Meinung

Venezuela: Die Bundesrepublik Deutschland im Zwiespalt zwischen Völkerrecht und US-Hörigkeit

Die deutsche Position scheint sich in der Venezuela-Frage keineswegs an die von Kanzlerin Angela Merkel verkündeten Ziele einer "strategischen Autonomie" und einer eigenen "geopolitische Identität" zu halten. Strikt wird US-amerikanischen Vorgaben gefolgt. Eine Analyse.
Venezuela: Die Bundesrepublik Deutschland im Zwiespalt zwischen Völkerrecht und US-HörigkeitQuelle: Reuters

von Raina Zimmering

Roger Waters von Pink Floyd kommentierte das Konzert vom Milliardär Richard Branson an der venezolanisch-kolumbianischen Grenze und den "humanitären Hilfslieferungen" der USA:

Es hat nichts mit den Bedürfnissen der venezolanischen Bevölkerung zu tun, es hat nichts mit Demokratie zu tun, es hat nichts mit Freiheit zu tun, es hat nichts mit Hilfe zu tun.

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Obwohl Lateinamerika nicht – erst recht nicht Venezuela – zu den Prioritäten deutscher Außenpolitik gehören, rückte dieses Land plötzlich in die politischen Schlagzeilen und den Fokus außenpolitischer Aktivitäten der Bundesrepublik. Venezuela leidet unter enormen ökonomischen Schwierigkeiten, wie Hyperinflation und extrem hoher Verschuldung, mit sozialen Verwerfungen und einem Exodus seiner Bevölkerung durch eine Millionen zählenden Flüchtlingswelle, mit der besonders die Nachbarländer klar kommen müssen.

Doch trotz dieser Situation, die das Resultat einer Gemengelage aus US-amerikanischen Sanktionen, dem Jahrzehnte andauernden interventionistischen Handeln westlicher politischen Körperschaften, dem sinkenden Erdölpreis, einer verfehlten politischen und wirtschaftlichen Reaktion der Maduro-Regierung auf diese Ausgrenzung und einer sich zunehmend feindlichen Haltung der lateinamerikanischen Nachbarländer ist, interessierte all das die EU und die deutsche Außenpolitik jahrelang nur am Rande.

Erst als Trump in seiner unnachahmlichen Art ungeduldiger Vorwärtsverteidigung am 23. Januar 2019 Juan Guaidó als neuen venezolanischen Präsidenten aus der Taufe hob, sein "Baby" damit als Retter des Kapitalismus in Venezuela kreierte und in einen "Retter" des venezolanischen Volkes verkaufen wollte, konnten sich die EU und Deutschland nicht mehr "zurückhalten". Die lange Vorbereitung Guaidós als Schlüsselfigur des Regime Change in Venezuela, die ein abgekartetes Spiel zwischen dem von Exilkubanern abstammenden Senators und Trump-Berater Marco Rubio, Ex-CIA-Direktor Mike Pompeo, Vizepräsident Mike Pence und Donald Trump war, fand mit dieser Installierung seinen Abschluss.

Folgerichtig wurde Guaidó sofort von den USA, Kanada, Israel, der OAS und Argentinien, Brasilien, Chile und Kolumbien als "rechtmäßiger" Präsident Venezuelas anerkannt.  Später folgten eine Reihe europäischer Staaten. Russland, China, Italien, der Iran, die Türkei, Neuseeland und eine Reihe lateinamerikanischer Staaten lehnten es ab,  Guaidó als legitimen Präsidenten anzuerkennen.

Bei dem US-amerikanischen Aktionismus geht es nicht allein um Venezuela, es geht um ganz Lateinamerika. Nachdem die immerhin 20 Jahre überdauernden linksregerichteten Regierungen auf dem Kontinent an Macht verloren und neuen rechtsgerichteten Regimen Platz machen mussten, scheint für die USA und einen Teil der westlichen Welt der Zeitpunkt gekommen, um den Kontinent wieder neu für sich zu entdecken und dem zunehmenden chinesischen und russischen wirtschaftlichen Einfluss zu entziehen. Trump will im Zeitalter neuer Großmachtrivalitäten seine Truppen aus Syrien und Afghanistan zurückziehen und droht stattdessen mit Truppenaufmärschen und militärischen Interventionen in Lateinamerika. Für Venezuela betont er immer wieder, dass auch eine militärische Intervention eine Option wäre. 

