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Nur um Russland zu bestrafen: Der Westen ist bereit, sein Finanzsystem zu zerstören

Die Staatslenker im Westen zeigen in Zeiten tiefgreifender Veränderungen eine seltsame Mischung aus Selbstsicherheit und Angst. Es scheint, als müsse der Status quo mit aller Macht verteidigt werden. Die Weltordnung wirkt wahrlich schizophren.
Nur um Russland zu bestrafen: Der Westen ist bereit, sein Finanzsystem zu zerstörenQuelle: Gettyimages.ru © Alex Gottschalk / DeFodi Images via Getty Images

Von Henry Johnston

US-Finanzministerin Janet Yellen ist die jüngste Stimme, die sich dem wachsenden Chor westlicher Offizieller angeschlossen hat, die eine Beschlagnahme der 300 Milliarden US-Dollar eingefrorener Devisenreserven Russlands zugunsten der Ukraine fordern. Dies geschah, nachdem der britische Premierminister Rishi Sunak kürzlich einen Leitartikel verfasst hatte, in dem er den Westen dazu aufforderte, bei der Beschlagnahme der russischen Vermögenswerte "mutiger" vorzugehen.

Ungeachtet der Zurückhaltung, die in manchen Teilen Europas in dieser Frage herrscht – und trotz verschiedener Warnungen, dass eine solche Maßnahme sowohl offensichtlich rechtswidrig als auch schädlich für die Integrität des internationalen Finanzsystems wäre –, scheint diese Idee eine eigene Dynamik entwickelt zu haben, insbesondere in den Fluren der Macht in Washington und London.

Was wir derzeit beobachten, ist ein anschauliches Beispiel für die Denkweise, die einen vermeintlichen kurzfristigen Etappensieg über die Verpflichtung zur Wahrung der Integrität einer Institution stellt, der gleichzeitig aus dem Vertrauen in diese Integrität resultieren würde. Wie wir gleich sehen werden, ist es auch eine Manifestation einer besonderen Form eines paradoxen Impulses, der in Zeiten tiefgreifender Veränderungen entsteht.

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der betreffenden Institution um das vom Westen dominierte globale Finanzsystem, dessen Herzstück der US-Dollar ist. Die vollständige Beschlagnahme der Devisenreserven der russischen Zentralbank, die nach Beginn des Ukraine-Konflikts im Februar 2022 eingefroren wurden, würde der Glaubwürdigkeit dieses Finanzsystems einen weiteren verheerenden Schlag versetzen. Auch wenn die meisten dieser Vermögenswerte tatsächlich in Europa gehalten werden, gibt es keinen Zweifel darüber, wer letztlich das Sagen hat und wessen Glaubwürdigkeit am Ende auf dem Spiel steht.

Natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wie viel Integrität das System, das um den US-Dollar herum existiert, jemals hatte. Und sicherlich diente der Bretton-Woods-Rahmen, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde, vor allem den wirtschaftlichen Interessen der siegreichen USA. Es kann jedoch nicht bestritten werden, dass der US-Dollar jahrzehntelang im gesamten geopolitischen Spektrum nicht nur als einen den Markt bestimmenden Bezugspunkt diente und als Handelswährung galt, sondern auch als sicherer Hafen für die Anlage von Vermögenswerten angesehen wurde. Mit der zunehmenden Liberalisierung des internationalen Handels wurden Annahmen über ein sicheres und verlässliches und auf dem US-Dollar basierendes System in alle Formen von Wirtschafts- und Handelsstrategien eingebaut. Solche Annahmen wurden zu einem wesentlichen Bestandteil der Struktur des globalen Finanzsystems.

Wo mit dem US-Dollar verbundene Risiken erkannt wurden, wurden sie größtenteils im Bereich der Zinspolitik identifiziert – mit anderen Worten: Es handelte sich dabei eher um Marktrisiken als um Risiken, die dem System selbst innewohnen. Eine Reihe von Krisen in Schwellenländern während der 1980er- und 1990er-Jahre sorgte dafür, dass zahlreiche Länder über die Gefahren einer übermäßigen Dollarverschuldung und über die Gefahren, die eine US-Zinserhöhung mit sich bringen können, beunruhigt waren.

