrecht, öffentliche Meinungsfreiheit, das Recht zur Gründung politischer Vereinigungen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte.

In dieser knappen Skizzierung der Grundlagen des westlichen Werteverständnisses ist bereits der Widerspruch erkennbar, mit dem sich progressiv denkende, engagierte Bürger konfrontiert sehen. Einerseits wird ihnen die Gelegenheit gewährt, eigene Ansichten frei zu artikulieren und auf politische Prozesse einzuwirken. Andererseits kann die gesellschaftliche Elite ihr größeres Einflusspotenzial nutzen, um Eigeninteressen durchzusetzen und ihre privilegierte Stellung zu konsolidieren. Tatsächlich war sie bei den Bemühungen um Legitimierung, Kaschierung und Stärkung der eigenen Machtposition während der letzten Jahrzehnte ausgesprochen erfolgreich.

Dies sollte für führende Mitglieder der Linkspartei wie auch für andere namhafte Vertreter des linken Spektrums Anlass sein, das bürgerliche Freiheitspostulat zu hinterfragen. Dazu kommt es allerdings nicht, eher ist das Gegenteil der Fall. Als gut informierte und vernetzte, in Schrift und Rede artikulationsfähige und häufig charismatische Personen gehören sie selbst zur Elite im weitergefassten Sinn, zumindest zu deren intellektuellem Teil. Sie erfreuen sich in der Regel eines höheren Lebensstandards, obgleich sie auf manche Privilegien verzichten müssen, die sie bei systemkonformem Verhalten erlangt hätten. Sie mögen weiterhin Ideale von Chancengleichheit, sozialem Wohlergehen, Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit vertreten, ihre gesellschaftliche Interessenlage unterscheidet sich jedoch objektiv von der des politisch unversierten Durchschnittsbürgers.

Diskrepanz zwischen eigener Betroffenheit und Idealen

Permanenter Anpassungszwang verlangt neben eigenen Bedürfnissen und den realen Lebensumständen nach Kompromissen, was die Glaubwürdigkeit besonders jener Linken auf die Probe stellt, die verantwortliche Positionen bekleiden. Dass Standfestigkeit mit der Zeit bröckeln kann, dokumentierten die Grünen, als sie ihre pazifistische Grundhaltung sukzessive aufgaben. Noch am ehesten sind Personen vor opportunistischer Anpassung gefeit, die durch dramatische Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg, die Protestbewegung der 1960er und 1970er Jahre oder die Wende Anfang der 1990er Jahre geprägt wurden.

Für artikulationsfähige Linke mit einem größeren Kreis von Lesern bzw. Zuhörern haben persönliche Freiheiten vielfach einen höheren Rang als die sozioökonomische Lage der Massen.

Eine Einschränkung von Meinungsfreiheit und demokratischen Grundrechten beschneidet ihre Entfaltungsmöglichkeiten, während sie von Lohndrückerei, Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau allenfalls am Rande betroffen sind. Noch weniger tangiert sie Hunger, Armut und medizinische Unterversorgung, wie sie in wirtschaftlich schwach entwickelten und von Kriegen überzogenen Weltregionen bestehen. Gleichwohl verteidigen sie ihre Präferenz mit dem Hinweis, dass freie Meinungsäußerung Voraussetzung sei, um den Interessen der benachteiligten Bevölkerungsmehrheit Geltung zu verschaffen.

Wenn die Linke eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerungsmehrheit neben ökologischen Forderungen als Hauptziel deklariert, unterscheidet sie sich nicht prinzipiell von Wohltätigkeitsorganisationen, ja nicht einmal von anderen Parteien. Erheben deren Vertreter den Anspruch, sich für die Belange einfacher Bürger einzusetzen, dann meinen sie es überwiegend ernst. Denn je höher die Zufriedenheit der Bevölkerung ist, desto wahrscheinlicher können sie mit ihrer Wiederwahl rechnen.

Da sich die staatstragenden Parteien des Westens aber neoliberalen Prinzipien unterwerfen, stützen sie wirtschaftliche und politische Strukturen, die die Elite begünstigen. Wenn diese eigene Interessen durchsetzt, dann gewöhnlich zu Lasten einfacher Bürger. Für die Parteiführer wird es somit immer schwieriger, die Wählerschaft mit Versprechungen zu ködern. Ebenso wenig Erfolg dürften linke Parteien bei ihrem Bemühen haben, die allgemeine Lebensqualität durch fundamentale gesellschaftliche Veränderungen zu verbessern. Tatsächlich bestehen nur minimale Spielräume, vielmehr ist der politische Alltag durch Abwehrschlachten geprägt. Diese Erfahrungen machte die Linkspartei in kommunalen und Landesregierungen, und dass es auf staatlicher Ebene kaum anders aussieht, erlebt gegenwärtig die Linkskoalition in Portugal.

