Meinung

Japan ist China keineswegs moralisch überlegen

Berichte über den wahrscheinlichen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking durch Tokio wegen der Menschenrechte in China erscheinen besonders krass, weil sie ausgerechnet mit dem Jahrestag japanischer Gräueltaten 1937 in China zusammenfielen.
Japan ist China keineswegs moralisch überlegenQuelle: www.globallookpress.com © Jia Shiqing/ZUMAPRESS.com

Ein Kommentar von Tom Fowdy

Am 13. Dezember jährte sich das Massaker von Nanking zum 84. Mal. "Diese Vergewaltigung von Nanking" ging in die Geschichtsbücher ein, weil Japans kaiserliche Armee schätzungsweise über 200.000 Chinesen brutal getötet und die Stadt bei der Einnahme komplett verwüstet hat. Die Gräueltaten ereigneten sich während des Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges, mit dem Japan versuchte, ganz China zu erobern und zu besetzen. Jeder, der auch nur über elementare Kenntnisse der chinesischen Geschichte verfügt, sollte wissen, dass dieses Massaker das sensibelste und traumatischste Ereignis für die chinesische Nation in der Neuzeit ist – nicht zuletzt deshalb, weil Japan aus chinesischer Sicht weder für seine Gräueltaten gesühnt noch sich jemals gebührend dafür entschuldigt hat.

Und dann stellte sich an diesem düstersten aller Jahrestage heraus, dass Japan ernsthaft erwägt – zusammen mit den Vereinigten Staaten und anderen anglophilen Ländern –, "aus Gründen der Menschenrechte" einem diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking im kommenden Februar beizutreten. Das ist für China in mehrfacher Hinsicht ein Schlag ins Gesicht, nicht zuletzt, weil Peking noch im vergangenen Sommer Tokio bei den Olympischen Spielen entscheidend unterstützt hat. Dass Japan in Menschenrechtsfragen gegenüber China eine Position der moralischen Überlegenheit einnimmt, gilt nach einer so schrecklichen Erinnerung wie Nanking als würdelos, unsensibel und arrogant.

Nachdem ich auf Twitter die Heuchelei der Haltung Japans in Fragen der Menschenrechte hervorgehoben hatte, antwortete mir ein User: "Das war 1937." Die Logik dieses "Arguments" als Entkräftung spiegelt ein bekanntes Muster im anglophonen Denken wider: Dass nämlich die einst in grauer Vergangenheit in ihrem Namen begangenen Gräueltaten heute einfach keine Rolle mehr spielen. Die offensichtlich notwendige Erwiderung auf diese Antwort lautet: Wenn China vor so langer Zeit eine solche Tat begangen hätte, würde man dann China jetzt genauso behandeln wie Japan? Wären seine Missetaten vergessen? Absolut nicht. Hier scheint ein logischer Trugschluss im Spiel zu sein, nämlich dass das Verstreichen der Zeit irgendwie den Freispruch vor der Gerechtigkeit bewirkt, zumindest weil einige Länder sich selbst ja zu den "Gerechten" zählen.

Aber wenn wir dieselbe Logik etwa auf den Holocaust anwenden würden, würde man sie zu Recht weithin als empörend verurteilen. Heilt die Zeit alle Wunden, macht die Zeit die Schwere der Gräueltaten rückgängig? Natürlich nicht. Warum also sollte China die Gräuel von Nanking einfach vergessen, wenn sich dieses Land der Täter – ganz im Gegensatz zu dem, was mit Deutschland und den Nazis nach dem Krieg geschah – niemals wirklich seiner Schuld stellen musste? 

Als das Kaiserreich Japan schließlich vor den Vereinigten Staaten kapitulierte, wurde das bestehende imperiale Regime einfach in ein neues System integriert. Aufgrund der Tatsache, dass die USA die ausschließliche Gerichtsbarkeit über das besiegte Land hatten – und nicht etwa wie in Deutschland auf die Sowjetunion Rücksicht nehmen musste – wurde Japan umgehend zu einen strategischen Vorteil umgewandelt, um die Dominanz der USA in Asien auszubauen. Dies erklärt auch, warum Japan für seine Kriegsbarbarei weitgehende Absolution erteilt wurde.

Einzig aus diesem Grund konnten all die Wunden, die von den Japanern den Ländern Asiens zugefügt wurden, nicht heilen. Ob in Korea oder in China, die Ressentiments sind bis heute dieselben. Während Japan und China in der Praxis gelernt haben, miteinander zu leben – der Handel zwischen Tokio und Peking beispielsweise ist enorm –, so hat die traumatische Erfahrung von Ereignissen wie Nanking dennoch unauslöschliche Spuren in Chinas zeitgenössischer nationaler Identität hinterlassen. Die Kommunistische Partei rühmt sich, am antijapanischen Kampf teilgenommen und die Souveränität der Nation vor dem Hintergrund eines Jahrhunderts ausländischer Aggression wiederhergestellt zu haben, in der Nanking die schrecklichste Gräueltat auf chinesischem Boden war.

Die Narben sind so tief, dass jeder Jahrestag von Nanking zu einem Moment kollektiver Staatstrauer in ganz China geworden ist. Jedes Mal, wenn ein älterer Überlebender des Ereignisses stirbt, wird in den Medien ausführlich darüber berichtet. Wenn Japan dies ignoriert und nun eine Position der moralischen Überlegenheit gegenüber China einnehmen will, ist das stets eine ausdrückliche Beleidigung für jeden einzelnen Chinesen. Das gilt als perfektes Beispiel für Japans Mangel an Reue und Sensibilität gegenüber seinem imperialen Erbe, das es hinter seiner Beziehungen zu den USA versteckt.

Nichtsdestotrotz hoffen viele Menschen mit dem Aufstieg Chinas, mit dem eine Verschiebung der Machtverhältnisse einhergeht, dass der Tag nicht mehr fern ist, an dem sich Japan zur Selbstbesinnung gezwungen sieht. Während Japan einst ein Wirtschaftsgigant war, ist Chinas Wirtschaft heute dreimal so groß. Und der Abstand wird von Jahr zu Jahr größer. Bis Ende 2021 wird Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 8 Prozent wachsen, während das von Japan um 3 Prozent schrumpfen wird. Im Jahr 2020 wuchs Chinas BIP noch um 2,1 Prozent, während das von Japan sogar um 4,59 Prozent sank.

Diese wirtschaftliche Entwicklung macht deutlich, warum China angesichts solch brutaler historischer Erfahrungen so stolz auf seine Errungenschaften ist – und warum andererseits Tokio letztlich Peking fürchtet.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Englischen.

Tom Fowdy ist ein britischer Autor und Analytiker für Politik und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien. Er twittert unter @Tom_Fowdy

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