Meinung

Der einst reisende Russe: Wie die europäische Tourismusbranche nun leidet

Erst wenn etwas nicht mehr da ist, weiß man es wirklich zu schätzen. So ist es auch mit den russischen Touristen, die für einige beliebte Reiseorte Europas lange Zeit die Hauptprofitquelle darstellten. Jetzt bleiben sie aus – ein weiterer, riesiger Tropfen in dem Fass, das für die EU sehr bald überlaufen wird.
Der einst reisende Russe: Wie die europäische Tourismusbranche nun leidetQuelle: AFP © Louisa GOULIAMAKI / AFP

von Elem Raznochintsky

Antagonistisch-infantile Energiepolitik gegen Moskau, Ausschließung Russlands von westlichen Finanzsystemen oder Enteignung von russischem Kapital im Ausland: Die größten Schachzüge der westlichen Sanktionspolitik wurden vom Kreml Pi mal Daumen gespiegelt pariert und bisher entschärft.

Anfang Mai sprach der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij das nächste Machtwort, mahnend an die Türkei und Griechenland gerichtet:

"Der russische Tourismus bringt seit Jahren eine Menge Geld nach Griechenland. Wir glauben, dass sie mit Blut Geld verdienen und dieses Geld dann ins Land bringen. Die Situation in der Türkei ist die gleiche. Auf der einen Seite agiert die Türkei als Vermittler und unterstützt die Ukraine mit wichtigen Schritten, aber auf der anderen Seite sehen wir gleichzeitig die Vorbereitung von Touristenrouten speziell für den russischen Tourismus. Und wenn wir freundschaftliche Beziehungen haben wollen, muss ich als Präsident darüber sprechen. Das ist nicht der richtige Weg."

So rückt mit enormen Schritten ein weiteres wichtiges wirtschaftliches Symptom aus den westlichen Sanktionspaketen gegen Russland in den Vordergrund.

Selbstverstümmelung der eigenen Tourismusbranche 

Denn die Vertreter dieser Industrie können nun anhand der noch im Februar 2022 gebuchten Reisen und Flüge ziemlich genau absehen, mit wie vielen russischen Besuchern man in der Urlaubssaison 2022 hätte rechnen können. Zumindest, wenn der Ukraine-Krieg und somit die Sanktionspolitik gegen Russland nicht begonnen hätten. Insgesamt, bis August 2022, werden ungefähr 2,5 Millionen wegbleibende Russen von der EU in Kauf genommen. Wenn sogar die gebuchten Flüge in die Türkei auch verfallen würden, könnte es sich um weitere 1,99 Millionen Russen weniger handeln. Aber die Türkei wehrt sich. Dazu später mehr.

Mal wieder ist es Deutschland, das innerhalb der EU sich selbst mit am stärksten ins Bein schießt: mit 552.910 angekündigten russischen Besuchern, von denen die meisten dieses Jahr wohl ausbleiben werden. An zweiter Stelle ist das sonnige, vom ukrainischen Staatschef bereits weiter oben gerügte Griechenland, das die Abwesenheit von potenziell 303.843 russischen Touristen verkraften muss. 

Mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern ist Zypern hingegen aufgrund seiner enormen Abhängigkeit von der eigenen Tourismusbranche verhältnismäßig am meisten bedroht, auch wenn Deutschland eine höhere Zahl der abhanden gekommenen Russen zu verzeichnen hat. 234.921 Russen buchten noch im Februar Flüge zur Mittelmeerinsel. Flüge, die nun ausnahmslos gesperrt sind.

Für das Jahr 2020 verzeichnete Zypern russische Geschäftsinvestitionen von über 100 Milliarden Euro, mit parallel hunderttausenden von russischen Urlaubern in den Vorjahren. Viele der durch die Sanktionen ermöglichten, diesjährigen Enteignungen von russischen Eigentümern sind tatsächlich zurückzuführen auf den Standort Zypern.

