Hat die Osterweiterung der EU strategisch geschadet?
von Zlatko Percinic
Vor wenigen Tagen knallten Sektkorken und Feuerwerke in zehn Ländern Ost- und Südeuropas. Sie alle feierten den 15. Jahrestag des Beitritts in die Europäische Union am 1. Mai 2004. Acht dieser zehn Länder gehörten dem untergegangenen Warschauer Pakt an und befanden sich somit jahrzehntelang hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang. Mit diesem Beitritt besiegten sie symbolisch ihre jüngere Vergangenheit erneut und läuteten damit das Zeitalter eines "vereinten und freien Europas" ein.
Auch für Brüssel als Zentrum und Hauptstadt der EU bedeutete diese Osterweiterung im Jahr 2004 einen historischen Sieg. Es waren gerade einmal 15 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen, als die Grenze der EU – damals noch Europäische Gemeinschaft - noch mitten durch Deutschland verlief. Es hätte damals niemand zu träumen gewagt, dass man Länder wie Litauen, Ungarn oder Zypern in so kurzer Zeit in die Union aufnehmen könnte.
Die Motive für die jeweiligen Beitritte waren so unterschiedlich wie die Länder selbst. In den 1990er-Jahren drängte vor allem US-Präsident Bill Clinton auf die EU-Osterweiterung, die für ihn gleichbedeutend mit einer NATO-Osterweiterung war. Das würde die "Sicherheit für alle erhöhen", sagte Clinton und meinte damit insbesondere die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts. Bis 1999 hätte dieser Prozess abgeschlossen sein sollen, wenn es nach US-Außenministerium gegangen wäre. Russland hingegen hätte kein Mitspracherecht in dieser Entwicklung, und Moskau sollte aufhören, die NATO "durch die Linse des Kalten Krieges" zu betrachten.
Ohne Zweifel sahen die kleinen baltischen Staaten, aber auch die größeren Länder wie Polen oder Ungarn im EU- und NATO-Beitritt eine Absicherung und Garantie dafür, dass ihr Staatsgebiet nicht mehr zum Spielball im Kräftemessen der Großmächte wird. Ein zusätzlicher Anreiz war sicherlich die Aussicht auf Milliardenhilfen aus verschiedenen EU-Töpfen, um ihre Länder zu modernisieren.
Die Erweiterungsrunden 2007 (Bulgarien und Rumänien) und 2013 (Kroatien) brachten weitere strukturschwache Länder in die Europäische Union – und in die NATO –, die sich vor allem auf die Gelder aus Brüssel und die Personenfreizügigkeit freuten.
Doch auch Großbritannien spielte bei der Osterweiterung eine wichtige Rolle. London beobachtete mit Sorge die Entspannungspolitik und das Zusammenrücken der ehemaligen Feinde Deutschland und Frankreich. Als die beiden größten und mächtigsten Länder der kontinentalen EU standen sie dem Vorhaben der Briten diametral entgegen, die Union nach den Vorstellungen und Interessen des Vereinigten Königreiches zu formen. Hingegen würde eine große Europäische Union mit vielen kleineren Ländern die Machtkonsolidierung von Berlin und Paris vereiteln, so das Kalkül in London.
Auf dem Papier stand die EU stark da: 512 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten haben ein wirtschaftliches Powerhouse geschaffen, das als Block ein ernstzunehmender Machtfaktor ist. Was aus geostrategischer Sicht fehlt, ist eine gemeinsame und von den USA unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik, um im Kräftemessen mit den Großmächten auf Augenhöhe zu sein.
Ab hier geht es dann aber schon los mit den Problemen und Widersprüchen dieser EU, denn das ganze Projekt war aus Sicht der USA zu keinem Zeitpunkt dazu gedacht, unabhängig von Washington zu agieren. Um diese Abhängigkeit institutionalisiert zu halten, ist die NATO fest in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU eingebunden, innerhalb derer Washington seinen Einfluss ausüben kann.