Doch eine der Schlussfolgerungen, die viele Länder aus diesen Vorgängen zogen, war die Notwendigkeit, größere Dollarreserven als Bollwerk gegen mögliche Erschütterungen auf dem Finanzmarkt anzulegen. Zwischen den Jahren 2000 und 2005, direkt im Anschluss an zwei Jahrzehnte, die von Krisen gebeutelt waren und oft durch steigende Zinsen auf den US-Dollar ausgelöst wurden, häuften die Schwellenländer sage und schreibe Dollarreserven in einem Rekordtempo von etwa 250 Milliarden US-Dollar pro Jahr an – oder im Schnitt 3,5 Prozent ihres BIP – ein Niveau, das fünfmal höher lag als noch Anfang der 1990er-Jahre.

Mit anderen Worten: Die Schwellenländer reagierten auf Finanzkrisen, die vom US-Dollar ausgingen, indem sie ihre Bestände an US-Dollar erhöhten. Dies unterstreicht die Art und Weise, wie das mit dem US-Dollar verbundene Risiko damals wahrgenommen wurde. Es kam einfach niemandem in den Sinn, dass ein höheres Engagement in US-Dollar an sich schon ein Risiko bedeutet. Die Vorstellung, dass staatliche Devisenreserven im Wert von Hunderten von Milliarden US-Dollar einfach beschlagnahmt werden könnten, wenn ein Staat mit der Oberaufsicht des Finanzsystems in Konflikt gerät, spielte in keiner der angestellten Überlegungen eine Rolle.

Die Verwendung des US-Dollars als Waffe hat in den vergangenen Jahren eine bisher ungeahnte Risikoquelle offenbart. Dass die Verwendung des US-Dollars als Devisenreserve nun mit einem politischen Risikoaufschlag verbunden ist, stellt bereits eine gravierende Neuausrichtung der Sicht auf diese Währung dar. Die Folgen davon sind bereits für alle sichtbar in Form der zunehmenden Entdollarisierung, während viele in den Fluren der Macht der westlichen Welt diesen Trend weiterhin zu ignorieren scheinen.

Aber vielleicht noch heimtückischer ist, dass diejenigen, die eine Beschlagnahmung der russischen Devisenreserven fordern, damit ein Grundprinzip der gesamten liberalen Idee auf den Kopf stellen.

Eine liberale Gesellschaft oder ein auf Rechtsstaatlichkeit basierendes System – man kann es nennen, wie man möchte – wird nicht dadurch zusammengehalten, dass sich alle Beteiligten über Ergebnisse und Richtlinien einig sind. Sondern weil ein Konsens darüber besteht, welche Prozesse und Regeln zur Anwendung kommen, durch die bestimmte Ergebnisse und Richtlinien implementiert werden. Diese Prozesse und Regeln dienen nicht dazu, bestimmte Ergebnisse zu garantieren, und sie können tatsächlich auch zu Ergebnissen führen, die im Widerspruch zu den Interessen derjenigen stehen, die diese Prozesse und Regeln kontrollieren.

Mit dem Vorhaben, die russischen Vermögenswerte zu beschlagnahmen, sehen wir, dass mit dem gewünschten Ergebnis ein Akt zur Verteidigung der liberalen Ordnung propagiert wird: Die Bestrafung eines Russlands, das die liberalen Werte unterdrückt, und die gleichzeitige Unterstützung der auf eine liberale Demokratie zustrebenden Ukraine, während die Integrität der Prozesse und Regeln mittlerweile völlig zweitrangig geworden ist. Da sich das gewünschte Ergebnis nicht aus einer vernünftigen Anwendung bestehender Prozesse und Regeln ergibt, wird nach einer radikal anderen Interpretation derselben gesucht. Wenn westliche Offizielle fordern, "einen legalen Weg" zur Beschlagnahmung der Vermögenswerte zu finden, meinen sie in Wirklichkeit, dass das Ergebnis von größter Bedeutung ist und jedes legale Feigenblatt gut genug sein wird, um es zu rechtfertigen.