Die Androhung von Gewalt ist bekanntlich nach UN-Definition auch bereits Gewalt. Sie liefert zudem den gewünschten Effekt des Staatsterrorismus, nämlich die Verbreitung von Angst unter der Bevölkerung, was in erster Linie die Flüchtlingsströme beflügelt.  Der Halbkontinent soll im Sinne einer Großmachthegemonie wieder näher an die USA heranrücken. In Lateinamerika soll im beschriebenen Sinne keines der mittelgroßen Länder mit strategisch wichtiger Lage an den Ufern der Karibik und des Pazifik und auch noch mit den heiß begehrten Erdöl-, Erdgas-, Bauxit-, Coltan und Goldreserven außerhalb der US-amerikanischen Hegemonie bleiben.

Es klingt, als würde Donald Trump nicht allein den Rostgürtel seines eigenen Landes neu zum Leben erwecken wollen, sondern als würde er den Rost der Monroe-Doktrin für den ganzen Kontinent wegputzen wollen. Um ganz Amerika soll ein eiserner Gürtel gelegt werden. Das von den USA proklamierte "Enterprise of the Americas" (Zimmering 1993) der 1990er Jahre, das durch den Widerstand der lateinamerikanischen Regierungen nie zustande kam, soll entrostet, modernisiert und mit Hilfe der sogenannten Lima-Gruppe – einem Verbund lateinamerikanischer rechter Regierungen, wie z.B. der rechtskonservativen Präsidenten Mauricio Macri (Argentinien), Jair Bolsonaro (Brasilien) und Iván Duque (Kolumbien) – neue Fahrt aufnehmen. Mit einem weiteren kombattanten reichen Passagier wie Venezuela würde das "Enterprise" beschleunigt werden können und der Formel "Make America Great Againzu neuem Leben verhelfen.

Wie stellen sich nun die EU und Deutschland zu dieser Entwicklung? Zusammen mit der EU erkannte Deutschland das "Trump-Baby", den selbsternannten "Übergangspräsidenten" Juan Guaidó, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den USA  an und forderten in unglaublich unverhohlener interventionistischer Art von dem amtierenden venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, innerhalb von acht Tagen Neuwahlen auszurufen. Dabei berief man sich auf den Verfassungsartikel 233, nach dem im Falle von Krankheit oder Tod des Präsidenten Neuwahlen angesetzt werden müssen. Auch wenn die Regierung Maduro durch verschiedene andere Regierungen nicht anerkannt wird, so ist der amtierende Präsident Maduro weder verstorben noch krank. Die Berufung auf den besagten Artikel ist schlicht und einfach falsch.

Erkenntnisse des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages werden ignoriert

Wie der "Wissenschaftliche Dienst des Bundestages" auf Anfrage der Linksfraktion zwei Mal feststellte, gäbe es "starke Gründe für die Annahme", dass die Anerkennung Guaidós eine Einmischung in innere Angelegenheiten und dass dieses Verhalten "völkerrechtlich fraglich sei". In einer darauffolgend stattfindenden Pressekonferenz gestand der Sprecher der Bundeskanzlerin Angela Merkel, man hätte die venezolanische Verfassung nicht so genau gekannt.

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Noch vor dieser peinlichen Bekanntgabe hatte bereits auch der Außenminister Heiko Maas in der Sondersitzung des Bundestages zu Venezuela geäußert, dass sich Deutschland angesichts des unermesslichen Leids des venezolanischen Volkes, das allein Maduro( und nicht etwa der Sanktionspolitik der USA oder der Jahrzehnte langen Einflussnahme westlicher Staaten, wie z.B. der Kaderschmiede Adenauer Stiftung angelastet wurde,  nicht "neutral" verhalten könne und lieferte somit die moralische Begründung für die Anerkennung von Guaidó.