Ein wesentliches Merkmal der Osterweiterung war und ist nach wie vor, um mit den Worten des Linken Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko zu sprechen:
Das Grundproblem der Östlichen Partnerschaft ist, dass diese eingerichtet wurde, um eine Einflusszone der EU gegen Russland in ihrer östlichen Nachbarschaft zu schaffen. Eine Perspektive für die östlichen Nachbarländer muss aber ein kooperatives Verhältnis zu Russland und eine Lösung der Sicherheitsfragen einbeziehen.
Damit spricht Hunko ein zentrales Thema nicht nur der EU, sondern der gesamteuropäischen Sicherheitspolitik an. Solange Russland als Gegner oder sogar Feind betrachtet und behandelt wird, ist diese Politik zwangsläufig gegen das größte europäische Land gerichtet und zwingt Moskau zu entsprechenden Defensivmaßnahmen. Dass diese dann von jenen Ländern, die in Russland einen Feind sehen, als Bedrohung aufgenommen werden und ebenso eine Reaktion hervorrufen, zeigt, wie fragil das ganze Konstrukt ist. Will Europa aber Sicherheit haben, kann diese nur zusammen mit Russland erreicht werden.
Doch das mit Abstand größte Problem für die EU ist das, was paradoxerweise am häufigsten gelobt und hervorgehoben wird, die sogenannten "europäischen Werte". Es sind die Fliehkräfte dieser unterschiedlichen Wertevorstellungen, die die Europäische Union von innen zerreißen.
Das gilt nicht nur für die Länder, die erst in den vergangenen 15 Jahren der EU beigetreten sind, sondern auch immer mehr für die "alten" Mitgliedsstaaten. Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität offenbarte sich nirgendwo so offensichtlich wie in der Migrantenkrise, die durch Merkels Entscheidung über Europa kam. Die EU hat es bis heute nicht geschafft, eine einheitliche Linie im Umgang mit den Migranten zu fahren.
In Griechenland gingen die Solidarität und die gemeinsamen Werte sogar so weit, dass man das Land während der Finanzkrise mit voller Absicht einem so rücksichtslosen neoliberalen Diktat unterwarf, dass es die gesellschaftliche Entwicklung auf Jahre zurückwarf. Die EU-Troika sorgte unter dem Druck Deutschlands dafür, dass ein Drittel der griechischen Bevölkerung in Armut lebt. Rund 1,5 Millionen Menschen lebten im Jahr 2017 nach einem OECD-Bericht zufolge sogar in extremer Armut. Bei einer Bevölkerung von 10,7 Millionen Menschen entspricht das fast zehn Prozent!
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Nun ist Griechenland aber ein "altes" EU-Mitglied, könnte man argumentieren. Doch die 2004 beigetretenen Länder haben mit größter Aufmerksamkeit verfolgt, wie Griechenland von Brüssel demontiert wurde. Die Lehre, die daraus gezogen wurde, ist, dass man durch die Aufgabe der eigenen nationalen Währung verwundbar ist. Deshalb haben mit Ausnahme von Slowenien und der Slowakei alle Staaten der EU-Osterweiterung (sowie Dänemark, Großbritannien, Schweden) ihre nationalen Währungen behalten, obwohl sie natürlich alle nur zu gerne Milliarden von Euros aus den EU-Strukturfonds empfangen. So warnte zuletzt Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der polnischen Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS; zu Deutsch "Recht und Gerechtigkeit"), davor, den Euro einzuführen.
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Je mehr Deutschland und Frankreich eine starke EU mit EU-Bürgerinnen und -Bürgern einfordern, die sich dem "großen Ganzen" unterordnen, wie Außenminister Heiko Maas immer wieder betont, desto größer wird der Widerstand in Ländern, die traditionell und kulturell stärker mit ihrer Identität und Geschichte verbunden sind. Diese Haltung ist deshalb nicht mit der deutschen Forderung vereinbar:
Erst die Abgabe von Souveränität an die EU ermöglicht einen Zugewinn an Gestaltungsmacht, die national längst verloren ist. Nationalismus bedeutet nicht 'taking back control', wie die Anhänger des Brexit behauptet haben, sondern in Wahrheit: 'giving up control'.
