Im Nahen Osten viel Neues
Ein Kommentar von Dr. Karin Kneissl
Benjamin Netanjahu, Israels Langzeitpremier, der vor einigen Monaten zurücktreten musste, hegte stets eine tiefe Verachtung für seinen diplomatischen Apparat, den er als Außenminister parallel zum Amt des Regierungschefs einige Jahre leitete. Ganz offensichtlich umging er das Außenministerium und beauftragte seinen Vertrauten Josef Cohen, bis vor kurzem Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, mit diplomatischen Missionen. Cohen sollte systematisch den Kontakt mit den arabischen Golfstaaten, vor allem den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, herstellen. Trumps Regierung, die sich demonstrativ an die Seite Israels stellte, beförderte diesen Brückenschlag. Im Herbst 2020 kam es zur Unterzeichnung der sogenannten Abraham-Abkommen.
Die Abraham-Abkommen – Trumps Vermächtnis
Hierbei handelt es sich um eine Serie von Abkommen, benannt nach dem alttestamentarischen Patriarchen Abraham, auf den sich Judentum, Christentum und der Islam gleichermaßen beziehen. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und später auch der Sudan und Marokko brachen vor einem Jahr mit dem Grundsatz der arabischen Länder, dass es erst einen palästinensischen Staat und ein Ende der israelischen Besatzung geben muss, bevor es Beziehungen zu Israel geben kann.
Trotz intensiver Avancen Netanjahus verschloss sich Riad einem solchen Abkommen mit Israel, was aus Gründen der saudischen Legitimität in der islamischen Welt nachvollziehbar ist. Auch wenn es der Mossad und der israelische Premier nicht begreifen wollten: Das Haus Saud übernahm nach der Vertreibung der Haschemiten in den 1920er-Jahren die Rolle der Scherifen, also der Wächter der heiligen Stätten des Islam Mekka und Medina. Genau diese Aufgabe wäre in der islamischen Welt infrage gestellt worden, hätte das saudische Königshaus seinerseits eine israelische Botschaft in Riad zugelassen und einen saudischen Botschafter nach Israel entsandt. Als Ägypten im Jahr 1979 einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete, wurde das Land aus der Arabischen Liga suspendiert und mehrere Jahre isoliert.
Alle gegen Einen
Indes pflegen aber Kairo und die Golfmonarchien, allesamt sunnitisch arabische Staaten, ein inniges Bündnis, welches vor allem die ablehnende Haltung gegenüber Iran eint. Das alte Imperium unterscheidet sich nicht nur durch seine lange Geschichte als persisch geprägte Kultur zivilisatorisch von den relativ jungen arabischen Nationalstaaten. Es geht auch um theologische Auseinandersetzungen zwischen den Glaubensrichtungen der Sunna, der rund 90 Prozent der Muslime angehören, und jenen der Schia, die in Iran und im Irak dominiert. Interreligiöse Konferenzen, die auch ich in meiner Zeit als Außenministerin im damals noch in Wien ansässigen König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog anregte, finden immer öfter statt. Hier und dort lösen sich gewisse Knoten. Anstatt sich wechselseitig der Häresie zu bezichtigen, scheint nach der Schreckensherrschaft des IS zwischen Syrien und dem Irak wieder der Weg frei für eine Koexistenz zwischen Muslimen. Der islamistische Terrorismus forderte die meisten Opfer unter Muslimen, egal ob es sich um die Anschläge der Al-Qaida oder des IS oder deren vieler Ableger handelt.
Katar hat stets den Dialog mit Iran gepflegt und agiert als diplomatische Drehscheibe in viele nahöstliche Richtungen. Ebenso der Oman, wo wichtige Etappen der Treffen zwischen den USA und Iran immer wieder stattfanden. Als mit dem Abrüstungsabkommen JCPOA im Juli 2015 eine Rückkehr Irans auf die internationale Bühne möglich schien, wuchs die Sorge gewisser arabischer Staaten und Israels. Nicht nur lehnten sie das Abkommen ab, das vom UNO-Sicherheitsrat mitbeschlossen wurde und damit den Weg frei machen sollte, um die Sanktionen gegen Iran aufzuheben. Regelmäßig wurden Forderungen laut, Iran militärisch in die Grenzen zu weisen. Es geht um die starke regionale Rolle, die sich Iran geschaffen hat.
Angesichts der Energieversorgungskrise im Libanon und der US-Sanktionen gegen Beirut baut Teheran seinen Wirkungskreis aber weiter aus. Jeder iranische Öltanker im Hafen von Beirut stützt die pro-iranische Hisbollah, während das Land in einem politischen Patt und unauflösbarer Korruption gefangen ist. Der kleine Libanon ist in vielfacher Hinsicht ein Mikrokosmos nahöstlicher Machtspiele, gerade der sunnitsch-schiitische Konflikt zerreißt das Land.