Wie kann sich ein Staat, der immer als seriös und völkerrechtskonform wahrgenommen wird oder zumindest wahrgenommen werden möchte, solch einen Irrtum erlauben? Hatte man gehofft, über Venezuela würde sich die große Schar der Politiker und erst recht die deutsche Öffentlichkeit nicht so genau auskennen und man könne so ein schnelles Ende des schon seit 1999 von Deutschland verhassten "Chavismus" erreichen? Der vom Vorgänger Maduros, dem Präsidenten Hugo Chávez proklamierte "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" war der Bundesrepublik schon immer ein Dorn im Auge: Eine sich sozialistisch definierende Regierung bestimmt in Venezuela über deutsche Investitionen und die größten Erdölvorkommen der Welt!  In machiavellistischer Manier sah man offenbar nun die Chance gekommen, die Regierung unter Maduro innerhalb kürzester Zeit zu beseitigen.

Sieht man sich die jahrzehntelang gehegten Interessen der deutschen Wirtschaft in Südamerika an, so wird klar, dass das flaue Eingeständnis einer falschen außenpolitischen Argumentation im Vorgehen gegen die gewählte Regierung in Venezuela  wohl doch nicht nur ein dummer Irrtum war. In einem Artikel der Welt konnte man schon 2017 lesen:

In Venezuela hoffen die deutschen Unternehmen dagegen auf die Zeit nach Maduro.

Kaum eines der großen Unternehmen hat Venezuela bislang verlassen und die Geschäfte dort komplett aufgegeben. Guaidó plant schließlich, die staatlichen Vermögenswerte zu reprivatisieren und ausländischen Unternehmen Zugang zu Öl zu verschaffen. Das ist es, was für die deutsche Regierung wirklich zählt, nicht etwa völkerrechtliche Gründe oder das Leid der venezolanischen Bevölkerung, denn man hatte sich längst auch mit deutschen Pharmaunternehmen an den Sanktionen beteiligt.

Nur, wenn im trotz allem funktionierenden demokratischen Prozedere des deutschen  Bundestages unnachgiebig nachgefragt und die Wahrheit eingefordert wird, kommt die ganze Wahrheit dann manchmal tröpfchenweise an die Öffentlichkeit. Dass die deutsche Regierung und deutsche Medien mit weiteren Fehlinformationen arbeiten, verwundert angesichts dieses Lapsus nicht. Wenn keine echten Argumente für völkerrechtswidriges Handeln vorhanden sind, werden eben welche erfunden. Die Regierung – im Bunde mit den meisten deutschen Medien – vermittelt den Eindruck, als stünde das gesamte venezolanische Volk hinter Guaidó, was der Realität hart widerspricht. Auch dass die Bundesregierung nicht gewusst hätte, wen sie da als Präsidenten anerkennt, ist schwer vorstellbar.

Was sind denn die vom Steuerzahler finanzierten wissenschaftlichen Dienste und all die wissenschaftlichen oder parteinahen Stiftungen wert, wenn sie die Bundesregierung nicht ausreichend über politische Hintergründe informieren? Ein weiteres Beispiel dafür ist der Falle von Jair Bolsonaro: Obwohl selbst die Konrad-Adenauer-Stiftung  über ihn ein sehr negatives Persönlichkeitsprofil ermittelte, wird dessen Regierung von Deutschland anerkannt und durch den BDI dringend empfohlen.

Juan Guaidó - Hoffnungsträger des venezolanischen Volkes?

Nach dem biographischen Report der bekannten investigativen US-amerikanischen Journalisten und Analysten Max Blumenthal und Dan Cohen ist Juan Guaidó keineswegs der smarte Hoffnungsträger des venezolanischen Volkes und ein vertrauenswürdiger Partner seriöser Regierungen, als der er durch die deutsche Regierung und die deutschen Medien dargestellt wird. Er gehört zu den gewalttätigsten Gruppen der Opposition in Venezuela und wurde über Jahrzehnte von den wichtigsten Kaderschmieden der USA im Sinne eines "Regime Change" aufgebaut. Guaidó studierte u.a. 2007 an der George-Washington-Universität, wo er die venezolanische Widerstandsgruppe "Generation 2007" mit gründete. Die führt in Venezuela gewaltsame Straßenschlachten als sogenannte Guarimba-Taktik durch, bei der in terroristischer Manier Menschen getötet werden, um die Bevölkerung zu verunsichern und Angst und Schrecken zu verbreiten.