Noch Anfang März 2022 hat der zyprische Finanzminister Konstantinos Petrides Folgendes eingestanden:

"Nach unseren Schätzungen erwarten wir in diesem Jahr eine Million Touristen aus der Ukraine und Russland, was etwa 20 bis 25 Prozent des zyprischen Tourismusmarktes entspricht. Der Schlüssel ist die Dauer der Krise. Wenn sie in einem Monat beendet ist, werden wir unbeschadet davonkommen. Wenn sie länger andauert, wird keine Wirtschaft heil herauskommen."

Das war noch, als einige Experten vermuteten, dass dieser Konflikt in wenigen Wochen beendet sein könnte. Anhand der politischen Reaktion des Westens und der weltwirtschaftlichen Langzeit-Ziele dort – wie die Kaschierung der eigenen Inflation – ist indessen aber klar: Washington plant für die Instrumentalisierung und Aufrechterhaltung des Krieges in der Ukraine mindestens einige Jahre in Anspruch zu nehmen. Ein Prozess, der vom innigen Wunsch getrieben ist, das eigentliche Endziel zu erreichen: die Unterwerfung Russlands als geostrategischen Akteur in Europa, Asien und auf der Welt.

Zurück zum Tourismus. Zypern wird sich wohl rasch neue Industriezweige erschließen müssen. Die anderen Reiseländer sind aufgerufen, ihren Wirtschaftsoutput auch unbedingt zu diversifizieren.

Der russische Botschafter in Zypern, Stanislaw Osadtschij, hat den dortigen Entscheidern Klartext unterbreitet:

"Woher soll Zypern seine russischen Touristen nehmen? Sie werden nicht kommen. [...] Wohin werden sie gehen – in die Türkei, ist es das, was Sie wollen? Wollen Sie, dass die ihr Geld dort ausgeben? Der Sommer steht vor der Tür, ihr habt euren Luftraum geschlossen – ihr habt euch selbst in den Fuß geschossen."

Summiert man das Kapital, was russische Reisende gerne im Rahmen eines besonderen Urlaubserlebnisses in diesen Gastländern ausgegeben hätten, kommen große Verluste zusammen. Man nehme die Zahlen der durchschnittlichen Ausgaben eines russischen Touristen aus dem Jahr 2018. Pro Auslandsreise waren es damals 1.676 US-Dollar (1.420 Euro), die ausgegeben wurden. Der Europäer lag damals niedriger, mit 1.176 US-Dollar (996 Euro). Schätzungsweise handelte es sich für die EU dieses Jahr ursprünglich um mindestens über 2,5 Millionen russische Touristen, also um einen Verlust von möglicherweise bis zu 4 Milliarden Euro (umgerechnet mit dem diesjährigen US-Dollar-Kurs). Hierbei sei es fehlendes, nicht erwirtschaftetes Kapital, das sich auf den allgemeinen ökonomischen Kreislauf dieser Länder, aber auch insgesamt auf die EU nachhaltig negativ auswirken kann.

Auch Länder außerhalb der EU sind mit dieser Prognose konfrontiert, obgleich die existenzielle Bedrohung für die eigene Wirtschaft weniger brisant ist: Moldawien könnte bis zu 233.622 russische Besucher verlieren, Großbritannien wiederum bis zu 155.705. Alles hängt von den bis Jahresende umgesetzten, tatsächlichen Flugverboten ab.

Alternativen für Russen

Der inländische Tourismus Russlands stärkt sich bereits sichtlich. Zum Beispiel ist die russische Schwarzmeerküste, auch mit der Halbinsel Krim, von vielen Bürgern als nächstes Reiseziel ins Visier genommen worden. Auch die "nördliche Hauptstadt" Sankt Petersburg erfreut sich aufgrund seines kulturellen Angebots wachsender Beliebtheit. Aus anderen Gründen sind die historische Landschaft Karelien im Norden sowie das Altaigebirge in Sibirien Anwärter für wachsende Besucherzahlen russischer Urlauber. An Popularität gewinnen auch der größte Süßwassersee der Erde, der Baikal, und die nordkaukasische Republik Dagestan. Die russische Bundesagentur für Tourismus hat für dieses Jahr sogar ein "Cash Back"-Programm für seine Bürger eingeführt, das bis zu 20 Prozent der inländischen Reiseausgaben zurückerstattet.

