Merkel winkt adé – und hinterlässt das Land wie einen Großsegler in der Flaute
von Dagmar Henn
Jetzt ist es vorüber. Sie zieht um, in das Büro, aus dem einst Margot Honecker eines der besten Bildungssysteme weltweit lenkte; aber schon der Vormieter Helmut Kohl dürfte die Atmosphäre der Bildungsbeflissenheit verbannt haben. Sie hat sich von der Bundeswehr zum Abschied ein Lied der Knef vorspielen lassen, einer Frau, die vor der Enge der Adenauer-Zeit flüchtete und deren zweiten Aufguss durch Merkel sie sicher nicht freudig begrüßt hätte.
Angela, die Ex-Kanzlerin, wird von ganzen neun Mitarbeitern umgeben, wenn sie aus dem Fenster auf die Straße Unter den Linden blickt oder, hinter dem sicher viel zu großen Schreibtisch, die Schach-Dame in den Händen dreht, die sie aus dem Kanzleramt mitnahm. Die neun und das Büro bleiben ihr für den Rest ihres Lebens. 2019 war im Bundestag beschlossen worden, fünf Mitarbeiter seien die Höchstgrenze für Ex-Kanzler. Bei Gerhard Schröder waren es noch sieben. Aber immerhin – die zusätzlichen Stellen bei Merkel werden im Verteidigungsministerium eingespart; sie täte dem Land endlich Gutes, nähme sie die übrigen 2.500 auch mit dazu.
An der Wand in ihrem Rücken hängt ein teures Gemälde als Leihgabe, und die Journalisten, die sie weiter empfangen wird, werden demütig und andächtig zu ihr aufblicken und dankbar in ihrem Kaffee rühren, so dass sie weiter so tun kann, als regierte sie, wie sie es all die Jahre schon getan hat. Das scheinbare Tun unter salbungsvollen Worten wird uns erhalten bleiben, auch ohne ihr Mitwirken, dessen kann sie gewiss sein; niemand wird die Fassaden einreißen, die sie an Stelle eines gedeihenden Landes aufgerichtet hat.
Wenn ich ein Bild suche, um die emotionale Essenz ihrer Regierungszeit zu beschreiben, sehe ich einen Großsegler, der wochenlang in der Flaute dümpelt. Kein Wind regt sich, aber man spricht nicht mehr über den Wind. Weil das Wasser und die Nahrung langsam knapp werden, spricht man auch nicht mehr über Speise und Trank. Die Kapitänin hält aber tägliche Reden, man müsse auf das freie Spiel von Wind und Wellen vertrauen, und betont, wie weit man schon gekommen sei. Die Mannschaft setzt die nutzlosen Segel mehrmals täglich, und holt sie mehrmals täglich wieder ein, sodass zumindest der Anschein gewahrt bleibt, auch wenn stillschweigend alle fürchten, diese Flaute nie wieder zu verlassen.
Rückblicke auf die bundesdeutsche Geschichte sind überhaupt frustrierend. In meiner persönlichen Erinnerung liegen da die Jahre unter Kohl schon wie ein Bleiklumpen; dann gab es die kurze, trügerische Hoffnung nach der Wahl 1998, dass sich etwas zum Besseren wenden würde; wobei man allerdings recht schnell eines Schlechteren belehrt wurde, als von Rot-Grün im Sozialen so richtig losgeholzt wurde. Und dann Merkel, sechzehn Jahre Pastorentochter, der das Pastorale, das Salbungsvolle so aus den Knopflöchern tropft, dass im Vergleich selbst ein Helmut Kohl noch zum knochentrockenen Realisten wird.
Vor Merkel hantierte die Politik wenigstens noch mit Zahlen. Das war fassbar. Das waren Behauptungen, die man widerlegen, die man kontern konnte. Inzwischen ist all das in einem Nebel entschwunden, in Sprüchen aufgelöst, von westlichen Werten und Verantwortung und – ja, dieser Begriff wurde inzwischen so gnadenlos enteignet wie alle sonstigen Arten von Volkseigentum – Solidarität.