Guaidós "Partei des Volkswillens" ging aus ebendieser Bewegung hervor und ist für ihre oft grausamen Destabilisierungskampagnen bekannt, insbesondere der Straßenkrawalle im Jahr 2017. Eine Reihe der Gesinnungsgenossen von Guaidó sitzt wegen eindeutig krimineller Delikte wie Mord, Körperverletzung und Unterschlagung von Geldern im Gefängnis, soweit sie nicht außer Landes flüchteten.

Die "Partei des Volkswillens" war Teil der Oppositionsparteien und stellte im Rahmen eines Rotationsverfahrens den Präsidenten des Parlaments. Der Vertreter der Partei des Volkswillens, der demzufolge im praktizierten Rotationsverfahren zum Parlamentspräsidenten erklärt (nicht gewählt) werden sollte, trat zugunsten Juan Guaidós zurück. Die Gründe dafür blieben bis heute im Dunkel. Guaidó wurde also nicht einmal in dieses Amt vom venezolanischen Volk gewählt. Auch aus diesem Grunde lehnten auch andere venezolanische Oppositionsparteien, wie die traditionelle sozialdemokratische liberale Partei "Acción Democratica" und die Mehrzahl der OAS-Mitgliedsstaaten Guaidó als Präsidenten ab. 2018 koordinierte Guaidó in Washington, Kolumbien und Brasilien die Massenproteste während der Präsidentschaftswahlen in Venezuela. Schließlich wurde er nun von den USA gebeten, sich am 23.01. 2019 selbst zum Präsidenten zu erklären.

Als Guaidó am Wochenende vom 02./03. März 2019 zu Demonstrationen gegen Maduro aufrief, kamen diesem Aufruf  10.000 Menschen nach. Die Demonstrationen auf der Seite von Maduro, die gegen Guaidó auf die Straße gingen,  zählten allerdings das Zehnfache, nämlich 100.000 Demonstranten (Rubio 2019). Auch wenn 10.000 Demonstranten eine große Zahl darstellt, so ist das Verhältnis zwischen beiden Gruppen der Anhänger offenbar äußerst disproportional und spricht nicht dafür, dass das "gesamte Volk" hinter Guaidó steht, wie dies von Haiko Maas und den deutschen Medien behauptet wird. In nicht zu überbietender Ignoranz werden im deutschen Fernsehen immer wieder Bilder von Massendemonstrationen für Guaidó gezeigt, während jene Bilder der Maduro-Demonstrationen einfach nicht verbreitet werden. Hier kann man nicht einmal mehr von einem Kampf der Bilder sprechen, es werden einfach konkurrenzlos nur die einen Bilder gezeigt.

Die Mär von Maduros Militär

Das hat auch seine Logik, denn ansonsten würde ja ein weiteres Scheinargument nicht funktionieren: Die Behauptung, Maduro könne sich nur noch durch das Militär halten, ist in der deutschen Regierung und den Medien allgemeiner Konsens. Durch den kleinen Zusatz "noch" wird gleichzeitig versucht, die Hoffnung zu nähren, dass dieser letzte Stützpfeiler auch bald und schnell bröckeln könnte. Das letzte Beispiel von Fake News über Venezuela sind die Bilder von der Tienditas- Brücke an der Grenze zu Kolumbien, was die Verhinderung von Hilfslieferungen durch die Maduro-Regierung beweisen sollte. Allerdings war die Brücke nie in Betrieb genommen worden und einige der Bilder stammen aus dem Jahre 2017.

Manchmal werden die Produzenten falscher Bilder und Geschichten selbst deren Opfer und glauben am Ende an ihre selbstgeschaffenen Artefakte. Offensichtlich scheinen sowohl die USA als auch die EU überrascht, dass Maduro immer noch da ist, dass das Militär – bis auf Ausnahmen – und ein Großteil der Bevölkerung zu ihm halten. Nun stehen für die westlichen Staaten zwei Optionen zur Debatte: die eine ist eine militärische Intervention unter Führung der USA, die man vor allem unter dem Vorwand "humanitärer Hilfe" androht. Das Beharren auf den Hilfeleistungen durch die USA, die EU und andere Staaten ist angesichts der Sanktionspolitik der USA und der EU gegenüber Venezuela ein blanker Hohn.

