Belarus – Hintergründe und Tatsachen

Die Sowjetunion war und Russland ist in den Konzepten amerikanischer Geopolitiker der entscheidende Faktor auf dem europäischen Schachbrett. Die Ereignisse der letzten Zeit in der Republik Belarus stellen eine Fortsetzung des verdeckten Krieges gegen Russland dar.
Belarus – Hintergründe und TatsachenQuelle: Reuters © Vasily Fedosenko

von Prof. Dr. Anton Latzo

Schon im 20. Jahrhundert war diese Politik darauf ausgerichtet, den Zusammenbruch des Sozialismus und besonders der UdSSR herbeizuführen und ein System der Staatenbeziehungen zu schaffen, das die Errichtung der Vorherrschaft der USA in der Welt ermöglicht. Die Ereignisse der letzten Zeit in Belarus stellen eine Fortsetzung des verdeckten Krieges gegen Russland und China zur Durchsetzung einer Weltordnung nach dem Bilde Henry Kissingers und der von Zbigniew Brzeziński skizzierten "Politik des großen Schachbretts" dar.

Im Zuge des großen antisozialistischen Kreuzzuges erfolgte dazu schon in den 1970er Jahren die Unterwanderung und Zerschlagung der starken kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern. Ende der 1980er Jahre folgte die Beseitigung des Sozialismus in den Staaten Osteuropas, die Zerschlagung der Warschauer Vertragsorganisation, um schließlich den entscheidenden Schlag zu führen: zur Auflösung der UdSSR.

In seinem Buch "Die einzige Weltmacht" formulierte Brzeziński den Willen der USA, die "einzige" und sogar die "letzte", also ewige(!) Weltmacht zu sein. Eurasien ist diesem Konzept entsprechend "das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird".

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Dabei geht er davon aus, dass eine Macht, die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch die Vorherrschaft über die gesamte Welt gewonnen hätte. "Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt – ist der Schauplatz des global play", wobei "eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist."  Brzeziński begründet diesen Standpunkt mit dem Hinweis darauf, dass Eurasien der mit Abstand größte Kontinent ist, auf dem 75 Prozent der Weltbevölkerung leben und auf dem sich drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen befinden.

Er weist darauf hin, dass "Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet … ausnahmslos eurasische Staaten sind". Das Ziel der USA-Außenpolitik müsse daher darin bestehen, "dass kein Staat oder keine Staatengruppe die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen". Die USA müssen "das Emporkommen eines Rivalen um die Macht … vereiteln".

Ein auf die NATO ausgerichtetes Europa habe dabei die Funktion des Brückenkopfes. Verwirklicht wird dieses Vorhaben durch die Osterweiterung der NATO und der EU, durch die systematische militärische, ökonomische und politische Verfestigung dieses Zustandes und seiner territorialen Ausdehnung auf Territorium der ehemaligen Sowjetrepubliken. "Durch eine glaubwürdige transatlantische Partnerschaft muss der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, dass ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt", so Brzeziński.

Diese Vorstellungen wurden schon oft zitiert. Aber es scheint immer wieder notwendig zu sein, sie immer wieder zurück in die Erinnerung zu rufen, um das tatsächliche Wesen bestimmter Vorgänge in der aktuellen Weltpolitik zu verdeutlichen. Denn sie wurden ja nicht nur verkündet und dann vergessen, sondern haben eine Politik bestimmt, die ganze Staaten die Existenz gekostet und Frieden und Sicherheit gefährdet hat.

Im Rahmen dieses Konzepts wurden die ehemals sozialistischen Staaten durch eine Kombination von NATO- und EU-Politik "befreit", die NATO-Osterweiterung vollzogen und immer auch zugleich der Einfluss der USA gesichert. Die Länder wurden unter der Losung "Hilfe" für das ausländische Kapital geöffnet, das politische und Rechtssystem wurden an das westliche Verständnis angepasst. Die Konzerne konnten sich somit das Wirtschaftspotenzial der "befreiten" Länder sichern und die Medien konnten so gestaltet werden, dass sie die "Zivilgesellschaft" formen konnten. Das heißt, sie konnten die Öffentlichkeit im Sinne der Freiheit des Kapitals und seiner Demokratie bearbeiten. 

