"Bisher lief alles ganz gut" – Bidens US-Finanzsystem auf der Kippe
Von Elem Chintsky
Ein ehemaliger US-Finanzminister unter Clinton, Lawrence Summers, publizierte im vergangenen Februar mit einem Wirtschaftspapier ein indirektes Eingeständnis, dass zuletzt die Biden-Regierung (de facto aber seit der Ronald Reagan-Administration) mit vielen staatlich kuratierten und erhobenen Wirtschaftszahlen mutmaßlich falschliegt. Auch andere jüngste Quellen legen mittlerweile dar, dass wichtigste Indikatoren für den Zustand einer Volkswirtschaft – also Arbeitslosenzahlen, neue Arbeitsplätze, offizielle Inflationsrate – in den USA vollkommen verfälscht sind.
Jedenfalls zielt das Papier von Summers teilweise darauf ab, ein alternatives und genaueres Bild der Inflation zu zeichnen, indem es das System des Wirtschaftswissenschaftlers Arthur Okun aus der Zeit vor 1983 einbezieht. Dadurch würden persönliche Zinssätze und die Kosten für Heimfinanzierung berücksichtigt. An dieser Stelle sofort die Frage: Das hat man seit 1983 bereits nicht mehr gemacht? Warum?
Dadurch, dass man diese Messgrößen, die zuletzt vor 42 Jahren als relevant erachtet wurden – ignorierte, entstand ein ungenaueres Bild der Inflation in den USA, so der sich diplomatisch ausdrückende Summers.
Nach der Publikation gab Summers eine Zusammenfassung seiner These über X (ehemals Twitter) ab:
"Vor 1983 waren die Hypothekenkosten im Verbraucherpreisindex enthalten, ebenso wie die Zahlungen für Autos vor 1998. Jetzt enthalten die Preisindizes keine Kreditkosten. Als die Zinssätze im letzten Jahr sprunghaft anstiegen, erfasste die offizielle Inflation daher nicht in vollem Umfang die Auswirkungen, die dies auf das Wohlbefinden der Verbraucher haben würde …
Wir zeigen, dass wir, wenn wir uns bemühen, den Verbraucherpreisindex der Okun-Ära zu rekonstruieren – bei dem die Inflation im letzten Jahr einen Höchststand von etwa 18 Prozent erreicht hätte – 70 Prozent der Kluft in der Verbraucherstimmung erklären können, die wir im vergangenen Jahr gesehen haben."
Ferner kommen Summers und seine Co-Autoren in ihrem Februar-Papier zu einer karikaturhaft evidenten Schlussfolgerung (S. 25): "Länderübergreifende Untersuchungen bestätigen, dass die Verbraucher in aller Welt auf die Kosten des Geldes achten."
Heureka. Mit anderen Worten – Verbrauchern im Westen, besonders die der ohnehin rasant schwindenden Mittelklasse, die bisher versucht hatten zu sparen und jeglicher auch nur bescheidener Zukunftsvorsorge (z. B. ein Eigenheim) nachzukommen, ist die tragisch schwindende Kaufkraft ihrer Nationalwährungen wichtig. Ähnlich, wie mit dem Sauerstoff zum Atmen, postulieren Summers und Konsorten per purer Didaktik, dass auch ein stabiles, gesetzliches Tauschmittel zum Wertetransfer (Geld) durchaus wichtig für das Überleben im banalen Alltag sein könnte. Das Papier ist dahin gehend begrenzt, dass es einfach aufzustellende Prognosen weitestgehend verweigert und ein komplexeres Rätsel präsentiert, als es eigentlich sein müsste. Höchstens über ein "neues, wirtschaftliches Paradigma" (S. 26) wird spekuliert. Klartext: Das US-dominierte, westliche Finanzsystem steht kurz davor, in die Ära der Multipolarität gedrängt und entlassen zu werden. Dabei werden für die dort ansässigen großen Massen von Menschen enorme Verluste entstehen, nicht nur materieller Natur. Simultan zu dem schwindenden monetären US-Einfluss in der restlichen Welt, werden die gegenwärtigen und bald kommenden Kriege (Ukraine, Israel – Palästina und Taiwan), in die die USA so tief involviert sind und noch sein werden – die gewaltsame, eskalierende Entbindung Washingtons von der einstigen, hegemonialen Größe, unbarmherzig illustrieren.
In dem ökonomischen Forschungspapier Summers’ werden zum Beispiel "government debt", "public debt" beziehungsweise "sovereign debt" (Staatsschulden bzw. staatliche oder öffentliche Zahlungsverpflichtungen) mit keiner Silbe erwähnt. "Debt", also Zahlungsverpflichtungen, werden zwar diskutiert, aber lediglich für den Verbraucher in Bezug auf den privaten Sektor: die Automobilindustrie, Kreditkarten-Schulden, Studienkredite. Dabei hätte man auch denken können, dass die mittlerweile eine Billion (Anmerkung: das sind 1.000 Milliarden) US-Dollar, die Joe Bidens Regierung mittlerweile alle 100 Tage auf die gesamten US-Staatsschulden (34,63 Billionen US-Dollar) obenauf stapelt, eine flüchtige Erwähnung wert wäre. Das sind immerhin, 3,6 Billionen US-Dollar in nur einem Kalenderjahr – knapp 10 Prozent Wachstum per annum.