Wenn ein anderes Land dagegen Venezuela genau diese Hilfsgüter – wie nun in Aussicht gestellt – liefern will,  wie Lebensmittel und Medikamente, wird es von den USA "bestraft" (Strafzölle, Handelsembargo, Einfrieren von Bankkonten. Maduro hatte schon seit 2017 mehrfach um Hilfen durch die UN und das Internationalen Rote Kreuz gebeten, die aber durch die US-Sanktionen nur schleppend in Gang kamen. Nachdem sich die Lage in Venezuela zuspitzte,  gab es Anfang 2019 verstärkt Hilfslieferungen aus Russland, Kuba, China, vom Roten Kreuz und von der UNO.

Das Kalkül bei der "humanitären Hilfe" durch das Maduro feindlich gesinnte Lager besteht darin, dass sie durch die Mobilisierung der Opposition und durch Androhung eines militärischen Eingreifens der USA geradezu erzwungen werden sollte. Das Szenario sollte sich folgendermaßen abspielen: Die an der Grenze zu Venezuela gesammelten und z.T. aus den USA gelieferten Hilfsgüter sollten von der Zivilbevölkerung am besten selbst über die Grenze gebracht werden. Zuvor wurden sie eingestimmt durch Musik auf einem Konzert an der Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela, organisiert vom britischen Milliardär Richard Branson (auf dem auch für die "Not leidende Bevölkerung" gesammelt wurde) und durch einen Aufruf von Guaidó, dass Maduro bis zum 23. Februar seine Grenzen öffnen solle.  Wenn sie sich dann an dem Transport der "Hilfsgüter" nach Venezuela beteiligen und die geschlossene Grenze überschreiten, würde (hoffentlich) das venezolanische Militär eingreifen, um die Grenze zu verteidigen, und dann könnte auch von der anderen Seite militärisch eingegriffen werden, um die Zivilbevölkerung zu "schützen".

Spezialeinheiten im Schatten "humanitärer Hilfslieferungen"

Zeitgleich zur Verbringung der Hilfsgüter an die venezolanische Grenze und zu dem Konzert fand die Verlagerung von Spezialeinheiten und Kriegsgerät der US-Streitkräfte an die venezolanische Grenze statt. Es ist ein strategisch geplantes Szenario der USA gewesen, wie es schon so oft zum Repertoire von Interventionen der USA in Lateinamerika gehörte (das bislang letzte Mal 2009 beim Putsch in Honduras). Der US-Sonderbeauftragte für Venezuela, Elliott Abrams, hatte die Praxis von "humanitären Hilfen" in früheren Zeiten schon selbst mehrfach angewandt, wie 1996 in Nikaragua zur Unterstützung der Contras, wofür er in den USA später sogar bestraft worden ist. Wie das Internationale Rote Kreuz feststellte, war das Szenario an der venezolanisch-kolumbianischen Grenze eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates und bedeutet eine Verletzung der UN-Charta und des Völkerrechts. 

Trotzdem forderten USA auf einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates Ende Februar 2019 in einer Resolution, der sich auch Deutschland anschloss, dass Venezuela die amerikanischen "Hilfslieferungen" ins Land kommen lassen sollte.

Nicht nur dass die "humanitäre Hilfe durch das Verweben mit politischen Zielen und der Androhung einer militärischen Intervention die Verletzung des Völkerrechts darstellt, bedeutete das Szenario  einen sogenannten "Krieg um die Köpfe" und Herzen. "Humanitäre Hilfe" und "humanitärer Notstand" rufen im Allgemeinen bei den anvisierten Rezipienten der entsprechenden Fernsehbilder breite Zustimmung und Empathie sowohl mit dem "Not leidenden Volk" als mit den "Helfern" hervor. Dabei wird spätestens dann nicht mehr über Hintergründe und Zusammenhänge nachgedacht.

Es hatte einen Monat gedauert, ehe vor dem UN-Menschenrechtsrat die "False positive" (Falschmeldungen) der US-amerikanischen und europäischen Propaganda-Kampagne und der venezolanischen Opposition zur "humanitären Hilfe" und "Notlage" offen gelegt werden konnte. Max Blumenthal und Anya Perampil sagten am 19. März 2019 auf der Sondersitzung des Menschenrechtsrates der UNO aus, dass zur selben Zeit, als durch eine Vielzahl westlicher Regierungen und Medien  vom "humanitären Notstand" in Venezuela gesprochen wurde und die Bilder mit den Hilfsmitteln aus den USA kursierten, die Versorgungslage der Bevölkerung in Venezuela weitgehend intakt war, dass erstens die Supermärkte mit dem gleichen Angebot wie in New York gefüllt waren und zweitens die arme Bevölkerung mit billigen oder Gratisprodukten in den Armenvierteln durch die Regierung versorgt wurde. Die Aussagen wurden mit Videos belegt. Zum Zeitpunkt der Tagung des Menschenrechtsrates war die Grenzaktion schon längst vorbei und gescheitert. Das Interesse an der "humanitären Hilfe" ließ beim Publikum schnell nach. 