Eine saudisch-iranische Aussöhnung würde viel ändern
Die Stellvertreterkriege zwischen Saudi-Arabien und Iran, ob im Libanon oder im Jemen, könnten angesichts einer möglichen Aussöhnung zwischen den beiden so gegensätzlichen Staaten ein Ende finden. Dies hätte weitreichende positive Folgen für die gesamte Region, die sonst eher mit Kriegen für Schlagzeilen sorgt. Weder die UN noch die USA oder die EU spielen mit ihren zahlreichen Sondergesandten für den Nahen Osten eine Rolle. Es sind die Regionalmächte, welche die Dinge in die Hand nehmen, zuletzt bei bemerkenswerten Treffen in Bagdad.
Erfolgreiche Diplomatie bedarf der Diskretion. Relativ unbemerkt von der Tagespresse schaffen Vermittler und Delegierte neue Optionen. Auch die russische Diplomatie, die über exzellente Kontakte zu allen Parteien verfügt, spielt hierbei eine Rolle, denn Interessen konvergieren. China ist ebenso als stiller Teilhaber am Tisch. Sowohl mit seinem wichtigen Energielieferanten Saudi-Arabien als auch mit Iran, mit dem China im Rahmen einer umfassenden strategischen Partnerschaft über 50 Jahre hinweg eng zusammenarbeiten möchte, bestehen Gemeinsamkeiten.
Sollten Teheran und Riad ein neues gemeinsames Kapitel beginnen, würde sich vieles ändern. Dies verfolgt man in Israel mit nervöser Aufmerksamkeit, denn es zeichnet sich das Ende jener "divide et impera"-Politik ab, die seit Cäsars Zeiten ein geeignetes Mittel der Regentschaft war: Herrschaft durch das Säen von Zwietracht.
Israel hat Iran im Konflikt um das Atomprogramm des Landes erneut mit deutlichen Worten gedroht. "Wir wissen, dass es Momente gibt, in denen Nationen Gewalt anwenden müssen, um die Welt vor dem Bösen zu schützen", sagte der israelische Außenminister Yair Lapid am Mittwoch in Washington bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Antony Blinken und Abdullah bin Saj.
Was wir seit bald 20 Jahren kennen, das regelmäßige Aufflackern eines Kriegsrisikos am Persischen Golf, wird damit wieder sichtbar. Das JCPOA Abkommen von 2015 wurde durch den Austritt der USA im Mai 2018 torpediert. Es war das feste Anliegen Israels, aber auch vieler arabischer Golfstaaten, das Abkommen völlig zu Fall zu bringen. Netanjahu musste sich in der Vergangenheit als Regierungschef eine Abfuhr von seinen Militärs holen, als er die Vorbereitungen für eine solche Option in Auftrag gab. Immer wenn die Angst vor einem Krieg wuchs, stieg der Erdölpreis. Besonders massiv waren diese politisch getriebenen Preisschwankungen im Frühjahr 2008.
Aktuell bestimmt die Geopolitik nicht den Erdölpreis
Als es im Sommer 2015 ganz nach einer Normalisierung der Beziehungen zu Iran aussah, setzten viele Beobachter – und auch ich tat dies damals in meinen Analysen – auf eine Ausweitung des Erdölangebotes der Organisation erdölexportierender Länder. Iran verfügt über wichtige Erdölfelder und über noch interessantere Erdgasfelder, die infolge der Sanktionen nicht operativ sind.
Falls es diesmal zu einer soliden und umfassenden Aussöhnung zwischen den Anrainerstaaten am Persischen Golf kommt, so würde dies meines Erachtens dennoch nicht zu einer großen Entspannung am Erdölmarkt führen. Diesmal ist es nicht die "geopolitische Risikoprämie Iran-Konflikt", die den Erdölpreis seit Jahresbeginn hochtreibt. Es greifen die alten Regeln von Angebot und Nachfrage. Wir haben infolge fehlender Investitionen im fossilen Sektor eine Verknappung des Angebots und die post-pandemische Nachfrage nach Erdöl ist offenbar größer als zuvor kalkuliert. Auch in Iran fehlen seit Jahren Investitionen, um das rohstoffreiche Land dorthin zu bringen, wo es ohne Sanktionen stehen könnte.
Während sich die USA bereits im zweiten Jahrzehnt von der Region verabschieden und so manches außenpolitische Debakel wie in Afghanistan bewältigen müssen, gewinnen die Regionalmächte an Selbstbewusstsein und Wirkungskreis. Sollte es gelingen, die vielen historischen Gräben und die Gräuel der vergangenen Jahre, die man einander im Jemen, in Syrien und im Irak antat, zu überwinden und eine Basis für mehr Gemeinsamkeit zu finden, dann würden hierdurch die Karten in der Region tatsächlich neu gemischt. Was bislang an offiziellen Meldungen durchsickerte, gibt Anlass zur Hoffnung. Nach den Hungerblockaden, den Massenhinrichtungen und all den Fluchtbewegungen ist es an der Zeit, für die gepeinigte Bevölkerung der Region ein neues Kapitel der Geschichte aufzuschlagen.
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