Merkel predigt. Sie kann das – nicht, weil sie gelernte Pfarrerstochter ist, sondern weil die eigentlich fürs Predigen zuständigen Institutionen schwer angeschlagen sind. Seit dem Rücktritt von Margot Käßmann wurde der protestantische Teil von den Kalvinisten übernommen und jede Spur von Friedenssehnsucht getilgt, ebenso wie Ermahnungen im Bereich des Sozialen. Der katholische Teil wurde mit Missbrauchs-Skandalen erledigt. Das, was die Bundesregierung an Ethik für nötig hält, beschafft sie sich mittlerweile selbst, und so sieht das auch aus.
Als gelernte Ungläubige hätte ich nicht gedacht, dass mir das "christlich Ethische" einmal fehlen würde, nachdem mir gefühlt endlose Jahre die regelmäßigen reaktionären Kommentare – insbesondere aus den Kreisen der katholischen Kirche – ziemlich auf den Wecker gegangen waren. Aber inzwischen werden Fragen der Ethik gar nicht mehr gestellt, weil niemand mehr übrig ist, der sie laut genug äußern könnte, was gerade im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen ein großes, wahrnehmbares Loch hinterließ. So wie eine wochenlange Flaute eben.
Die Gesellschaft ist roher geworden in diesen sechzehn Jahren. Das zeigt schon die Kriminalstatistik. Es zeigt sich aber auch in der Zahl der Menschen, die inzwischen in Hauseingängen der Großstädte leben. Das erste Mal, dass ich so etwas sah, war Ende der 1980er in Brasilien. Dann in den ausgehenden 90ern in London. Ja, es geht noch schlimmer, in den USA sind die Zeltstädte der Wohnungslosen mittlerweile größer als sie es in den 1930ern waren; aber was das Heute vom Damals unterscheidet, ist vor allem die Gleichgültigkeit, mit der sie hingenommen werden. Ein Elend, das sich ausbreitet wie ein Krebsgeschwür, und die gesellschaftliche Reaktion ist schlicht völlige Verleugnung.
Zugegeben, die Saat der Mitleidslosigkeit wurde schon unter Schröder ausgesät. Vor und mit der Einführung von Hartz IV schwappte eine gigantische Propagandakampagne übers Land, um jedem einzubläuen, dass die Arbeitslosigkeit nicht Resultat der systematischen Deindustrialisierung der besetzten Gebiete sei, sondern stets das individuelle Versagen der Arbeitslosen.
Davor war die schlimmste Phase der weitgehenden politischen Gleichschaltung der Massenmedien in der Geschichte der BRD das gewesen, was noch heute als "bleierne Zeit" bekannt ist – der Herbst 1977 mit einer Welle von Sicherheitsgesetzen und Terrorhysterie. Aber nach Merkels Amtsantritt wurde die dauerhafte Seelenmassage des Publikums fest etabliert, und spätestens seit 2014 jagt eine Kampagne die andere.
Divide et impera – teile und herrsche, lautet eine alte Herrschaftsregel aus dem römischen Reich. Das ist, was unter dem Pastoralen liegt, die wahre Strategie der Ära Merkel.
Schröder hat auch hier gründliche Vorarbeit geleistet; das ganze Drumherum um Hartz IV trieb einen tiefen Keil zwischen die abhängig Beschäftigten und diejenigen, die gerne abhängig beschäftigt wären; die Entfristung der Leiharbeit einen zwischen die Stammbelegschaft und die Leiharbeiter, und mit den Werkverträgen kam noch eine weitere Kluft dazu… alles das mit voller Kooperation der Gewerkschaften. Es war auch ein Keil zwischen den Armen und dem Rest der bundesdeutschen Gesellschaft.
