Meinung

Marxismus verboten: Ukraine bleibt oligarchische Republik und Reservat der Nationalisten

In der Ukraine feiern Nationalisten die Erfolge der "Dekommunisierung". Gibt es dennoch Hoffnung, dass es nach den Wahlen zu einem Neuanfang kommt – mit innerem Frieden, Sozialstaat und Abkehr vom Ultranationalismus? Eine Nachbetrachtung zum Marx-Geburtstag.
Marxismus verboten: Ukraine bleibt oligarchische Republik und Reservat der NationalistenQuelle: Sputnik

von Wladislaw Sankin

Nach dem Sieg der prowestlichen Nationalisten im Frühjahr 2014 auf dem Kiewer Maidan wurde das bereits im Juli 2005 gegründete Institut des Nationalen Gedenkens zu einer Art Ministerium für Ideologie. Seine Tätigkeit hat die Ukraine innerhalb von wenigen Jahren nachhaltig verändert. Die vollständige "Dekommunisierung" zählt zu seinen größten "Erfolgen". Nicht nur Tausende Lenin-Denkmäler wurden bereits gestürzt oder demontiert, auch die ukrainische Topographie enthält nun keine Hinweise mehr auf den Sozialismus und die Sowjetzeit. Den Tag des Sieges am 9. Mai gibt es in der Ukraine auch nicht mehr, es gibt  den "Tag des Gedenkens und der Aussöhnung" nach europäischem Kalender am 8. Mai.

Wessen Aussöhnung mit wem, fragt man sich. Aussöhnung von Millionen Siegern mit etwa einigen Hunderttausend Nazi-Schergen, die als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine gewürdigt werden?

Das nächste Ziel soll nun die "Dekolonisierung" sein, die nichts anderes ist als Derussifizierung. So sollen künftig jegliche Hinweise auf das Verbleiben des jetzigen ukrainischen Territoriums im russischen Imperium getilgt werden. Ein schwieriges Unterfangen, denn zahlreiche Städte im Südosten der Ukraine sind erst im 18. oder 19. Jahrhunder von hohen Beamten des russischen Zaren gegründet worden. Kein Problem für Kiewer Ideologien, die für ihren Einfallsreichtum bekannt sind.

Auch Karl Max ist auf die Schwarze Liste der nationalistischen Bilderstürmer geraten, auch Marx-Denkmäler sind in der Ukraine schon lange entfernt, seinen weltweit beachteten 200. Geburtstag im letzten Jahr hat die Ukraine nicht mitgefeiert. Der 1. Mai – in der Sowjetunion noch als Tag der internationalen Arbeitersolidarität begangen – wurde in "Tag des Frühlings und der Arbeit" umbenannt. An diesem Tag finden keine Kundgebungen mehr statt – bis auf wenige Ausnahmen. Die wenigen kleineren Demonstrationen in den letzten Jahren wurden von radikalen Randalierern erheblich gestört.

Eine Stadt bildet die Ausnahme: Kriwoj Rog, die Geburtsstadt des neu gewählten Präsidenten Wladimir Selenskij. Dort gehen jedes Jahr Arbeiter der großen Eisenhütte Arsilor-Metall auf die Straße und fordern mehr Lohn und bessere Versicherung. Kriwoj Rog ist einer der wenigen Standorte im einst industriell geprägten Südosten, an dem die Werke von der massiven Deindustrualisierung verschont geblieben sind. In diesem Jahr waren es bei der Demo in Kriwoj Rog mehrere Hundert Teilnehmer. Solange sie keine Roten Fahnen, sondern Nationalflaggen schwenken, werden sie von den Nationalisten nicht angegriffen.

Selenksijs Heimatstadt könnte also zur Keimzelle einer neuen Bewegung für Arbeiterrechte und möglicherweise auch einer linken Bewegung werden. Könnte. Alle fragen sich, ob das Land nach der Abwahl von Poroschenko eine Chance erhält, vom Weg des Neofaschismus mit erkennbar nazistischen Zügen abzukommen.

Meine persönliche Einschätzung lautet: in den nächsten Jahren nicht. Das Klientel-Regime einer oligarchischen Republik bleibt bestehen. Das Land wird weiter am Tropf des IWF, der EU und der NATO hängen. Die antirussische Ausrichtung nach außen und das Repressionsregime gegen vermeintliche "Separatisten" nach innen werden grundsätzlich nicht angetastet, der Bürgerkriegzustand im besten Fall eingefroren, aber nicht beendet.

Auch der Kurs auf eine vollständige Ukrainisierung, der nun per neuem Gesetz die endgültige Verbannung des Russischen aus der Öffentlichkeit vorsieht, wird im besten Fall gemildert. Die bisherigen Aussagen Selenskijs und seines Teams lassen keinen anderen Schluss zu. Seine Vertreter besuchten vor wenigen Tagen Brüssel, um hohen EU-Bürokraten zu versichern, dass sie für den Westen noch bessere Partner sind, als es Poroschenko war.