Doch wird auf internationaler Ebene die "humanitäre Hilfe" der USA für Venezuela  weiter am Kochen gehalten und als Variante des "Regime Change" weiter verfolgt. Das hatte Außenminister Heiko Maas offensichtlich im Kopf, als er in einem Interview mit Die Welt am 23.03.2019 behauptete:

Maduro verweigert in einer dramatischen Notlage dem venezolanischen Volk jegliche Hilfe von außen. Das finde ich infam.

Dabei verschwieg er die Hilfslieferungen der UNO, des Roten Kreuzes, Russlands, Kubas, Chinas und der panamerikanischen Gesundheitsorganisation. Als auf der Bundespressekonferenz zwei Tage darauf nachgefragt wurde, wieso Herr Maas diese Lieferungen einfach ignorierte, antwortete der Sprecher: "Die Antwort des Außenministers steht für sich. Und ich sehe, sie haben diese gelesen." Hier kommt, ähnlich wie bei der Frage der Anerkennung von Guaidó durch die deutsche Regierung und der Infragestellung der Völkerrechtskonformität durch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, die Peinlichkeit der "False Positive" ins Spiel.

Das Verblüffende ist, dass gar nicht mehr versucht wird, die Falschbehauptung zu begründen oder zu verschleiern, sondern unbewiesene Behauptungen ein zweites Mal und immer wieder ohne Umschweife behauptet werden und als Begründung einer  Präventivschlagthese herhalten sollen.

Stromausfall: Folge eines Cyberkriegs?

Der "humanitäre Notstand" stellte sich dann doch ein, nachdem der ein "Blackout" in der Elektroenergieversorgung am 7. März 2019  über Venezuela hinwegfegte. Ein Stromausfall von über einer Woche Dauer legte fast den gesamten Transport, die Produktion und Kommunikation, die öffentliche Verwaltung und das Gesundheits- und Erziehungswesens lahm. In den Krankenhäusern starben Intensivpatienten und frühgeborene Babys. Die Grundversorgung der Bevölkerung war stark beeinträchtigt. Etliche Versuche der Wiederherstellung der Stromversorgung scheiterten auf halbem Wege zum Erfolg, was in dieser Weise noch nie der Fall war. Chinesische Experten brachten dann das System wieder zum Laufen. Es hatte eine bisher völlig unbekannte Art der Unterbrechung der Stromversorgung stattgefunden: ein "Cyberkrieg".

Kurze Zeit nachdem Trump und der US-amerikanische Außenminister Mark Pompeo verkündet hatten, dass die Sanktionen gegen Venezuela verschärft werden sollten, fiel am 07.03.2019  das Kraftwerk Guri  aus, das 80 Prozent der Bevölkerung mit Strom versorgt. Zusätzlich gab es Sprengstoffanschläge auf zentrale Umschaltstationen sowie mehrere Brände in Öllagern. Der schon erwähnte ultrarechte US-Senator und erklärte Maduro-Gegner Marco Rubio äußerte drei Minuten nach dem Stromausfall, dass die Back-up-Generatoren im Kraftwerk Guri durch eine Cyberattacke angegriffen worden wären.

