Kommentar von Dmitri Lekuch
Was will man denn da noch sagen? Hätte sich irgendjemand noch vor zwei, drei Jahrzehnten vorstellen können, welch surreales Bild sich in einer Schlüsselregion für die traditionelle Energielogistik im Osten des europäischen Subkontinents bieten würde? Doch wohl nicht einmal im übelsten Albtraum – ganz gleich, auf welcher Seite der russisch-ukrainischen oder weißrussisch-ukrainischen Grenze man steht und welche politische, ethnische, gender- oder sonstige Zugehörigkeiten man hat. Und doch zeichnet sich dort ein ebensolches Bild, das immer mehr an einen schlechten Witz erinnert, durchaus objektiv gesehen ab.
Nehmen wir zum Beispiel eine Geschichte, die sich direkt vor unseren Augen abspielt – wie ein Zauberkünstler so schön sagen würde: "Blick auf die Hände!"
Sehr witzig ist natürlich die Information zur Rolle der Ukraine in den Verhandlungen Deutschlands und der USA über Nord Stream 2 – diese gibt das für seine Nähe zur Spitze des demokratischen Establishments der USA bekannte US-Blatt Politico gerade (gelinde gesagt, sehr offen) urbi et orbi weiter.
Und glauben Sie mir: Einfach so würden diese Vögelchen nicht zwitschern.
Die Sensation schlechthin ist dies natürlich nicht unbedingt, dafür aber äußerst amüsant: Politicos Quellen im Weißen Haus (zweifelt jetzt immer noch irgendjemand daran, dass das Blatt solche Quellen hat?) haben nun endlich offen zugegeben, dass, obwohl die ukrainische Regierung offensichtlich "weiterhin unzufrieden mit der Gesamtsituation" rund um Nord Stream 2 ist, sich niemand in der Welt darüber Sorgen machen sollte. Und als Allerletztes, nebenbei bemerkt, die ukrainischen Behörden selbst – für wie wichtig sie sich selbst auch halten mögen.
Mehr zum Thema – Nord Stream 2: Kiew will "Garantien, keine Vereinbarungen"
Denn in der Tat: So, wie die Dinge stehen, haben sie in dieser Sache schlicht nichts zu melden. Streichhölzer gehören nun mal grundsätzlich nicht in die Hände von Kindern – und schon gar nicht von so bösen Kindern.
Mehr noch: Laut derselben "informierten Quellen" aus dem US-Außenministerium wurde die ukrainische Regierung deutlich und unter Ausschluss jeglicher Diskussion gewarnt: Jede öffentliche Äußerung ukrainischer Politiker gegen die US-bundesdeutsche Übereinkunft könnte – wörtlich – "den Beziehungen zwischen Washington und Kiew schaden". Auf gut Deutsch heißt das: Wenn Erwachsene reden, soll Kiew die Klappe halten und schlucken, was man ihm vorsetzt.
Und den eingeborenen politischen Schwätzern auf der Gehaltsliste ihrer jeweiligen Gönner wurde gleich auch noch der Befehl erteilt, den US-Kongress gefälligst nicht mehr auf die Nerven zu gehen – ist dieser doch auf derartige unerwarteten Kehrtwendungen in der Luft mitten über dem postsowjetischen Raum ohnehin noch nicht allzu gut gefasst.
Andernfalls wird die Biden-Regierung die durch und durch unangenehmsten denkbaren Konsequenzen ziehen.
Was will man hier denn noch sagen?
