Ukraine-Teilung? Polen will ein Stück vom Kuchen
von Elem Raznochintsky
Ein symbolischer Akt vorab zur Einschätzung des osteuropäischen Schmelztiegels: Mittlerweile wurde exzessiver Rauch über der russischen Botschaft in Warschau gesehen. Manche würden vermuten, dass ein neuer Papst gewählt wurde und genau diese Menschen würden vollkommen falsch liegen. Stattdessen kann das viel eher als letzte Prozedur gedeutet werden, die veranschaulicht, wie Dokumente, die man bei einem Auszug und Verlassen des Gastlandes nicht physisch mitnehmen konnte, vorher noch verbrannt und zerstört werden. Das heißt – optimistisch gesprochen – diplomatische Beziehungen zwischen Warschau und Moskau sollen zumindest auf extreme Sparflamme heruntergedreht werden.
Am 24. März 2022 findet in Brüssel der jüngste NATO-Gipfel statt. Polens Rolle bei dem, was an diesem Tag in der Causa Ukraine beschlossen wird, ist absehbar enorm. Das Stichwort "NATO-Friedensmission", das vom polnischen Vize-Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński als galante Wortneuschöpfung vor Kurzem in einem geheimen Zug nach Kiew eingeschleust wurde, sei Programm.
Warum Wortneuschöpfung? Weil der bisherige NATO-Bündnisvertrag ein solches Konzept so nicht zulässt. Zumindest nicht, wenn eine atomare Supermacht (Russland), die ihre unmittelbaren Sicherheitsbedürfnisse in der vom Westen instrumentalisierten und feindlich gewordenen Ukraine umsetzt, involviert ist.
Auch das polnische Staatsoberhaupt Andrzej Duda hat jüngst bei einem Treffen mit seinem rumänischen Amtskollegen Klaus Johannis in Bukarest Anspielungen dazu gemacht:
"Angesichts der Geschehnisse in der Ukraine, angesichts der beispiellosen russischen Aggression gegen diesen freien, unabhängigen, souveränen Staat, (...) ist für uns, aber auch für ganz Europa, man könnte auch sagen für die Welt, ein neues Konzept der NATO erforderlich."
Bedenkt man das Fingerspitzengefühl, mit dem Duda versucht, so allgemein und ungenau wie möglich diese plötzlich dringende Reform als nötig zu kommunizieren, könnte man glatt vermuten, dass ihn der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zu stören begann. Kaczyńskis Wunsch für eine "NATO-Friedensmission" in der Ukraine, unter "reformierten" Vertragsklauseln, könnte eine Art Präzedenzfall für eine selektive, hermetisch abgeriegelte NATO-Operation bereiten, in der die polnische Republik die Hauptverantwortliche ist. Wohingegen der Hauptbündnispartner "Uncle Sam" neugierig, aber passiv über den großen Teich hinweg den ganzen Prozess beobachtet.
Zur Erinnerung: Artikel 5 besagt nämlich zurzeit noch (unverändert seit 1949) Folgendes:
"Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird."
Diese Friedensmission wäre sowieso aber nicht unter Artikel 5 zu verstehen, da Polen nicht von Russland angegriffen wurde (fehlender Verteidigungsfall), sondern es präventiv in die West-Ukraine einmarschierte, also de jure und de facto, über NATO-Grenzen hinausgetreten ist.
Außerdem wurde die im Mai 1997 unterzeichnete "Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation" von Präsident Duda in Bukarest als hinfällig und ungültig ausgerufen.
Dieser Vertrag galt bisher als offizielles Dokument, das wenigstens symbolisch die Annahme zusammenhielt, die NATO und Russland seien keine verfeindete oder konkurrierende Entitäten. Also noch ein lästiges Hindernis weniger für die Polen.
Mehrere Motive Polens
Eine sogenannte "NATO-Friedensmission" – und wann war laut der NATO selbst eine Mission von ihnen nicht eine "NATO-Friedensmission"? – würde per Definition alle anderen NATO-Mitglieder in ein solches Unterfangen vertraglich mit einbinden und verpflichten.
Einem durch polnischen Eifer verschuldeten dritten Weltkrieg stünde dann nichts im Wege. Selbst das hoch motivierte und stets russophobe Warschau will das nicht. Dennoch ist Polens politische Ratio nicht einzig von einem sentimentalen Selbstaufopferungsgefühl gegenüber der Ukraine definiert. Es gibt Indizien, dass das sogar eher eine marginale Rolle spielt. Kennt man die Geschichte nicht, würde man die Analyse an dieser Stelle aussetzen. Kennt man sie doch, versteht man, dass die polnische Führung noch ein ganz anderes Pferd im Rennen hat: territoriale Ansprüche an die West-Ukraine, die sonst, wenn nicht Putins Entmilitarisierungs- und Entnazifizierungskampagne in der Ukraine begonnen hätte, längst verrostet und verfallen wären.
Nun das "Gerücht": Laut den Quellen des Telegram-Kanals "Джокер ДНР" soll der Einmarsch polnischer Streitkräfte in den Westen der Ukraine bereits Ende April 2022 stattfinden, im nächsten Monat, unter der Flagge der sogenannten "NATO-Friedensmission", die am 24. März in Warschau beschlossen wurde. Es hieß weiter, dass erste Stimmen aus der ukrainischen Führung, vor allem der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Waleri Saluschny, mittlerweile realisieren würden, was ihrem Land bevorstehen könnte. Die einzige Alternative, die einen polnischen Eintritt in die West-Ukraine blockiert, wäre mittlerweile aber nur ein beschleunigter Friedensprozess mit Moskau, mit Verpflichtung zur Erfüllung der russischen Bedingungen – diese Option aber ist mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij extrem unwahrscheinlich.