Mit der Aufnahme der ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten in die NATO und die EU wurde zwar ein Ring von der Ostsee bis ins Schwarze Meer gezogen. Zwischen diesem jetzigen EU- und NATO-Raum und Russland befindet sich aber nach wie vor ein weiterer Nord-Süd-Streifen: die ehemaligen Sowjetrepubliken von Aserbaidschan und Georgien über die Republik Moldova (mit Transnistiren) bis zur Ukraine und nach Belarus, der den unmittelbaren Zugang zu Russland und seinen Grenzen zumindest erschwert. Vor allem der Ukraine und auch Belarus kommt eine besonders wichtige strategische Rolle zu, wenn die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ziele gegenüber Russland und Eurasien verwirklicht werden sollen. Wer in diesem Raum das Sagen hat, bestimmt nicht nur die strategische, militärische und politische Konstellation. Er ist in der Lage, die außenwirtschaftlichen Vorgänge zu kontrollieren, wie zum Beispiel jene über die stetig ausgebaute Neue Seidenstraße. Allein im Juli 2020 wurden – trotz Einschränkungen durch die Pandemie – 1.232 Frachtzüge von China nach Europa geschickt! Wer die Entwicklungen in der Ukraine bewerten und die Ereignisse in Belarus einordnen will, kann dies nicht tun, ohne solche Aspekte zu berücksichtigen.

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Man darf dabei auch nicht übersehen, das Brzeziński für die USA auch eine Vorstellung entworfen hat, wonach Russland in drei oder vier Teile gepalten werden sollte. "Einem locker konföderierten Russland – bestehend aus einem europäischen Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen", führte er aus. Wenn man berücksichtigt, dass diese Auffassung den Vorstellungen von Harold Mackinders nahekommt, die dieser bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, und dass von ihr schon andere Konzeptionen und Handlungen im 20. Jahrhundert beeinflusst wurden. Die wurden teils ebenfalls für eine Illusion gehalten, führten aber dennoch zu verheerenden Kriegen, und daher empfiehlt es sich, sie nicht zu vernachlässigen! Auch die Auflösung der UdSSR war einmal unvorstellbar!

Und auch im Falle der Ukraine hat eine Kombination zwischen Osterweiterung der EU und NATO-Expansion unter den gegebenen Umständen den Einfluss der USA in diesen Raum wunschgemäß ausgedehnt und gefestigt. Die Politik der USA und der NATO verwandelte inzwischen das Territorium des Baltikums und das Schwarze Meer zugleich in ein militärisches Aufmarschgebiet gegen Russland. Auch das war einmal unvorstellbar!     

Vor allem die USA und NATO wollen – bei aktiver Teilnahme der EU – die Situation in Zusammenhang mit den diesjährigen Präsidentenwahlen in Belarus nutzen, um die Lage in ihrem Sinne weiter zu verändern. Sie glauben, die inneren Schwierigkeiten, mit denen Belarus konfrontiert ist, nutzen zu können, um sich einzumischen, um die Kräfteverhältnisse nicht nur in Belarus und in der Region unmittelbar an der Grenze zu Russland, sondern in ganz Europa weiter zu ihren Gunsten  vorantreiben zu können. Sie versuchen, der Bevölkerung von Belarus die Regeln vorzuschreiben, nach denen sowohl ein Regime-Change in Belarus als auch eine Veränderung im Sinne der Schaffung günstigerer Bedingungen für die Verwirklichung der antirussischen Ziele erfolgen sollte.