Maas hat natürlich aus Sicht eines EU-Technokraten vollkommen recht damit. Die Europäische Union muss eine Art Vereinigte Staaten von Europa werden, um im globalen Wettbewerb mit China und den USA mitzuhalten. Was aber nicht zu leugnen ist und von den anderen EU-Mitgliedern längst realisiert wurde, ist die Tatsache, dass Deutschland die EU nach eigenen Vorstellungen zu formen versucht. Dass dabei auch die eigenen Interessen im Vordergrund stehen, will dann nicht wirklich zu den Aussagen und Forderungen von Maas passen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte nicht umsonst davor, dass sich Deutschland in Europa isoliert. "Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass die Differenz zwischen steigenden Löhnen und Renten in Deutschland und sinkenden Einkommen in anderen EU-Staaten dem Gedanken der Europäischen Union widerspricht, dass alle gemeinsam dabei gewinnen und zu ihrem Glück vereint sind", mahnte er.
Wird diese Ungleichheit von Lebenschancen und Lebenserfahrungen zum Dauerzustand, verliert auch die Gründungsidee der Europäischen Union an Glaubwürdigkeit.
Das sind unter anderem auch die Gründe, weshalb die Mehrheit der Briten vor drei Jahren für einen Ausstieg aus der EU gestimmt hat. London hatte den Kampf gegen Berlin verloren, die Europäische Union nach britischen Vorstellungen zu formen, und man war erst recht nicht dazu bereit, die eigene Souveränität zum Wohle der EU aufzugeben.
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Andere Länder sind aber nicht bereit, denselben Schritt wie Großbritannien zu gehen. Ihre Wirtschaft ist zu schwach und der Ruf des Geldes aus Brüssel zu stark, als dass sie es sich leisten könnten, einen Ausstieg zu wagen. Da aber gleichzeitig die neoliberale Politik auf dem ganzen europäischen Kontinent gescheitert ist, formieren sich neue Parteien, die eine Antwort auf die dadurch entstandenen Probleme versprechen. In manchen Ländern kommen sie auch tatsächlich an die Macht, und wo das nicht der Fall ist, werden sie von den bestehenden Parteien als "rechtspopulistisch" oder "linksextrem" gebrandmarkt.
Diese innerhalb der EU erzeugte Spannung steht natürlich einem gemeinsamen Konsens im Weg. Das sieht man vor allem in der Außenpolitik, in der aus nationalen Erwägungen einiger EU-Mitglieder eine für die EU strategisch schwache Ausgangslage geschaffen wird. Wie schon erwähnt, sollte Russland als Teil Europas auch ein Partner bei der europäischen Sicherheitsarchitektur sein. Doch das lässt die vehemente Weigerung der drei baltischen Staaten, Polens und Großbritanniens nicht zu, was auch einigen deutschen Politikern und Parteien durchaus gelegen kommt.
Um aber trotzdem eine breitere Handlungsfähigkeit zu erhalten, schlägt beispielsweise der CDU-Politiker und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, eine "Avantgarde" einiger weniger EU-Staaten vor, die ohne den Konsens anderer Mitgliedsstaaten die außenpolitische Bühne betreten sollen. Dass das bei allen anderen, die in diesem Club nicht dabei wären, nicht gut ankommt, liegt auf der Hand.
Und trotzdem erhielt die Idee von einem geschrumpften Raum innerhalb der EU bestehend aus Ländern, die bei Herausforderungen auf Augenhöhe sind, von niemand Geringerem als Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron Zuspruch. In einem Interview über seine "Vision von Europa" sagte Macron, dass er das Schengen-Abkommen "neu definieren" möchte, weil es "keine Solidarität" mehr" gebe. Notfalls auch "mit einem kleineren Raum".
Die Erkenntnis, die in der Politik so langsam heranreift, hat laut Umfragen der Körber Stiftung etwa die Hälfte der Befragten in Deutschland bereits erfasst: 46 Prozent sind der Meinung, dass die EU-Osterweiterung ab 2004 ein Fehler war, 47 Prozent finden, dass es die richtige Entscheidung war.
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