Demnach soll Polen an vier Regionen der westlichen Ukraine interessiert sein: Oblast Wolyn, Oblast Riwne, Oblast Lwow und Oblast Ternopil. Um sich das besser vorzustellen: Insgesamt handelt es sich hier um ein Gebiet, das 75.847 Quadratkilometer umfasst, beziehungsweise der Fläche nahekommt, die Irland übersteigt und fast der Tschechiens gleicht.
Es gäbe hier sogar ein recht plausibles, historisches Argument (für Russen und Polen zumindest; weniger für die Ukrainer), das diese Gebiete geschichtlich zur polnischen Nation zählen lassen könnte. Solche Ansprüche aber brauchen ein ausgezeichnetes Moment, um veräußert und umgesetzt zu werden. Noch vor einem Monat, und auch in den letzten knapp 83 Jahren gab es solch ein Moment nicht. Mehr noch, solche Forderungen hätten in der Vergangenheit die bilaterale Diplomatie zwischen Kiew und Warschau nachhaltig, vielleicht sogar irreversibel beeinträchtigt. Das werden sie nun – sogar unter dem jetzigen Ausnahmezustand – trotzdem, wenn alles tatsächlich den weiteren Gang dieser Hypothese nimmt.
Die vierte polnische Teilung, die im Jahr 1939 von Deutschland und der Sowjetunion im Rahmen des Beginns des Zweiten Weltkriegs vollzogen wurde, ist selbstverständlich im kollektiven Gedächtnis der Polen bis heute präsent. Den Nationalsozialisten und ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln wurde alles vergeben und verziehen. Im Gegensatz zum russischen "Aggressor". Was aber den Polen weniger in Erinnerung verbleibt, ist die opportunistische Aneignung des Westteils des Teschener Schlesiens im Oktober 1938, nachdem Hitlers Deutschland sich die Tschechoslowakei aneignete.
Noch größerer Gedächtnisschwund herrscht in der polnischen Republik, was die ukrainische Nazi-Kollaboration betrifft und wie viel von der polnischen Zivilbevölkerung (nicht nur in Wołyń/ Wolhynien) durch die "Ukrainische Aufständische Armee" (UPA) vernichtet wurde. Anders – vielleicht noch mit einer kollektiv manifestierten Schizophrenie – kann man sich die blinde, polnische Unterstützung der Ukraine, vor allem in den letzten acht Jahren nicht erklären. Nun wird sich Polen frontal mit dieser mit den Ukrainern vollkommen unaufgearbeiteten Geschichte auseinandersetzen müssen. Im eigenen Land.
Über 20 Jahre Vorarbeit
Seitdem Wladimir Putin im Jahr 1999 in den Vordergrund gerückt ist – erst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident Russlands –, war die Redaktionslinie der polnischen Medienhäuser klar: "Der ewige Feind im Osten ist wiederauferstanden."
All die jahrelange Mühe, Russophobie zu einem Hauptbestandteil der polnischen Nationalidentität zu machen, hat sich mehr als gelohnt: eine der wohl sorgfältigsten und effektivsten psychologischen Operationen Mitteleuropas. Wenn man bedenkt, welche Privatmedien Polens Diskurs und Meinungsbildung seit Ende der Volksrepublik (1989) mitbeherrscht haben, wird einem schaurig zumute. Die auflagenstärkste Tages- sowie Wochenzeitung in Polen (Fakt und Newsweek) ist in den Händen des Axel-Springer-Verlags, genauer gesagt, der Ringier Axel Springer Media AG. Ganz zu schweigen von den auf NATO-Linie gehaltenen Staatsmedien.
Das, was aber nun an vermeintlicher Berichterstattung betrieben wird, überschreitet ein hysterisches, auf alten Traumen trommelndes Psychodrama bei Weitem. Putin wird die Vernichtung des ukrainischen Volkes vorgeworfen. Pseudo-analytische Vergleiche zwischen dem russischen Staatsoberhaupt und Adolf Hitler sind tägliches Brot für den polnischen Leser und Zuschauer. Der Grad der beweis- und belegfreien Wirklichkeitsverzerrung wird eine spätere Annäherung, sofern noch jemand zum Annähern übrig geblieben ist, extrem erschweren. Dank diesem "weißen Rauschen" wird Warschau die "Verteidigung nach vorne" als einzige Lösung ausrufen, vor dem eigenen Volk rechtfertigen und in die West-Ukraine einziehen.
In einer vernünftigen Welt würde bald – ohne weiteres Blutvergießen – ein halbwegs neutraler Ort (ähnlich nach dem Beispiel der Teheran-Konferenz von 1943) auserkoren, um die aufgeteilte Ukraine festzulegen. Eine, die eine harte, unmissverständliche Grenze direkt zwischen Russland und dem Atlantik-Bündnis zieht und die Sicherheit aller Minderheiten und größeren Völker in diesem Gebiet garantiert.
Erfolgt die Teilung nach "polnischer Vorlage" des Staatlichkeitsverlustes (1939), könnte ein europäischer Krieg folgen, oder Schlimmeres. Wird die Teilung der Ukraine nach "deutscher Vorlage" eines doppelten Staatlichkeits-Resets (1945–1949) vollzogen, folgt ein zwar angespannter, aber währender Frieden, in dem beide Seiten beschäftigt sein werden, diese neue, europäische Episode in ihre jeweiligen Geschichtsbücher zu schleusen.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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