Akzeptanzängste als Hürde für eine Neuorientierung

Grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind augenscheinlich nicht realisierbar, solange die neoliberale Doktrin vorherrscht. Die Linke wäre daher aufgefordert, die bestehenden Sachzwänge aufzudecken und die Träger und Unterstützer der neoliberalen Agenda als Kontrahenten zu betrachten. Dazu gehören neben NATO und US-Regierung ebenso die EU-Führungsriege und die staatstragenden Parteien Deutschlands.

Kritik von links ist jedoch meist halbherzig, um nicht die Akzeptanz als Teil der westlichen Wertegemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Einen besonderen Druck verspürt die Linkspartei, da sie andernfalls aus dem "demokratischen Spektrum" gedrängt und als nicht kooperationsfähig betrachtet werden könnte. Sie würde – wie bereits einige kritische Intellektuelle – das Ziel von Diffamierungen und Unterstellungen durch politische Gegner in Medien und Politik werden und müsste damit rechnen, auf vielfältige Weise drangsaliert zu werden.

Gleichsam wäre die Linke aufgefordert, selbst auf Distanz zum neoliberalen Mainstream zu gehen. Soll sie sich nun mit jenen Kräften solidarisch erklären, die in dessen Schusslinie geraten sind, oder zumindest einen fairen Umgang mit ihnen verlangen? Da es sich bei den Betroffenen vielfach um autoritäre Herrscher oder Rechtspopulisten handelt, weisen Vertreter der Linken ein solches Ansinnen von sich. Stattdessen sehen sie sich veranlasst, zur Rettung westlicher Werte und zur Verteidigung emanzipatorischer Errungenschaften mit den Neoliberalen an einem Strang zu ziehen. Zuweilen drängen sie sich in die vorderste Reihe, um ihre "Demokratiefähigkeit" unter Beweis zu stellen.

Dabei waren es oftmals autoritäre Regierungen, die sich nachhaltig für die Interessen der Bevölkerungsmehrheit einsetzten. Erinnert sei etwa an die Sozialgesetzgebung unter Bismarck, mit der die Altersarmut erheblich reduziert wurde. Gleichfalls gelang es dem Hitler-Regime, den Menschen nach dem Wirtschaftseinbruch Anfang der 1930er Jahre mittels Arbeitsbeschaffungs- und Sozialprogrammen eine Perspektive zu bieten und den Massenwohlstand anzuheben. Obwohl die zugrundeliegenden Motive jeweils die Zurückdrängung der Arbeiterbewegung und eine Stärkung des Nationalbewusstseins mit dem Ziel bedingungsloser Unterwürfigkeit waren, was schließlich die Führung von Kriegen ermöglichte, wurden zugleich linke Kernforderungen umgesetzt.    

Dass eine Politik im Interesse der Mehrheit der Bürger notwendig demokratischer Verhältnisse nach westlichem Verständnis bedürfe, hat die Volksrepublik China während der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll widerlegt. Deren Führung erhält nach dem "Edelman Trust Barometer" deutlich größere Zustimmung als die Regierungen westlicher Staaten. Sollte es ihr, wie vielerorts unterstellt wird, vorrangig um Machtsicherung gehen, dann erscheint dies kaum verwerflich, wenn zugleich die Wünsche und Erwartungen der Bürger erfüllt werden. Noch ein Kuriosum am Rande: Trotz Einschränkung individueller Freiheiten als dem Kern westlichen Werteverständnisses nehmen nach Forschern des Meinungsforschungsinstituts Dalia Research nur 20 Prozent der Chinesen und 22 Prozent der Vietnamesen ein Demokratiedefizit wahr, bei Werten von 27 Prozent für Deutschland und 36 Prozent in Frankreich.

Wenn das westliche Wertesystem schon kein Garant für steigende Lebensqualität der Bürger ist, wie sieht es bei der zweitwichtigsten Forderung der Linken, der Sicherung des Friedens aus? Zwar gelten autoritäre Herrscher als machtgierig und unberechenbar. Dennoch bedurfte es nahezu immer nationalistischer, religiöser oder anderweitiger Vorwände, um die Allgemeinheit für Kriege zu mobilisieren. Wenn als weiterer Aspekt Wirtschaftsinteressen berücksichtigt werden, dann geht die größere Kriegsgefahr in der Gegenwart augenscheinlich von westlichen Staaten aus. Die Militäreinsätze der USA und ihrer Verbündeten während der letzten Jahrzehnte sind ein unleugbarer Beleg. Zudem werden Wirtschaftssanktionen, Sabotageakte, Ausspähaktionen und Medienkampagnen gegen Staaten, die sich dem neoliberalen Zugriff entziehen wollen, als Schritte in Richtung heißer Krieg interpretiert.

Eine Kritik am westlichen Wertesystem sollte dieses nicht pauschal verdammen, sondern muss auf die Identifizierung und Eliminierung von neoliberalem Gedankengut fokussiert sein. Dass dies überhaupt eindringen konnte, ist offenbar der Verabsolutierung des Freiheitspostulats zu Lasten der Forderung nach Rücksichtnahme und Verantwortung gegenüber anderen Gesellschaftsmitgliedern geschuldet. Es wäre die Aufgabe linker Politik, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden Zielsetzungen anzustreben.

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