Aber Merkel ist es gelungen, diese Spaltung über die Finanzkrise hinweg zu retten, die eigentlich deutlich genug zeigte, dass der wahre Bruch in der Gesellschaft an ganz anderer Stelle verläuft. Offiziell wurden bis zum Jahr 2017 68,4 Milliarden Euro für die Bankenrettung ausgegeben, und zehn Milliarden drohen noch als Risiken bei der WestLB. In Wirklichkeit war es deutlich mehr, was aufgewandt werden musste, um die deutschen Banken zu retten; nur ein Teil davon stammte aus dem deutschen Bundeshaushalt.
Denn die Milliarden, die in den USA zur Stützung von AIG flossen (wir sind jetzt im Jahr 2007, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers), waren letztlich ein Teil der Gelder, mit denen die Deutsche Bank gerettet wurde; gleiches galt für die Staatshaushalte in Irland, Portugal, Griechenland – die Staatsverschuldung, die dort in die Höhe schoss (2010), resultierte ebenfalls aus Bankenrettungen, und überall war sie mit Töchtern gut vertreten, die Deutsche Bank.
2008 war das Jahr, in dem man über Kapitalismus reden konnte. Ganz kurz gab es einen realistischen Blick auf Arm und Reich, Mächtig und Ohnmächtig, und eine Welle des Zorns schwappte durch ganz Europa. Aber nach dieser ersten Runde der Bankenrettung, in der alleine in der Bundesrepublik 500 Milliarden Euro weitgehend ohne Bedingungen zur Verfügung gestellt wurden – zwei komplette Bundeshaushalte –, kamen die nächsten Runden Bankenrettung. Einfach unter anderer Überschrift: erst als Eurokrise und dann, kürzlich, als Corona-Krise. Die zornigen jungen Leute von 2008 wurden erfolgreich mit Identität und Klima abgelenkt, und alle tun so, als wäre alles wieder gut. Sie setzen die Segel und streichen sie wieder, als wäre da ein Wind, mit dem sich Fahrt aufnehmen ließe.
Erinnert sich noch jemand an die "Troika"? Diese dreigesichtige Finanzfurie aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission, die – kenntlich unter deutscher Führung – den Griechen vorschrieb, wann dort um wieviel die Renten zu kürzen und Kliniken zu schließen seien? An die Bilder von Merkel in Naziuniform mit Hitlerbärtchen, die auf griechischen Protesten zu sehen waren?
Die Exportquote der deutschen Industrie, die mit 45,1 Prozent schon bei ihrem Amtsantritt extrem hoch war, stieg weiter auf 50,8 Prozent im Jahre 2019. Und nach wie vor ist den meisten Deutschen nicht klar, dass eine derart hohe Exportquote weder ihnen noch den Bewohnern der Nachbarländer nützt, sondern nur den Besitzern dieser Exportindustrie. Denn für diese Exporterfolge wird die Binnennachfrage stranguliert, was heißt, der durchschnittliche Bewohner hier hat weniger Geld und kann sich weniger leisten, und dem Einwohner der Nachbarländer, die Ziel der Exporte sind, geht es genauso, weil die deutschen Exporte unvermeidlich auf Kosten der dortigen Industrien gehen. Es wird schlicht Wohlstand von unten nach oben geschaufelt, nach ganz oben.
Nur – volkswirtschaftliches Denken ist endgültig aus der Politik verschwunden. Macht es volkswirtschaftlich Sinn, die Mieten explodieren zu lassen? Nein, macht es keinen, weil das dafür gezahlte Geld ja nicht mehr für Produkte ausgegeben werden kann, sondern als leistungsloses Einkommen in die Taschen einer kleinen Minderheit fließt, die einen wesentlich geringeren Anteil ihres Einkommens tatsächlich ausgeben werden. Die Hälfte der Deutschen lebt zur Miete, mehr als in jedem anderen Land der EU, aber nur zwei Prozent aller Immobilienbesitzer, also ein einziges Prozent der Bevölkerung, besitzen mehr Wohneigentum, als sie selbst bewohnen können; dieses eine Prozent hat einen Nutzen von dieser Entwicklung. Die Zahl der Sozialwohnungen hat sich übrigens, obwohl es heute insgesamt drei Millionen mehr Wohnungen in Deutschland gibt als im Jahr 2005, bis heute von 2,1 Millionen auf 1,1 Millionen fast halbiert; auch diese Zahl stammt, weil statistisch erhobene Zahlen immer hinterherhinken, aus dem Jahr 2019.