Urlaubsort: Die inflationsgeplagte Türkei

Die Türkei ist zwar nicht Teil der EU und somit etwas selbstständiger, was das Brüsseler Wirtschaftsnetzwerk anbelangt. Aber die NATO-Mitgliedschaft Ankaras verpflichtet dennoch zu dem von Washington derzeit festgelegten Kurs gegen Moskau sowie für ein Fingerspitzengefühl gegenüber den Befindlichkeiten der ukrainischen Führung.

Die Türkei ist in einem spannenden Zwiespalt. Auf Ebene internationaler Politik sind sich Erdoğan und die russische Führung zumindest reserviert gegenüber aufgestellt. Vor Ort aber wird dem russischen Touristen auf persönlicher Ebene versucht, eine heimische, gastfreundliche Atmosphäre zu bieten. Eine, die so weit geht, dass Gaststätten und Restaurants auf offener Straße, auf Russisch samt kyrillischem Alphabet, die Russen, die noch irgendwie ins Land kommen, darin zu versichern, dass man sie erwartet und schätzt. Wie ein Foto, das in den sozialen Medien kürzlich die Runde machte:

Vorsicht, hier nur eine Sinn-Übersetzung ohne den schönen Reim im Russischen, wo "Wowa" die Kurzform des Vornamens des russischen Präsidenten darstellt:

"Russen, willkommen! Alles wird gut werden. Wowa hat recht. Wowa ist stark. Wowa wird der Papa der Welt sein."

Für das Jahr 2021 hat die Türkei um die 30 Millionen Touristen gehabt. Das ist das doppelte vom Pandemiejahr 2020, aber immer noch um 42 Prozent niedriger als im Jahr 2019. Von den 30 Millionen im vorigen Jahr waren 5 Millionen aus Russland. Also ein Sechstel aller Besucher.

Dass Ankara als touristischer Dreh- und Angelpunkt spezielle Sollbruchstellen auszuschlachten sucht und Spagate macht, um den für sich lukrativen russischen Tourismus im eigenen Land weiter florieren zu lassen, ist nachvollziehbar. Eine der Strategien kürzlich war es, drei neue Fluglinien ins Leben zu rufen, die speziell für die Flugrouten aus und nach Russland eingesetzt werden sollen. Die erste – eine türkische Initiative – namens "Southwind" ist bereits startbereit. Flugbeginn soll auf Ende Mai fallen.

Diese Maßnahmen erscheinen bitter nötig, wenn man die jetzige Wirtschaftslage des Landes vor Augen hat. Die Nationalwährung Lira ist sehr schwach und die Wirtschaft wird von einer fantastischen Inflationsrate von 69,97 Prozent geplagt. Die vier aneinandergereihten Zentralbankchefs der letzten drei Jahre scheinen da bisher des Rätsels Lösung nicht näher gekommen zu sein. Eine lebhafte und umsatzkräftige Tourismus-Konjunktur 2022 scheint da noch eines der nachvollziehbaren Steckenpferde für die Türkei zu sein, um der eigenen Finanzkrise effektiv zu begegnen.

Mit einer prinzipiellen Sache hat Präsident Selenskij in seiner weiter oben erwähnten Anklage an Ankara recht: "Man muss sich entscheiden, ob man für die Wahrheit ist."

Eine Wahrheit ist bereits erschlossen. Der russische Tourist als Naturgewalt ist so erfinderisch, dass er es entgegen aller globalen Hindernisse schafft, Urlaub zu machen – selbst wenn vom moralisierend-hysterischen Elfenbeinturm Brüssels Feuer und Schwefel herabregnen.

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Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.