Diese Äußerung behauptet oder bezeugt eindrucksvoll ein Insiderwissen des Außenministers und lässt damit den berechtigten Schluss zu, dass die USA hier einen "Cyberkrieg" und seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung getestet haben. Das würde den realen Einsatz einer modernen Version einer militärischen Intervention ohne Bodentruppen oder ohne Luftwaffe bedeuten. Die internationale Expertenkommission, die von der Regierung Maduro mit der Untersuchung des Vorfalls beauftragt wurde, bestätigte einen Cyberangriff auf die Back-up-Generatoren des Kraftwerkes Guri.  Auch gab es am 25.03.2019 wieder neue Stromausfälle in 18 von 23 Bundesstaaten Venezuelas, die wiederum von der Maduro-Regierung und den Experten als Cyberattacken deklariert wurden. Wahrscheinlich war der vorherige Blackout für die "Cyberkrieger" als noch nicht ausreichend effektiv bewertet und neben der Variante der "humanitären Hilfe" wurde nun mit "Blackouts" weiter geübt. Durch die tiefgreifende und wiederholte Beeinträchtigung des Alltagslebens in Venezuela soll vermutlich nun endlich die Mehrzahl der Venezolaner für den Regime Change weich geklopft werden.

Cyberkriege sind eine moderne Version von Kriegsführung und letztlich Staatsterrorismus, denn sie zielen darauf ab, die Zivilbevölkerung zu paralysieren. Die NATO entwickelte seit geraumer Zeit eine eigene Kriegsführungsstrategie dazu. In der Zeit von Regierungskrisen können solche Attacken dazu führen, dass Regierungen gestürzt werden, indem der "Regime Change" angeblich von "innen" statt von außen gestützt stattfindet.

Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte bereits 2017, dass "Cyber-"Waffensysteme verstärkt als digitale Angriffswaffen genutzt werden sollen. Auch Deutschland stellt Potenzial für solche Angriffswaffen zur Verfügung, die vornehmlich auf die Zerstörung der Infrastruktur für die Zivilbevölkerung gerichtet sind. In der Frage der digitalen offensiven Angriffssysteme steht deren Völkerrechtskonformität zur Debatte. Laut Genfer Konvention ist der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot, weswegen digitale Cyberangriffswaffen verboten werden müssten. Auf den NATO-Treffen wird deshalb öffentlich nicht (mehr) von "Cyberkriegen" gesprochen.

Im Fall von Venezuela sollte vermutlich der bisher nicht geglückte "Regime Change" durch eine Superattacke auf die Grundversorgung der gesamten Bevölkerung Venezuelas stattfinden. Das Kraftwerk Guri benutzt elektronische Technik, die noch aus den USA und der Schweiz stammt und  von der US-kanadischen Firma Cisco verbaut wurde. Im Sinne einer auf Abhängigkeit zielenden westlichen Entwicklungspolitik wurden die einheimischen Vertragspartner vermutlich zwar in die Bedienung der Anlagen, aber nicht in alle Baupläne und Steuerungssoftware eingeweiht. Moderne elektronische Anlagen können bekanntlich aus weiter Entfernung gesteuert, also auch gestört oder abgeschaltet werden. Da die venezolanischen Spezialisten vermutlich nicht über diese Details der Anlagen in Guri verfügten, waren sie nicht ohne ausländische Hilfe durch China und Russland in der Lage, die Systeme zu analysieren, die Energieversorgung wieder herzustellen und für die Zukunft Schutzmechanismen zu entwickeln. Möglicherweise steht die Ankunft der beiden russischen Militärflugzeuge in Venezuela Ende März 2019 auch im Zusammenhang mit Hilfsaktionen in diesem "Cyberkrieg".

Entsprechend einer öffentlichen Verschleierung in einem solchen "Cyberkrieg" behaupteten Juan Guaidó und die US-Regierung prompt, die Stromausfälle wären natürlich das Ergebnis der "Schlamperei", Unfähigkeit und Misswirtschaft durch die gegenwärtige Maduro-Regierung. Und es sei folglich an der Zeit, dass Maduro endlich abtrete. Dieser Duktus wurde von der deutschen Regierung und den deutschen Medien dankbar aufgegriffen und wiederholt. Alle Äußerungen über einen denkbaren Cyberkrieg gegen Venezuela wurden als Verschwörungstheorien abgetan, und selbst die Beweise der chinesischen Experten und der internationalen Expertenkommission werden einfach verschwiegen.

Würde man der Logik der Beweisführung der internationalen Experten folgen, müsste man den Verdacht auf völkerrechtswidriges Handeln der USA und die eigenen Irrtümer bei Der Unterstützung dieses Handelns zugeben. Trotz all der Probleme ist es vielen Menschen in Venezuela klar, was für sie bei einem Regime Change auf dem Spiel steht. Das Nachbarland Brasilien hat es ihnen jüngst erst wieder eindrucksvoll vorgemacht.