Im sozialen Bereich kann man nur einen Negativbericht liefern. In sechzehn Jahren Merkel gelang es, die Armutsquote von 14,7 Prozent auf 15,9 Prozent zu erhöhen; den Anteil der Niedriglöhner von 17,4 Prozent auf 21,1 Prozent; die Kinderarmut von 17 Prozent auf 20,1 Prozent; den Anteil der Alleinerziehenden, die Hartz IV beziehen, von 40,5 Prozent auf 45,2 Prozent; die Zahl der Wohnungslosen (nach Schätzungen der Wohnungslosenhilfe) von 254.000 auf 542.000, die Zahl der überschuldeten Haushalte (nach Creditreform) von knapp drei Millionen auf 3,4 Millionen. Und nach wie vor ist der Abstand zwischen dem durchschnittlichen Vermögen (also das Gesamtvermögen geteilt durch die Einwohnerzahl) und dem Medianvermögen (jener Betrag, den die Hälfte der Bevölkerung maximal besitzt) der größte in ganz Europa, was zeigt, dass der Abstand zwischen Arm und Reich ausgeprägter ist als in den Nachbarländern und dass – trotz eines Durchschnitts von 108.500 Euro (2017) – große Teile der Bevölkerung nichts oder weniger als nichts besitzen. "Das Land, in dem wir gut und gerne leben", fürwahr.
Glanz und Glamour, Klatsch und Tratsch und eine ekelerregende Verherrlichung der Superreichen ist an die Stelle einer Darstellung und Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit getreten. Und ganz viel Moral. Ganz, ganz viel Moral. Denn Interessen kann man niemandem zum Vorwurf machen; wenn man das Interesse aber ins Moralische zerrt, ist es leicht, daraus Vorwürfe zu konstruieren. Und irgendwie ist es gelungen, die grenzenlose Gier der Oligarchen mit Hilfe von Berichten über Villen, Luxushandtäschchen und vermeintliche "Philanthropie" aus dem Blickfeld zu rücken. Es sind immer die Unten, die moralisch versagen.
Wie war das in den Jahren 2014/2015, als eineinhalb Millionen Menschen in dieses Land kamen? Jeder, der auch nur darauf hinwies, dass dies die Lage auf dem Wohnungsmarkt verschärfen werde, war sofort Rassist. Wurde etwas getan, diese Lage zu entschärfen? Nein, es gibt weniger bezahlbare Wohnungen als zuvor. Schlimmer noch, von den damals so überschwänglich willkommen Geheißenen leben allein in Berlin 10.000 immer noch in Notunterkünften. Aber was wäre geschehen, hätte es diese Zuwanderung nicht gegeben? Dann wäre der Druck auf dem Wohnungsmarkt gesunken, zum Nachteil jenes einen Prozents, das davon profitiert. Ökonomisch ist die Konsequenz eindeutig: die Wirtschaft bekam Nachschub an Billigarbeitskräften, was größere Lohnsteigerungen verhinderte, und die Nachfrage nach Wohnungen blieb über dem Angebot, was die Mieten weiter steigen ließ. Das ist nicht die Schuld der Gekommenen, aber es ist eine Tatsache, über die nicht gesprochen werden darf, weil man sonst Rassist ist; was zusätzlich gnädig verhüllt, in wessen Interesse da gehandelt wurde.
Das Schiff liegt still, aber jeden Tag gehen die Offiziere herum und nehmen ein paar aus der Mannschaft beiseite und erzählen ihnen, was andere über sie gesagt haben sollen, oder wer zu viel von den wenigen Vorräten verzehrt hat. Damit die Segel noch brav gesetzt und wieder eingeholt werden, wird inzwischen mit Auspeitschung gedroht, und gleichzeitig wird debattiert, ob man sich nicht der Segel und des Steuerruders entledigen solle; das reine, natürliche Spiel der Wellen müsse doch auch ans Ziel tragen können. Die Piratenlieder übrigens, die früher abends zur Vergnügung gesungen wurden, wurden als erste verboten.