Um es deutlich auszudrücken: Die liberale Ordnung wird nicht mehr durch einen Appell an ihre tieferen Prinzipien verteidigt, sondern durch die Bemühungen, Ergebnisse zu befürworten, die oberflächlich betrachtet ihren Interessen zu dienen scheinen – selbst wenn diese Ergebnisse eindeutig aus einem Ansatz hervorgehen, der jeder Idee von Liberalismus widerspricht.

Wenn diese äußerst wichtige Unterscheidung zerfällt – so wie es derzeit geschieht – besteht die Herausforderung darin, die tiefere Veränderung nicht im Sinne eines anderen Ergebnisses, sondern im Sinne einer Transformation der Prozesse zu sehen, die das gewünschte Ergebnis hervorbringen. Anhänger der quantitativen Analyse können sich das wie eine statistische Prozesskontrolle vorstellen, bei der man versucht festzustellen, ob ein Prozess innerhalb der Spezifikationen geblieben ist oder eine Art Verschiebung erfahren hat.

Der spanische Philosoph des 20. Jahrhunderts, José Ortega y Gasset, beschrieb den Aufstieg eines bestimmten Typs von Menschen in der westlichen Zivilisation als jemanden, der die Institutionen, die er geerbt hat und denen er vorsteht, als selbstverständlich betrachtet, deren Vorteile genießt und sich kaum Gedanken darüber macht, wie und warum diese Institutionen entstanden sind. Aber es muss alles getan werden, um sie aufrechtzuerhalten. Ortega verglich eine solche Person mit einem verwöhnten Kind oder einem Aristokraten, der seinen Reichtum geerbt hat. Da er sich der Zerbrechlichkeit seines Erbes nicht bewusst und von sich selbst äußerst überzeugt ist, führt das unweigerlich zu einer Degradierung genau jener Institutionen, die ihm anvertraut wurden.

Das ist das Wesentliche der gegenwärtigen Gruppe westlicher Staatslenker, insbesondere derjenigen aus Washington. Sie wurden größtenteils in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und betrachten die Vormachtstellung einer liberalen, regelbasierten Ordnung und ihres wirtschaftlichen Arms – das Dollar-basierte Finanzsystem – als selbstverständlich. Sie sprechen von dieser Weltordnung nicht mit Ehrfurcht und einem tiefen Verständnis der Wurzeln ihres Entstehens, sondern in emotionsgeladenen, aber nichtssagenden Plattitüden. Obwohl sie selbst einen großen Vorteil aus dieser liberalen Ordnung ziehen, zeigen sie wenig Interesse an ihren tatsächlichen Prinzipien, die dieser Ordnung angeblich zugrunde liegen. Sie berufen sich zwar ständig darauf, aber vor allem dann, wenn es darum geht, Rivalen und Widersacher niederzuhalten.

In einem kürzlich erschienenen Leitartikel in der New York Times von Bret Stephens mit dem Titel "Wie Biden Nawalnys Tod rächen kann" wird die Beschlagnahme der eingefrorenen Gelder der Russischen Föderation in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar als Möglichkeit aufgeführt, eine Warnung in die Tat umzusetzen, die Biden im Jahr 2021 in Richtung des russischen Präsidenten Wladimir Putin gesendet hat, dass es "verheerende" Folgen haben werde, wenn der "Oppositionsführer" im Gefängnis sterben sollte.

Stephens erwähnt zwar Bedenken, dass ein solcher Schritt eine Flucht aus dem US-Dollar auslösen könnte, kommt aber letztendlich zum Schluss, dass solche Bedenken "überzeugend sind, wäre die Notwendigkeit, die Ukraine zu retten und Russland zu bestrafen, nicht dringender." Mit anderen Worten: Genau jenes Dollarsystem, auf das die USA für ihren noch verbliebenen Wohlstand angewiesen sind, kann auf dem Altar einer symbolischen Geste geopfert werden, die, wie Stephens es ausdrückt, "dem strategischen Imperativ folgt, einem Diktator zu beweisen, dass eine Warnung der USA nicht hohl ist".

