Meinung

Mit absolutem Wahrheitsanspruch pokern die NATO-Medien zu hoch

Soll Journalismus "einordnen" oder sollte er einen möglichst direkten Blick auf die Dinge bieten? In jüngster Zeit wird selbst die Tatsache, Aussagen unverfälscht wiederzugeben, zum Vorwurf gewendet, sobald diese Aussagen nicht der herrschenden Meinung entsprechen.
Mit absolutem Wahrheitsanspruch pokern die NATO-Medien zu hochQuelle: www.globallookpress.com © Mary Evans Picture Library

von Dagmar Henn

1980 erschien ein Dokumentarfilm, der eine neue Darstellungsweise wagte. Septemberweizen von Peter Krieg ist ein Film, in dem es keinen einzigen kommentierenden Satz gibt. Er besteht ausschließlich aus aneinander geschnittenen Aussagen. Damit bleibt ganz allein dem Zuschauer überlassen, sich eine Meinung zum dargestellten Thema zu bilden.

Natürlich, auch das ist zumindest teilweise Fiktion, weil immer noch ein Regisseur über die Auswahl und Reihung der Aussagen entscheidet. Aber das Beispiel zeigt, in welche Richtung sich anspruchsvoller Journalismus damals bewegte: hin zu einer weitestgehenden Zurücknahme des Autors.

Klar gibt es auch im Journalismus Moden. In den 1970ern etwa die Wiedergabe von Gesprächsprotokollen möglichst unverändert in gesprochener Sprache; oder die zwischen Gespräch, Reportage und Montage angesiedelten Bücher von Hubert Fichte. Das Gesehene und Gehörte sollte so roh und unbeeinflusst wie möglich dem Leser übergeben werden. Der Film Septemberweizen ist nur die filmische Fortführung dieses Ansatzes.

In den 1990ern bewegte sich dann alles in Richtung des Kommerzes, wurde wieder glatt, geschliffen, unauffällig. Dazu trug sicher auch bei, dass ein Schnitt wie der von Peter Krieg aufwendig und teuer ist, viel zu teuer für eine Massenproduktion. Die Kamera auf etwas draufhalten und einen Kommentar hinzuzufügen ist schlicht billiger, als eine entsprechende Aussage als Originalton aufzutreiben. Und der Druck auf die Produktionskosten ist seit der Einführung des Privatfernsehens kontinuierlich gestiegen.

Aus heutiger Perspektive ist dabei unschwer zu erkennen, dass der Darstellungsansatz, dem Peter Krieg folgte, es weit eher ermöglicht, sich als Zuschauer ein unabhängiges Urteil zu bilden, als es durchschnittliche Dokumentationen tun. Das ist es auch, was Livestreaming so interessant macht: nicht die sichtbare Handlung zu zeigen, die oft nicht sehr spannend ist, sondern die Möglichkeit zu geben, aus der Ferne etwas so mitzuerleben wie ein Beobachter vor Ort, ohne einen Filter dazwischen.

Man könnte eine solche Sicht auf die Ereignisse im Rückgriff auf theologische Debatten des 16. Jahrhunderts "protestantisch" nennen. Sie geht von der Vorstellung aus, dass es keines Mittlers zwischen dem Zuschauer und der Wirklichkeit bedarf – so, wie im Protestantismus kein Priester zwischen dem Gläubigen und Gott steht. Bei der anderen Variante, der "katholischen", erhebt immer jemand den Anspruch, kundiger zu sein als der Zuschauer, und tritt dann zwischen diesen und die Wirklichkeit.

So, wie die protestantische Version des Christentums auf technischen Voraussetzungen beruhte, nämlich auf der Zugänglichkeit der zentralen Schrift, die wiederum von Buchdruck und Übersetzungen abhing, so hatte auch die Entstehung der "protestantischen" Version des Journalismus als technische Voraussetzung zum mindesten das Tonbandgerät bzw. in dessen Nachfolge den Kassettenrekorder bis hin zur Handykamera. Ohne diese Gegebenheiten war ein völliges Zurücktreten des Vermittlers nicht möglich. Seit es diese technischen Apparate gibt, kann sich der Berichterstatter weitgehend zurücknehmen.

Es gibt natürlich vielerlei Zwischenformen, und es gibt andere Möglichkeiten, die Wahrnehmung des Betrachters zu beeinflussen, etwa den Einsatz musikalischer Untermalung. Auch der Schnittrhythmus, die Farbeinstellung, Licht und Schatten bieten Möglichkeiten, die gesehenen Eindrücke zu verändern. Eine Geschichtsdoku von Guido Knopp dürfte in etwa das extreme Gegenbeispiel von Septemberweizen sein. Wöllte man aber so etwas wie eine journalistische Moral formulieren, würde sie wohl eher zur protestantischen als zur katholischen Variante neigen.