Wie war das mit Köln, Silvesternacht 2015? Monatelang wurden zwei völlig unterschiedliche Erzählungen gepflegt, und möglichst viel Abneigung zwischen den Anhängern jeder Erzählung geschaffen. Inzwischen ist klar, dass es massive Übergriffe gab; aber diese Information wurde so veröffentlicht, wie die Medien es gern mit Richtigstellungen tun, ganz hinten und ganz klein gedruckt. Oder wie war das mit Chemnitz 2018? Als den Bürgern der Stadt, die demonstrierten, nachdem einer der ihren von einem Syrer und einem Iraker erstochen worden war, "Hetzjagden" auf Migranten unterstellt und sie alle zu Rassisten erklärt wurden, obwohl das Opfer schwarz war (der Vater war Kubaner) und man mindestens ebenso gut eine Tat hätte vermuten können, die auf arabischem Rassismus gegen Schwarze beruht (den es tatsächlich gibt, und zwar nicht zu knapp).
"Dunkeldeutschland" hieß das damals. Und "Lichtdeutschland" absolvierte sogleich ein Großkonzert gegen Rassismus dort. Damit die Trennung zwischen dem Osten und dem Westen noch eine Generation länger hält.
Das war alles schon das gleiche Spiel, wie wir es heute mit Corona erleben dürfen, bei dem in der aktuellen Version die Geimpften gegen die Ungeimpften gehetzt werden. Immer, an jedem Punkt dieser Spaltungen, kostet es nicht allzu viel Mühe, eine andere Variante, eine im konventionellen Sinne politisch kluge, zu benennen, die ein angeblich angestrebtes Ziel ohne diese gesellschaftlichen Verwerfungen erreicht.
Wie in Chemnitz 2018. Es war die sozialdemokratische Bürgermeisterin, die die Richtung vorgab, indem sie – ohne ein Wort des Mitgefühls für die Angehörigen des Opfers zu erübrigen – gleich die Befürchtung äußerte, der Vorfall könne jetzt von Rassisten genutzt werden. Diese Aussage war entweder ein Ausdruck großer politischer Dummheit oder böse Absicht. Wie bei so vielen ähnlichen Fällen lässt sich das noch nicht entscheiden.
Aber es sind zu viele politische Fragen, die auf solche Weise behandelt werden, um es noch für einen Zufall zu halten. Die Debatte um die Kölner Silvesternacht hätte ebenso entschärft werden können. Eine Regierung, die tatsächlich eine höhere Impfquote will, müsste nur das Angebot an Impfstoffen verbreitern; aber sie verhält sich, als hätten sie alle Optionsscheine auf ein Steigen der BioNTech-Aktien im Depot liegen… Wann immer es eine Möglichkeit gibt, etwas durch eine offene Diskussion zu lösen und Konfrontationen zu entschärfen, wird sie nicht genutzt. Stattdessen gibt es mehr Sprechverbote und mehr Beschimpfungen. Ich kann mich an keine Bundesregierung erinnern, die ihre Bevölkerung mit solcher Leidenschaft beschimpft und verleumdet hat wie die Regierung Merkel in den letzten Jahren. Und dabei befindet sie sich fast inmitten einer Allparteien-Koalition…
Die Moral überzieht alles, wie eine Schicht Schmierseife. Das dient sicher auch als Ausgleich für die vielen Skandale, die über die Jahre hinweg aufgelaufen sind; beginnend gleich mit der Bankenrettung selbst. Schließlich war die Deutsche Bank einer der fünf größten Emittenten dieser mit Hypotheken hinterlegten Spekulationspapiere (mortgage backed securities, MBS) in den USA, und die Unterlagen eines Untersuchungsausschusses des US-Senats belegten, dass sie dieses Geschäft mit gehöriger krimineller Energie betrieb. Eine Regierung, die ihre eigenen geltenden Gesetze ernst genommen hätte, hätte dieser Bank die Lizenz entziehen müssen, statt sie mit Milliarden wieder aufzupäppeln. Oder sie zumindest unter staatliche Kontrolle stellen müssen – allein schon, um künftig kriminelle Handlungen zu verhindern.