US-Finanzministerin Janet Yellen, eine Verfechterin der liberalen Weltordnung – falls es jemals eine gab –, äußerte sich jüngst abweisend über die Gefahren, die eine Beschlagnahme der russischen Devisenreserven für das internationale Finanzsystem selbst darstellen würde. Es sei "extrem unwahrscheinlich", dass die Beschlagnahme dem Ansehen des US-Dollars schaden würde, weil es "realistisch betrachtet keine Alternativen gibt". Für Yellen stellt ihre Unterstützung für eine Beschlagnahme eine Kehrtwende gegenüber ihrer früheren Position dar, dass ein solcher Schritt "in den Vereinigten Staaten rechtlich nicht zulässig" sei. Doch inzwischen hat sich der Wind gedreht und der Rechtsstaat sieht die Dinge offenbar entspannter.

Das ist die derzeitige dominierende Unbekümmertheit in der herrschenden Klasse. Wie ein König, der vor seiner Abdankung steht und der die Beständigkeit der Monarchie stets als selbstverständlich betrachtet hat, können die heutigen Staatslenker einfach nicht mehr im Detail erkennen, was die wahre Grundlage des Systems ist, über das sie herrschen.

Aber da ist noch etwas anderes im Spiel. Es lohnt sich, sich daran zu erinnern, was die Diskussion über die Beschlagnahme russischer Vermögenswerte in den vergangenen Wochen überhaupt erst neu belebt hat: Es ist die Panik, die sich über das Versiegen der finanziellen Mittel des Westens für den offensichtlich gescheiterten Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine ausbreitet. Mit anderen Worten: Ungeachtet der selbstbewussten Töne von Leuten wie Yellen ist der Plan nicht aus einer Position der Stärke hervorgegangen. Die Bereitschaft, einen solch gefährlichen Schritt für sehr kurzfristig gedachte Ziele zu unternehmen – ganz abgesehen von der Frage, ob 300 Milliarden US-Dollar das Ukraine-Projekt des Westens überhaupt retten können –, kann als eine Art Verbrennen des Mobiliars betrachtet werden, als letztes Mittel, um sich warmzuhalten – am Ende stinkt es nach Verzweiflung.

Wir können also schlussfolgern, dass die Denkweise, die den Vorstoß zur Beschlagnahme der russischen Vermögenswerte antreibt, auf der Selbstsicherheit beruht, von der José Ortega y Gasset gesprochen hat, aber auch auf einer zunehmenden Angst. Ersteres ist auf den offensichtlichen festen Glauben westlicher Staatenlenker an die Unzerstörbarkeit der Institutionen zurückzuführen, die sie in Tat und Wahrheit selbst untergraben. Letzteres, weil man sich mit einer Kaskade von Krisen konfrontiert sieht und immer verzweifelter auf der Suche nach Notlösungen ist, egal, was für Konsequenzen dies langfristig haben wird.

Die Umkehrung der Ergebnisse und Prozesse, die ich zuvor erwähnt habe, ist eine weitere Manifestation dieser im Wesentlichen schizophrenen Denkweise. Es besteht die Überzeugung, dass das internationale Finanz- und Wirtschaftssystem einem solchen Angriff auf seine Integrität standhalten kann – Vermögenswerte können gestohlen und international etablierte Regeln gebrochen werden, aber der Dollar wird immer an der Spitze des Systems bleiben. Und doch spiegelt die Unterordnung von Prozessen die Angst wider, dass das System zu fragil ist, um unerwünschten Ergebnissen standzuhalten. Wenn die Rückgabe der Devisenreserven in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar an Russland ein zu gefährliches Ergebnis für das Überleben der liberalen Ordnung ist, dann ist die Lage schlecht.

Diese beiden scheinbar unvereinbaren Eigenschaften – Selbstsicherheit und tiefe Angst – finden sich oft bei Machthabern, die in Zeiten epochaler Veränderungen versuchen, am Status quo festzuhalten. Dies war einer der Gründe, weshalb der arrogante und ahnungslose rumänische Staatschef Nicolae Ceaușescu im Jahr 1989 eine groß angelegte Kundgebung in Bukarest anordnete, die letztlich zu seinem endgültigen Verderben führte. Historiker werden durchaus später einmal darauf zurückblicken können, dass die arroganten und ahnungslosen Janet Yellens und Rishi Sunaks unserer Zeit in historischen Prozessen gefangen waren, die sie weder verstehen noch kontrollieren konnten.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Henry Johnston ist Redakteur bei RT. Er war überdies ein Jahrzehnt im Finanzwesen tätig.

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