Dieses "neu gedruckte" Geld, das nie direkt den herkömmlichen Verbrauchermarkt erreicht, sind Währungseinheiten, die von der privaten US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) direkt in den US-Bankensektor eingespeist werden. Sie werden also praktisch an sich selbst weitergegeben – sind doch die größten Inhaber der mächtigsten US-angelsächsischen Geldinstitute seit hundert Jahren per klassischer Kartell-Struktur gleichzeitig die namenlosen Gönner und Stifter hinter der Fed. Erst in pathologisch multipler Verzinsung erreichen diese neuen, aber schon zerschnipselten US-Dollar den inländischen Verbraucher und den nichts ahnenden Auslandsinvestor in der Form neuer US-Staatsanleihen. Nur dank des noch am seidenen PR-Faden hängenden "guten Rufs" des US-Dollars in den Vasallen-Ländern von Onkel Sam ist es überhaupt noch möglich, dieses Pyramidenspiel, mit einer bunten Nebelmaschine obenauf, weiter rattern zu lassen – zum gravierenden Nachteil auch der EU und anderer US-Satelliten. Hier ein analoges Zitat dazu von Edward Gibbons aus "The Decline and Fall of the Roman Empire" (zu Deutsch "Verfall und Untergang des Römischen Imperiums"):
"Das römische Imperium schien ewig zu bestehen, basierte aber auf dem zerbrechlichen und vergänglichen Fundament der öffentlichen Meinung, die durch die Laune eines einzelnen Herrschers oder einer wankelmütigen Bevölkerung schnell verändert werden kann."
Erst kürzlich hat die Fed eingestanden, dass staatlich kuratierte Statistiken über den US-Arbeitsmarkt um 800.000 Arbeitsplätze überschätzt worden sind. Dieser Prozess der Verfälschung – aus der Feder der Biden-Regierung – bahnte sich schleichend seit 2022 an. Konkret hatte Washington der US-Öffentlichkeit von einem verheißungsvollen monatlichen Arbeitskräftezuwachs von 230.000 Personen erzählt – laut neuester Erkenntnisse seien es im relevanten Zeitraum (Kalenderjahr 2023) lediglich 130.000 gewesen. Ganz zu schweigen davon, dass man die "Gewinnung einer Arbeitskraft" als Kategorie so breit und verschleiert wie möglich darzustellen versuchte, um die extrem niedrige Qualität dieser Neuzugänge in den US-Arbeitsmarkt zu kaschieren.
Einem so gründlichen Wirtschaftsinsider wie Summers sind Schusseligkeitsfehler in seiner Präsentation "Die Kosten des Geldes sind Teil der Lebenshaltungskosten: Neue Erkenntnisse über die Anomalie der Verbraucherstimmung" schwer vorzuhalten. Zumal dieser als einer der Architekten der US-Finanzkrise von 2008 und ihrer neoliberalen "Schlichtung" gilt – eine Zeit, in der die "weisen Beobachtungen von 2024" tatsächlich noch etwas hätten bewirken können.
Eher handelt es sich wohl um eine penibel dosierte Art eines "kontrolliertes Medien-Lecks", um den bald kommenden Wirtschaftskollaps des internationalen US-Dollar-Systems irgendwie zu rationalisieren und ihm ein Antlitz der gründlichen, empirischen Wirtschaftlichkeit zu verleihen. Auf den zweiten Blick zeigt sich hier der Versuch einer auffällig verspäteten Expertise des selbst verschuldeten US-Systems, eine pseudo-kompetente und weise vorausschauende Miene zu verleihen. Deshalb wurde Summers vorgeschickt, um das zu "offenbaren", was aufmerksame Normalsterbliche ohnehin bereits seit Jahren besorgt beobachten konnten. Seiner akademisch-moralischen Pflicht, dies bereits im Jahr 2008 zu tun, kam er mit allem opportunistischen Vorsatz nicht nach.
Allein die beiden Indikatoren – US-Staatsschulden und ihr Hauptinstrument, andere Länder mit den eigenen Schulden überzubelasten, nämlich die US-Staatsanleihen – spielen hinter den Kulissen enorme Rollen bei den eigentlichen "Kosten des Geldes", für welche durchschnittliche Verbraucher solch ein existenzielles Interesse hegen – zur "großen intellektuellen Überraschung" westlicher Wirtschaftsweisen wie Summers.
Weitet man den Blick auf andere Disziplinen wie die Kulturanthropologie und die moralisch-ethische Zusammensetzung einer Zivilisation aus, so gibt ein weiteres Zitat von Gibbons Hinweise darauf, wohin die US- und EU-Reise geht:
"Der Niedergang und der Fall Roms war ein langsamer und qualvoller Prozess, der durch interne Streitigkeiten, ausländische Invasionen und die Zersetzung moralischer Werte gekennzeichnet war. Es war die tragische Geschichte einer einst großen Zivilisation, die durch ihre eigene Selbstüberschätzung zu Fall gebracht wurde."
Schon heute sieht man in der westlichen Staatsräson – ihrer blutrünstig ausgehöhlten Deutungshoheit, ihrer stumpfsinnig-bösartigen Diplomatie, ihrer kleingeistigen wirtschaftlichen Beziehungen und der eigenen moralischen Überheblichkeit, der sie sich scheinbar unwiderruflich verpflichtet hat, dass es dort ein gewisses Instrument gibt, das weitaus kostbarer und rarer geworden ist, als der inflationäre US-Dollar (sowieso), aber sogar der galoppierende Bitcoin oder pures, Äonen überdauerndes Gold – nämlich: die Demut.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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