Das Gleiche gilt übrigens auch für den Cum-Ex-Betrug. Eine Bank, die Betrug in nicht gerade geringem Ausmaß begeht, müsste per Lizenzentzug nach dem Kreditwirtschaftsgesetz geschlossen werden. Und? Bei wie vielen Banken wurde das versucht? Bei keiner. Auch nicht wegen Beihilfe zu sonstiger Steuerhinterziehung.
Verglichen damit sind die diversen Korruptionsskandale geradezu Pillepalle. Oder die Verwicklungen deutscher Dienste – ob nun BND oder eines der 17 Verfassungsschutzämter – in solche Dinge wie den NSU oder den Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin. Oder der Stapel ungültiger Doktorarbeiten. Das kommt am einen Tag und geht am nächsten. Nichts davon ist wirklich aufgearbeitet. Darüber, künftige Wiederholungen zu verhindern, wird gar nicht erst geredet. Wie viele Monate lang beschäftigte sich einst die BRD mit dem Parteispendenskandal. Es ist, als wäre es längst zur akzeptierten Tatsache geworden, dass Regierungsangehörige korrupt sind; ebenso wenig eine Nachricht wie die Bemerkung, dass sie eine Nase im Gesicht tragen.
Die Luft in dieser Windstille ist drückend, und im Wasser rund um das Schiff schwimmen die Exkremente. Repariert und gewartet wird nicht mehr, und langsam fressen sich die Muscheln, die sich am Rumpf angesiedelt haben, durch das Holz. Die nächtlichen Träume sind geplagt vom drohenden Untergang, aber am Tag, im Hellen, im Gespräch fällt dazu kein Wort. Das Schiff ist das beste, schönste, größte, das je gebaut wurde, und die Wellen werden es willig ans Ziel tragen. Alles andere ist eine Lüge, die nur das Vertrauen der Mannschaft in die Offiziere untergraben soll.
Manchmal kann man die Quellen einzelner Motive, einzelner Entwicklungen leicht finden. Hinter Pegida und der Erzählung von "Dunkeldeutschland", Tag- und Nachtzwillinge wie Athena und Hephaistos, verbirgt sich, was den Menschen der DDR in jenem Prozess angetan wurde, der "Wiedervereinigung" genannt wird. Hinter der Skandalisierung der angeblich so gefährlichen Reichsbürger findet sich die offene Wunde des damals nicht eingeleiteten Verfassungsprozesses. Irgendwo darunter ist immer ein Stück Realität verborgen, das nicht erwähnt, nicht angesprochen und schon gar nicht bearbeitet werden soll.
2010 gab es das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz IV. Der Regelsatz sei nicht verfassungsgemäß berechnet. Die Regierung rechnet neu und kommt auf dasselbe Ergebnis, plus fünf Euro. Inzwischen ist der Vorsitzende dieses Gerichts ehemaliger Miteigner einer Kanzlei, die Cum-Ex erfunden hat…
Ja, die Brücken verfielen schon vor Merkel. Aber in sechzehn Jahren hat sich da nichts gebessert. Das einzige Motiv, das zu einer Erneuerung einer Brücke führt, ist, wenn sie NATO-Panzer tragen können soll.
