Großbritanniens militärischer Niedergang verdeutlicht den Kollaps der NATO
Von Scott Ritter
Jens Stoltenberg, der Generalsekretär der NATO, kündigte kürzlich das Ziel der US-geführten Militärallianz an, seine sogenannten "Reaktionskräfte" von derzeit 40.000 Soldaten auf eine Streitmacht von mehr als 300.000 Soldaten zu erweitern. "Wir werden unsere Kampfverbände im östlichen Teil der Allianz bis auf die Größe von Brigaden verstärken", erklärte Stoltenberg. "Wir werden die NATO-Reaktionskräfte umgestalten und die Zahl unserer Kräfte mit hoher Bereitschaft auf weit über 300.000 erhöhen."
Mit seiner Ankündigung am Ende des jährlichen NATO-Gipfels in Madrid überraschte Stoltenberg offenbar mehrere Offizielle aus den Verteidigungsministerien mehrerer NATO-Mitglieder. Wobei einer dieser Offiziellen Stoltenbergs Zahlen gar als "Zahlenzauber" bezeichnete. Stoltenberg scheint ein Konzept zu verfolgen, das im NATO-Hauptquartier auf der Grundlage von Annahmen seiner Mitarbeiter entwickelt worden war, statt nach einem Konzept, das nach einer koordinierten Absprache unter den 30 Mitgliedern der NATO aussieht.
Verwirrung ist in diesen Tagen der Name des Spiels bei der NATO. Das Bündnis ist noch immer vom Afghanistan-Debakel vom vergangenen Jahr erschüttert und nicht in der Lage, die Ohnmacht, in der sie sich angesichts der anhaltenden russischen Militäroperation in der Ukraine befindet, angemessen zu verbergen. Die Allianz ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, eine erbärmliche Ansammlung von unterfinanzierten Militärorganisationen, die eher für den Exerzierplatz als für das Schlachtfeld geeignet sind. Und keine militärische Organisation repräsentiert diesen kolossalen Zusammenbruch an Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit mehr als die britische Armee.
Schon vor Beginn der aktuellen Ukraine-Krise diente das britische Militär eher als Objekt des Spotts anstatt eines Musterbeispiels für Professionalität. Nehmen wir als Beispiel den Besuch des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace Anfang Februar 2022 in Zagreb. Kroatiens Präsident Zoran Milanović beschuldigte die Briten, versucht zu haben, die Ukraine zu einem Krieg mit Russland aufzustacheln, anstatt zu versuchen, Russlands Bedenken bezüglich des bestehenden europäischen Sicherheitsrahmens auszuräumen.
Wallace flog zu Konsultationen nach Zagreb, nur um von Milanović zurückgewiesen zu werden. Milanović lehnte ein Treffen mit Wallace ab und hob hervor, dass er sich nur mit den Verteidigungsministern der Supermächte getroffen habe. "Großbritannien hat die EU verlassen, was dem Land somit weniger Bedeutung verleiht", sagte er.
Aber London zeigt der traurigen Realität wiederholt ein mutiges Gesicht. Nehmen wir zum Beispiel das Angebot des britischen Premierministers Boris Johnson, Schweden und Finnland schriftliche Sicherheitszusagen zu machen. Diese Zusagen sollten die Entschlossenheit der beiden nordischen Nationen während der Prüfung ihrer Anträge zum NATO-Beitritt stärken.
Das Angebot aus London hatte aber keinerlei Substanz – und dies aus keinem anderen Grund, als dass die Briten weder Schweden noch Finnland brauchbare militärische Ressourcen anzubieten haben. Während Johnson seinen neu gefundenen nordischen Verbündeten die sprichwörtliche Hand der Unterstützung entgegenstreckte, rang das britische Verteidigungsministerium mit einer geplanten Truppenreduzierung, die dazu führen würde, dass die britische Armee bis 2025 von ihrer derzeitigen "etablierten Stärke" von 82.000 auf 72.500 Mann reduziert wird. Wobei die tatsächliche Stärke der britischen Armee bei rund 76.500 Mann liegt, was die anhaltenden Schwierigkeiten bei der Rekrutierung widerspiegelt.