Es ging und geht also nicht nur um ein bilaterales Verhältnis der USA oder der EU zu Belarus, sondern das ist Geopolitik, der Kampf um den postsowjetischen Raum. Und zwar beim Fortbestehen und der weiteren Verschärfung der Lage in der Ukraine!

Dafür wurden durch die USA, die NATO und die EU ökonomische, politische, militärische und ideologische Mittel eingesetzt. Da ist das Manöver "Defender Europe 2020". Nur 15 (!) Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt inszeniert, übte man diese größte Truppenverlegung aus den USA nach Europa, die in den vergangenen 25 Jahren stattgefunden hat. Laut amerikanischen Erklärungen ist dieses Vorgehen ähnlich der einstigen Übung REFORGER (Return of Forces to Germany), also einem Muster der Manöver, die in den 1960er bis 1990er Jahren stattfanden und als Vorbereitung der NATO auf einen potenziellen Konflikt "mit dem Ostblock" galten. Das logistische Zentrum der Übungen lag und liegt in Deutschland. Außerdem wurde von der NATO, den USA und Deutschland in die baltischen Staaten militärisch kräftig investiert.

Hunderte Millionen Dollar und Euro wurden auch für die langjährige, systematische Tätigkeit zahlreicher NGOs in Belarus von den USA, der EU sowie ihrer Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt. Dazu gehören die rechtsliberale Stiftung "Liberale Moderne" der Grünen, andere amerikanische, deutsche und weitere ausländische Stiftungen.

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Die Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja, die sich als Führerin der Opposition anbot, sei bisher nur Hausfrau gewesen. Man verschweigt aber, dass ihre Sprecherin zum Beispiel an der East European School of Political Studies in der Ukraine studiert hat. Diese Institution wird unter anderem vom US-amerikanischen Freedom House, der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. und den Open Society Foundations des bekannten Finanzmagnaten György Schwartz (George Soros) gefördert.

Nach jahrzehntelangem Stillstand in den politischen Beziehungen zwischen den USA und Belarus besuchte John Bolton, der damalige Sicherheitsberater von Präsident Trump, im Sommer 2019 das Land, um die Beziehungen wieder zu verbessern. Er versprach u.a. die Unterstützung der Souveränität und Unabhängigkeit von Belarus durch die USA. Im Februar 2020 folgte ein Besuch des USA-Außenministers in Minsk. Lukaschenko wies darauf hin, dass er eine diplomatische Aufwertung der Beziehungen nutzen möchte, um eine "starke, konstruktive Beziehung mit den Vereinigten Staaten" aufzubauen, die auf "gemeinsamen Werten und Prioritäten" beruhe. Offensichtlich war der Wille, antirussische Narrative zu bedienen. Dazu nutzte Außenminister Pompeo besonders den Streit zwischen Belarus und Russland über die Energiepreise. Er bot zum Beispiel an, Belarus zu "100 Prozent" zu beliefern.

Die USA, die NATO und die EU nutzten in den letzten Jahren und besonders vor den Wahlen alle sich ihnen bietenden Mittel, um die Stimmung im Land anzuheizen und sie in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und in einem Land, das plötzlich aus seinem historisch gewachsenen Verbund herausgerissen wird, gibt es allerorten und zu jeder Zeit viele latente Konflikte, die gelöst oder geschlichtet werden müssen.

Russland mahnt laut Außenminister Lawrow, die schwierige Lage in Belarus nicht zu missbrauchen und einen normalen, gegenseitig respektvollen Dialog zwischen Macht und Gesellschaft nicht zu ruinieren. Russland gehe davon aus, dass man dieses Land nicht nur als geopolitischen Raum betrachtet. Es ist innen- und außenpolitisch, geo- und europapolitisch destruktiv und gefährlich, dieses Land zu einer Entscheidung nach dem Motto zu drängen, sich entweder mit Russland oder mit Europa oder mit den USA zu verständigen. Er erinnerte an das Beispiel Ukraine!

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