Der Anteil des Rüstungshaushalts am Gesamtbudget des Bundes stieg von 11,3 Prozent auf 13,3 Prozent, und so gut wie alle Parteien (Die Linke zögert noch ein wenig) wollen ihn noch weiter erhöhen. Logisch, wenn man spätestens seit 2014 wieder einen Feind im Osten entdeckt hat und wenn man auf der ganz großen Bühne den starken Mann markieren will. Die deutsche Außenpolitik ist großmäulig und räuberisch (man befrage mal die Griechen), man ist schließlich so tolerant und liberal und so gut, dass eigentlich alle hier leben wollen (nur die Zahl der auswandernden Deutschen hat sich in diesen sechzehn Jahren vervielfacht, von 78.000 auf 250.000 im Jahr 2017). Das ist Grund genug, rund um die Welt Menschen mit Waffengewalt zu diesen Werten bekehren zu wollen. Nach den Mädchenschulen in Afghanistan kann man jetzt auf die ersten Bomben für Transgender-Rechte warten.
Welche Sehnsucht nach einem Land und einer Regierung, die nüchtern und zielstrebig schlicht die gegebenen Probleme angehen und ganz selbstverständlich Rechenschaft darüber ablegen will, was sich im Leben der Menschen gebessert hat und was nicht. Ohne alles mit dem Dröhnen der Werteorgel zu übertönen, und ohne wegzuschauen von den Stellen, an denen der Schuh drückt. Aber vielleicht mit ein klein wenig Zukunftshoffnung und bitte nicht in der Verzichtversion ("wir essen alle zu viel Fleisch", "wir fahren alle zu viel in den Urlaub", "wir erzeugen alle zu viel CO₂" usw. usf.). Wieder Reden von Politikern hören, die nicht alles verschmierseifen und bei deren Auftritten man nicht in Fremdscham versinkt; denen man abnehmen kann, dass sie sich den Menschen gegenüber verantwortlich fühlen – ja: den Menschen, nicht der "deutschen Wirtschaft" oder einer "regelbasierten Weltordnung".
Letzteres hat nämlich mit Völkerrecht so viel zu tun wie die Bundesrepublik inzwischen mit einem Rechtsstaat – wenig bis gar nichts. Spätestens seit 2014 wird hier so getan, als befände man sich im Belagerungszustand, überall droht der böse Feind; dabei war es doch die deutsche Politik höchstselbst, verkörpert unter anderem durch Herrn Steinmeier, die das ganze Elend im Donbass mit verursacht hat. Deutsche Politik, die an den Plänen für einen Regime Change in Syrien von Anfang an beteiligt war. Deutsche Politik, die sich beschwerte, weil die USA unter Trump nicht aggressiv genug waren. Die sich gebärdet, als hätte sie Grund, aller Welt zu erklären, wie die Dinge zu laufen haben, aber das am besten im Flecktarn.
Berlin hat sich fest etabliert als das Herz der Finsternis in dieser EU, da mag sich Herr Macron nebenan noch so viel Mühe geben. Von hier aus wird erpresst und genötigt, wird geschröpft und verelendet. Die einzigen in der EU, die sich dessen nicht bewusst sind, sind die Deutschen. Selbst wenn in irgendeinem EU-Land mal wieder die Corona-Regeln gestrafft werden, fragt man sich, ob es wieder einmal einen Anruf aus Berlin gab. Seit die deutsche Kontrolle über die EU vollendet ist (und das war sie spätestens mit der Eurokrise), ist jeder Widerspruch dagegen – aus welchem Land auch immer – böser Nationalismus.
Eigentlich möchte man diese ganze Zeit am liebsten sofort vergessen. Mit ihrem gesamten Personal. Merkel als allererste. Es wäre solch eine Erleichterung, auf ihr Foto zu blicken und ganz unschuldig zu fragen: "Wer ist denn diese Person?" Aber im Augenblick folgt noch der Gedanke, wie ungeheuer die Arbeit ist, das wieder aufzuräumen, zu kitten, zu heilen, auszugleichen, aufzurichten, wiederzubeleben, was diese sechzehn Jahre zerstört haben.
Manchmal, in einer mondlosen Nacht, wenn man die Hand vor Augen nicht mehr sieht und außer dem Plätschern der schwachen Wellen und dem Knarzen der Seile an Bord nichts zu hören ist, steht der Schattenriss einer Gestalt am Bug, und leise, leise ist ein Dreigroschen-Song zu hören. "Und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird liegen am Kai."
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