Nach dem bisherigen Scheitern des "Regime Change" in Venezuela ist die zweite Option zur Lösung der bestehenden Krise, auf das Verhandlungsangebot von Mexiko und Uruguay einzugehen und zwischen den verschiedenen politischen Gruppen in Venezuela und den interessierten Mächten zu verhandeln (Kanopka 2019). Das Problem besteht allerdings darin, dass die meisten westlichen und eine Reihe lateinamerikanischer Staaten Maduro nicht anerkennen und andererseits eine Reihe von Ländern Guaidó in seiner selbsterklärten Rolle nicht anerkennt. Doch beide Lager müssten an solchen Verhandlungen teilnehmen und von den anderen Verhandlungspartnern als legitim anerkannt werden.

Das Vorbereitungstreffen in Montevideo, an dem Vertreter von acht europäischen Staaten, darunter aus der Bundesrepublik, sowie Vertreter von fünf lateinamerikanischen Staaten als "International Contact Group on Venezuela" teilnahmen, hat allerdings die Hoffnungen der Organisatoren des Treffens Mexiko und anderer lateinamerikanischer Staaten zerschlagen, dass schnell eine friedliche und gerechte Lösung auf dem Wege von Verhandlungen errungen werden könne. Die Gemeinsame Erklärung entspricht im Wesentlichen nämlich nur den Forderungen aus den USA und von Guaidó nach sofortigen Wahlen und freiem Zugang der "Hilfsgüter" aus dem Westen. Mexiko und Bolivien lehnten deswegen diese Erklärung ab.

Bis jetzt sieht es danach aus, dass nur eine Seite der venezolanischen Gesellschaft in den sogenannten Montevideo-Prozess unterstützen würde, was keine ausgleichenden Verhandlungen sichert und einer nachhaltigen Konfliktregelung widerspricht. Sowohl der UN-Sicherheitsrat als auch das Internationale Rote Kreuz wanden sich gegen den Einsatz vorgeblicher "humanitärer Hilfe" als politisches Instrument. Für Venezuela ist die einzige Chance, aus der lange von außen vorbereiteten Krise heraus zu kommen, den Montevideo-Prozess in einen echten Ausgleich zu überführen, der auch den realen Machtverhältnissen in Venezuela entspricht und nicht-interventionistische humanitäre und wirtschaftliche Hilfen über internationale Organisationen und zivile Solidaritätsaktionen umfasst.

Die deutsche Position scheint sich in der Venezuela-Frage keineswegs an die von Kanzlerin Angela Merkel und Heiko Maas selbst verkündeten Ziele einer  "strategischen Autonomie"  und einer eigenen "geopolitische Identität" zu halten, da sie (auch hier) den US-amerikanischen Vorgaben folgt und somit Juan Guaidó als Trump-Marionette und einen Vertreter gewalttätiger Oppositionspolitikvorbehaltlos unterstützt. Die US-Sanktionspolitik dagegen wird als eine sehr folgenschwere Ursache des Leidens des venezolanischen Volkes nicht kritisiert. Vielmehr wird die Legende von der "humanitären Hilfe" aktiv von der Regierung und mit eigenen Kommentaren und Bildern durch deutsche Medien befeuert.

Wenn es über das Eingangstor von "humanitärer Hilfe" der USA gegenüber Venezuela zu einer militärischen Intervention oder zu einem Bürgerkrieg kommen sollte, trägt die deutsche Regierung ein hohes Maß an Mitschuld. Offensichtlich ist es der deutschen Regierung gleichgültig, wie diskreditiert die Person an der Spitze der Oppositionsbewegung ist und dass solche Figur in der Venezuelafrage als Bündnispartner von Donald Trump und Marco Rubio sowie rechter Regierungen wie der in Brasilien unter Bolsonaro auftritt. Wenn es um das Kalkül eigener wirtschaftlicher Vorteile in dem an Erdöl reichsten Land der Welt und um die Vermeidung von Differenzen mit den USA als Weltmacht und Konkurrent im Kampf um Einflussgebiete (Huawei, Iran-Geschäft) geht (Voelsen 2019), entfernt sich Deutschland im Venezuela-Konflikt weiter vom Völkerrecht.   

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