Doch es gibt Faktoren, die die reibungslose Fortsetzung dieses Kurses beeinträchtigen könnten. Das sind die elementare Dummheit der Herrschenden und die schlechte Regierbarkeit des Landes. So wies eine Abgeordnete des Parlaments Werchowna Rada vor zwei Tagen darauf hin, dass das neue Gesetz zum Schutz der ukrainischen Sprache – so euphemistisch wird es genannt –, das ohnehin klar verfassungswidrig ist, aus einem einfachen Grund nicht umsetzbar sei. Den russischsprachigen Beamten sollte künftig per Gesetz ganz verboten werden, Russisch zu sprechen. Diese Anordnung ist allerdings an das kostenlose Angebot an Ukrainischkursen gebunden. Diese seien aber im Haushaltsplan laut Gesetz nicht vorgesehen, klagte die Abgeordnete. Dieser und andere Mängel könnten dem einen oder anderen "Abweichler" einen Grund liefern, dem Gesetz nicht zu folgen. Wie der russische Publizist Andrej Babizki schreibt: Je absurder und realitätsferner der ukrainische Staat agiert, desto schneller findet seine Demontage in der jetzigen Form statt.

Aber bislang scheint das von Oligarchie geprägte Machtgefüge des ukrainischen Staates, das es bereits seit den 1990er-Jahren gibt, recht stabil zu sein. Was demnächst mit Sicherheit kommen kann, ist die Reform, der zufolge die Befugnisse des Präsidenten beschnitten werden. Warum wurde der Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch von den Oligarchen gestürzt? Er wollte selbst auf Kosten anderer Oligarch werden. Auch der Oligarch Petro Poroschenko war für die übrigen Oligarchen nicht optimal. In der parlamentarischen Republik aber sollte das Risiko eines unberechenbaren Präsidenten minimiert werden. Per Stimmenkauf und sehr flexibler Partei- und Blockbildung können die Oligarchen im Parlament einen neuen, stabileren Konsens finden.

Was das Land zurzeit beschäftigt, ist die angekündigte baldige Rückkehr des berühmt-berüchtigten Milliardären Igor Kolomoiski. Ja, genau – die Rückkehr des "lachenden Banditen" und einstigen Gouverneurs von Dnjepropetrowsk. Er hat die Macht der Putsch-Regierung im Frühjahr 2014 mit der Aufstellung und Finanzierung neonazistischer Schlägertrupps und sogenannter Freiwilligenbataillonen gestützt. Diese haben Proteste im Südosten des Landes brutal niedergeschlagen und nahmen an den Kampfhandlungen im Donbass teil. 

Damit geht das Odessa-Massaker vom 2. Mai mit etwa 50 Opfern auch auf sein Konto. Kolomoiski besitzt drei Staatsbürgerschaften und wohnt derzeit in Israel. Mit den Aussagen in einem Interview, der Maidan sei schlecht gewesen und im Osten gebe es einen Bürgerkrieg, sorgte in ukrainischen Medien für Aufruhr. In der offiziellen Sprachregelung gibt es in der Ukraine keinen Bürgerkrieg, sondern Krieg mit Russland. Abweichende Meinungen gelten als Separatismus und können mit langjährigen Haftstrafen geahndet werden. Im Jahre 2016 ließ Poroschenko die Privatbank – die größte ukrainische Bank, die seinem Rivalen Kolomoiski gehörte – nationalisieren. Kurz darauf musste der ambitionierte Oligarch seinen Posten als Gouverneur von Dnjepropetrowsk, einer der Schlüsselregionen des Landes, räumen. 

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Der Stabilitätsanker dieses Regimes war und bleibt Innenminister Arsen Awakow. Auch Awakow ist ein Oligarch, allerdings kein besonders bedeutender. Er besuchte vor der Wahl die USA und sicherte sich dort die Unterstützung des kommenden Regierungswechsels zu. Kolomoiski sagte, er und Awakow hätten mit Selenskij "gefiebert". Awakow kontrolliert die Nationalgarde und zahlreiche nationalistische Trupps – bis auf den derzeit größten "Nazionalnaja Druschina". Wladimir Selenskij hat das Massaker von Odessa zu seinem fünften Jahrestag am 2. Mai als gewählter Präsident mit keiner Silbe erwähnt, war auch für die Kontinuität der bisherigen nationalistischen Kurses spricht. 

Bezüglich des derzeitigen Regimes gibt es wenig Chancen, dass sich in der Ukraine von innen heraus und vor allem auf legalem Wege etwas grundsätzlich zum Besseren verändern kann, denn das Regime wurde unter Mitwirkung der einflussreichsten Oligarchen durch Gewalt und die Ausschaltung seiner Gegner installiert. Die Ukraine liefert das eindrücklichste Beispiel, was die Abkehr vom Sozialismus in einem postsozialistischen Land bedeuten kann: Die Verfestigung des Turbokapitalismus, der auf räuberische Privatisierung des Staatseigentums zurückzuführen ist, geht mit dem Rückfall in eine nationalistische Archaik einher, wobei die Oligarchie immer stärker auf reaktionäre neofaschistische Kräfte setzt. Und auf der internationalen Bühne wird das Land zum Spielball der imperialistischen Mächte.

Dieser Artikel basiert auf dem Beitrag des Autors zur Festveranstaltung "Gespenster" anlässlich des 201. Jahrestages von Karl Marx am 5. Mai 2019 in Berlin. 

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