Meinung

EU-Müdigkeit in Ungarn: Folgt dem Brexit der Huxit?

Folgt auf den Brexit bald der "Huxit" – also der Austritt Ungarns aus der Europäischen Union? Präsident Viktor Orbán liegt schließlich mit Brüssel schon seit Langem im Clinch. Doch zwischen Großbritannien und Ungarn gibt es wichtige Unterschiede im Verhältnis zur EU.
EU-Müdigkeit in Ungarn: Folgt dem Brexit der Huxit?Quelle: www.globallookpress.com © Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop

von Paul A. Nuttall 

Die ungarische Tageszeitung Magyar Nemzet (Ungarische Nation) veröffentlichte früher in dieser Woche einen Artikel mit der Überschrift "Es ist Zeit, über einen Huxit zu sprechen". Das ist eine erstaunliche Entwicklung, denn diese Zeitung gilt als das inoffizielle Sprachrohr der Regierung Orbán.

Im letzten Monat hatte das Blatt angekündigt, die Zeit sei nun, "im Juli 2021, gekommen, ernsthaft die Möglichkeit unseres Austritts aus einer Staatengemeinschaft mit Tausenden blutenden Wunden zu erwägen, das imperiale Symptome zeigt und die Länder Mittel- und Osteuropas mit unglaublicher Arroganz behandelt".

Weiter erklärte die Zeitung, dass es zwischen den Werten West- und Osteuropas einen Kampf der Kulturen gebe. Gleiches hatte ich letzten Monat auf RT.com behauptet. Auch vertratMagyar Nemzet die Ansicht, dass sich die Wege in dem Moment scheiden, "in dem der Westen bewusst – und ich betone, bewusst – beschlossen hat, mit den Moralvorstellungen und Werten des Christentums zu brechen und sie durch eine globale, kosmopolitische und unpersönliche Gesellschaft zu ersetzen, die auf dem narzisstischen, ungehemmten und selbstzerstörerischen Vergnügen des Individuums basiert (…), während wir Ungarn, Polen und Mitteleuropäer unsere Verbundenheit mit den (…) Grundlagen unserer Kultur und Religion für unser Leben kundtun".

Einem alten Befürworter des Brexit, wie ich einer bin, verschaffte diese Lektüre ein willkommenes Déjà-vu-Erlebnis. Damals, im November 2010, hatte sich der Daily Express als erster Befürworter eines EU-Austritts Großbritanniens unter den britischen Mainstream-Zeitungen geoutet.

"Von diesem Tag an", so derDaily Express, "wird unsere Kraft darauf gerichtet sein, die Sache jener zu befördern, die glauben, dass Großbritannien außerhalb der EU besser dran ist." Und das Blatt fuhr fort, es sei für das britische Volk "an der Zeit, das eigene Land zurückzugewinnen und es wieder in die eigenen, rechtmäßigen Hände zu legen, nachdem dieses Volk über zu viele Jahre hinweg von Brüssel bestohlen, schikaniert, überreguliert wurde und Opfer umfassender Einmischung war".

Um diese bedeutsame Ankündigung richtig einschätzen zu können, sollte man betonen, dass seit dem Referendum von 1975 hier zum ersten Mal eine britische Mainstream-Zeitung für einen Rückzug aus Europa plädierte. Sich für das auszusprechen, was dann als Brexit bekannt werden sollte, war plötzlich nicht die Domäne "von Verrückten und Bekloppten" – so hatte uns ein früherer Vorsitzender der Konservativen Partei genannt –, sondern wurde zu einer populären Idee. In der Tat war die mutige Entscheidung des Daily Express eines der wichtigsten Ereignisse auf dem langen und steinigen Weg zum Brexit des Jahres 2016.

Und nun wiederholt sich die Geschichte also in Ungarn. Gewiss ist es kein Zufall, dass jetzt eine ungarische Mainstream-Zeitung, noch dazu eine mit Verbindungen zur Regierung, die Mitgliedschaft des Landes in der Union in Frage stellt. Ich würde behaupten, die Regieanweisung hierzu ist der Brexit.

Auch scheint Brüssel die Tatsache wachzurütteln, dass Ungarn ernsthaft den Sprung aus der Gemeinschaft erwägt. Am Mittwoch wurde verkündet, dass die Europäische Kommission die Frist für die Verhängung von Geldstrafen verstreichen ließ, mit denen man Ungarns Nichtbeachtung der "Werte" der Gemeinschaft ahnden wollte. Zweifellos wird dies einen Konflikt zwischen den Brüsseler Institutionen auslösen, hatte das Europaparlament doch gefordert, Orbáns Ungarn abzustrafen. Der Streit hat guten Chancen, vor dem Europäischen Gerichtshof (ECJ) zu landen, denn das Europaparlament ist entschlossen, Ungarn für dessen Haltung zu LGBT-Rechten zu belangen.

Allerdings ist die Tatsache, dass die Europäische Kommission, die nicht wie das Europaparlament an die öffentliche Meinung gebunden ist, keine Sanktionen gegen Ungarn erheben möchte, höchst interessant. Während die EU kürzlich alles darangesetzt hatte, Polen zu bestrafen – vielleicht, weil sie zuversichtlich war, die polnische Regierung würde einlenken –, scheint sie jetzt Ungarn mit Samthandschuhen anzufassen. Womöglich ist letztlich in Brüssel der Groschen gefallen, und man hat bemerkt, dass Finanzsanktionen zu erheben Orbán direkt zuarbeiten würde.

Es ließe sich behaupten, Orbán spiele ein hochriskantes Spiel. Das trifft aber nur dann zu, wenn er wirklich in der EU bleiben möchte. Ich bin nicht überzeugt, dass er das will. Meine Vermutung ist, dass er vorsichtig seinen Zeh in das Huxit-Bad hält. Sollte ihm die Wassertemperatur zusagen, springt er vielleicht hinein, was dann in der EU sogar eine schlimmere Krise als den Brexit auslösen könnte. Großbritannien war, wie man weiß, nie ein angenehmes Mitglied der EU gewesen. Das Land galt als widerwilliger Partner, aber nie als Freund, was dann die Scheidung irgendwann unumgänglich machte.

Aber Ungarn ist Empfängerstaat der Brüsseler Erbsenzähler und damit von Großbritannien äußerst verschieden. Das Land ist Nettoempfänger von EU-Mitteln und erhält anders als Großbritannien früher, das Gelder nach Brüssel überwies, als wären sie Konfetti, jedes Jahr Millionen von Euro. Schlussendlich befindet Ungarn vielleicht, dass Geld nicht alles ist und die Werte der Tradition wichtiger sind. Sollte dies geschehen, würde ich nicht dagegen wetten, dass andere osteuropäische Staaten, denen der diktatorische Liberalismus des Westens zunehmend Unbehagen bereitet, diesem Schritt folgen.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und setzte sich für den Brexit ein.

 

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