Das neueste Machwerk, das sich mit RT DE befasst, die ISD-Publikation "Ein Virus des Misstrauens", wiederholt einen Vorwurf immer wieder: Aussagen würden nicht "eingeordnet." Dabei geht es konkret um Aussagen von Personen, die den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstehen. "Der Artikel von RT DE und das dazugehörende Podcast-Video enthalten jedoch keinerlei kritische Einordnung der Positionen von Bhakdi und Reiss", lautet einer der Vorwürfe. Hier wird nicht nur eine äußerst "katholische" Position vertreten – das wäre ja noch legitim, jeder muss seine journalistischen Maßstäbe selbst entwickeln. Nein, es wird RT DE zum Vorwurf gemacht, den durchaus legitimen Ansatz zu folgen, Aussagen erst einmal zu dokumentieren. Dabei wird impliziert, der Leser oder Hörer müsste gleichsam zwanghaft ungefiltert aufgenommene Meinung übernehmen und sei nicht imstande, sich aus dieser und anderen Darstellungen eine eigene Meinung zu bilden. Einzig die "Einordnung" im Sinne der offiziell verfügten Wahrheit bewahrt den tumben Leser vor dem verhängnisvollen Irrweg.

An diesem Punkt ist die metaphorisch gemeinte Einteilung in protestantisch und katholisch präziser, als es mir lieb wäre. Denn die katholische Kirche sicherte ihre Deutungshoheit mit einer ganzen Reihe von Zwangsmaßnahmen ab, insbesondere gegen Übersetzungen ihrer heiligen Schrift in die jeweiligen Volkssprachen; Meister Jan Hus wüsste davon ein Liedchen zu singen. Die historische Lektion jedoch, die beim ISD bis heute nicht angekommen ist, lautet, dass sich solche Deutungsmonopole selbst mit dem Einsatz von extremen Zwangsmitteln (und Ketzerverbrennungen sind ein ziemlich extremes) nicht dauerhaft halten lassen, weil sich der neugierige, kritische Grundimpuls des Menschen, selbst sehen, verstehen, begreifen zu wollen, zwar mit Weihrauch und Chorgesang oder mit Tittytainment und Knopp eine Zeit lang ablenken, aber nicht dauerhaft auslöschen lässt und sich durchsetzt, sobald die Möglichkeiten dafür gegeben sind.

Hier sind wir an dem Paradoxon, das das ganze Bohei um "Desinformation", "russische Propaganda" und "Destabilisierung" geschaffen hat. Denn interessanterweise ist es unmöglich, einem Konkurrenten Propaganda und Informationsverfälschung zu unterstellen, ohne gleichzeitig darauf aufmerksam zu machen, dass man selbst ja ebenso gut Propaganda, Desinformation und Ähnliches betreiben könne. Darauf zu reagieren, indem man Prüfsiegel für vermeintliche Wahrheiten oder Warnungen vor vermeintlichen Unwahrheiten verteilt, beseitigt das Paradox nicht, sondern verstärkt es im Grunde nur.

Denn in dem Moment, in dem ich meinem Gegenüber, meinem Publikum unterstelle, manipuliert worden und damit manipulierbar zu sein, könnte ich den Verdacht, selbst manipulieren zu wollen, nur auf eine Art und Weise abwenden – indem ich die Techniken, die Mechanismen der Manipulation offenlege und damit die Möglichkeit eröffne, meine eigenen Aussagen zu überprüfen. Nicht jedoch, indem ich selbst desto lauter schreie und darauf bestehe, ich und nur ich befände mich im Besitz der gültigen Wahrheit und alles andere sei Lüge.

Die Absolutheit, mit der dieser Anspruch vorgetragen wird, ist nur scheinbar eine Stärkung der eigenen Position. In Wirklichkeit aber wird sie geschwächt. Denn während eine Anerkennung unterschiedlicher Interessen unterschiedliche Sichtweisen ermöglicht, die einander nicht ausschließen müssen, und eine Anerkennung der Begrenzungen eigener Erkenntnismöglichkeiten stets den Verweis auf die Quellen erlaubt, ja fordert, ist der Anspruch auf absolute Wahrheit mit dem Nachweis einer einzigen Lüge zu sprengen. Die Vehemenz, mit der die NATO und ihre Medien den Krieg um die Köpfe führen, erweist sich somit als Vabanque-Spiel. Die Niederlage, die sie riskieren, wird dann ebenso absolut sein wie der vorgetragene Anspruch auf Wahrheit.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln. 

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