Aber selbst diese Zahlen sind irreführend, denn die britische Armee ist nur in der Lage, eine vollständig kampfbereite Brigade von 3.500 bis 4.000 Mann mit der erforderlichen Ausrüstung und Unterstützung aufzustellen. Angesichts der Tatsache, dass das Vereinigte Königreich bereits händeringend auf der Suche nach Soldaten für eine verstärkte "Kampfgruppe" von der Größe eines Bataillons ist, die als Teil der sogenannten Vorwärtspräsenz der NATO nach Estland entsandt werden und sich dort drei anderen ähnlich großen "Kampfgruppen" anschließen soll – jener der USA in Polen, Deutschlands in Litauen und Kanadas in Lettland – ist es fraglich, ob Großbritannien diese kleine Aufgabe überhaupt bewältigen kann.
Die Entsendung einer Kampfgruppe nach Estland im vergangenen Monat, bestehend aus dem 2. Infanterie-Regiment, unterstreicht das Pathos, das die wahren militärischen Fähigkeiten Großbritanniens ausmacht. Das 2. Infanterie-Regiment umfasst drei Kompanien der Infanterie und eine zur Feuerunterstützung, die integraler Bestandteil der Einheit ist, sowie unterstützende Artillerie, mechanische, logistische und medizinische Elemente. Frankreich und Dänemark stellen der britisch geführten Kampfgruppe abwechselnd eine Einheit in Kompaniegröße zur Verfügung. Insgesamt umfasst die britische Kampfgruppe etwa 1.600 Soldaten und ist vollständig in die estnische 2. Infanterie-Brigade integriert.
Angesichts dessen, was wir jetzt infolge der laufenden russischen Operation in der Ukraine über die Realität einer modernen Kriegsführung wissen, hätte die britische Kampfgruppe in der Ukraine eine Lebenserwartung von weniger als einer Woche. Das gilt auch für ihre Verbündeten in der estnischen 2. Infanterie-Brigade.
Zuallererst fehlt es den Einheiten an Stehvermögen sowohl in Bezug auf Verluste von Soldaten und Ausrüstung, die in einem Kampf zu erwarten sind, als auch hinsichtlich der grundlegenden logistischen Unterstützung, die erforderlich ist, um auf einem modernen Schlachtfeld zu schießen, sich zu bewegen oder zu kommunizieren. Artillerie ist die Königin der Schlacht, aber den Briten und Esten fehlt an allem, wenn es darum geht, auch nur annähernd genug Rohre bereitstellen zu können, um der überwältigenden Feuerkraft entgegenzuwirken, die man von jeder russischen Streitmacht erwarten kann.
Stoltenbergs Vision von einer 300.000 Mann starken "Reaktionskraft" sieht vor, dass die bestehenden Kampfgruppen zu Formationen auf die Größe von Brigaden erweitert werden. Ironischerweise fordert Stoltenberg Großbritannien dazu auf, mehr Kampfkraft bereitzustellen, während das Land aktiv versucht, seine Personalstärke zu reduzieren. Während die Briten in der Lage sein könnten, sozusagen genug Substanz vom Boden des Fasses zu kratzen, um diese projizierte Verstärkung zu erreichen, wäre buchstäblich nichts mehr übrig, um Boris Johnsons mutiges Angebot einer substanziellen militärischen Unterstützung Schwedens und Finnlands zu untermauern. Dies lässt den – mittlerweile ehemaligen – britischen Premierminister wie den Kapitän der Titanic aussehen, nachdem diese den Eisberg gerammt hat, der Anweisungen erteilt und so tut, als hätten seine Worte etwas bewirkt, während sein Schiff sinkt.
Übersetzung aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.
Mehr zum Thema - Stoltenberg: NATO unterstützt die Ukraine bereits seit 2014 und wird es auch weiterhin tun
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.