Mehr zum Thema – "Feindliche Tonalität": Russland kritisiert Abkommen zwischen Deutschland und USA über Nord Stream 2
Einerseits kann die Ukraine in der aktuellen Lage um Nord Stream 2 wirklich nicht viel tun: Sogar Russland selbst hat sich aus dem Konflikt zwischen Deutschland und den USA um dieses für die Energiewirtschaft im "industriellen Herzen Europas" lebenswichtige, just gerade im Bau-Endstadium befindliche Pipelineprojekt nahezu demonstrativ zurückgezogen. Dadurch wird Deutschland in die Lage versetzt, seine diesbezüglichen Interessen selbständig zu verteidigen, wo auch immer es nötig wird. Und in der Tat scheint es ganz logisch: Betrachtet man die Lage unvoreingenommen, ist es im Großen und Ganzen ein Streit zwischen zwei Transitländern für russisches Erdgas – also zwischen der Ukraine und Deutschland. Denn Russland selbst in seiner Funktion als Lieferant – ob über die eine oder über die andere Pipeline-Route – hat eigentlich nichts damit zu tun.
Mehr zum Thema – Nord Stream 2 war Deutschlands und Europas Chance auf mehr Energiesicherheit – sie blieb ungenutzt
"Nein, natürlich sind Russland die Deutschen als zuverlässige Abnehmer, ja als langfristige Partner sympathischer. Aber eben nicht mehr als das."
Bei einem ganzheitlichen Blick auf die Gesamtsituation wird doch alles recht einfach und auf beleidigende Weise pragmatisch: Das Volumen an verflüssigtem Erdgas, mit dem Europa zu "fluten" (und so russisches Gas zu verdrängen) die US-"Schiefergasproduzenten" noch unter Obama und Trump versprochen hatten, sind in aller Offensichtlichkeit und aus vollkommen nachvollziehbaren Gründen in der nahen historischen Perspektive nicht einmal physisch auf europäischen Märkten zu erwarten.
Und zwar ungeachtet der Preise, denn nochmals, es geht nämlich gar nicht mehr um Preise, sondern um die physische Präsenz des Produkts auf dem Markt. Es ist schlicht unbestreitbar: Die US-Produktion ist im Moment ganz schwer mit dem eigenen Überlebenskampf beschäftigt; und jegliche Überschüsse werden zu Premiumpreisen gierig von den südostasiatischen Märkten aufgesaugt – das hat dieser Winter mit seinen Spitzen-Spotpreisen recht anschaulich und überzeugend vorgeführt.
Folglich laufen alle Debatten um Nord Stream 2 tatsächlich auf die Frage des Transits hinaus. Und hier ist ziemlich klar, wofür die Biden-Regierung sich entscheiden wird, wenn sie zwischen den Beziehungen zu Deutschland und den Interessen der Ukraine wählen muss.
Etwas anderes anzunehmen wäre, mit Verlaub, etwas naiv, und man muss hier auch nichts erfinden – wir sollten dies als vollendete Tatsache annehmen. Der Zug ist abgefahren.
Und weiter dreht der Reigen.
Denn auf der anderen Seite hat diese Geschichte zum Leidwesen der derzeitigen ukrainischen Regierung eine andere, für sie recht unangenehme Fortsetzung. Das scheint die ukrainische Regierung übrigens auch selbst sehr gut zu verstehen – obwohl sie es anscheinend immer noch ein wenig unterschätzt.
Tatsache ist: Sobald der Ukraine nicht einmal "der gesamte Erdgas-Transit" entzogen wird, sondern "nur" sein "wesentlicher Teil" (denn ein gewisser Transit wird ihr zweifelsohne verbleiben, zumindest im Umfang des notorisch korrupten "Reversgas", also des Rückpumpens aus Europa), ist sie auch für unsere gemeinsamen transozeanischen "Partner" nicht mehr von wirtschaftlichem Interesse. Diese nämlich hielten zuvor mit den Händen der ukrainischen Führung die europäischen Energiemärkte in einem ziemlich schmerzhaften Griff. Und irgendwelche anderen wirtschaftlichen Interessen haben die USA an der Ukraine auch gar nicht, und das versteht ein jeder sehr gut. Politische Interessen haben sie dort wiederum schon, aber hier stellt sich eine "Kostenfrage": Die Eingeborenen müssen für ihre "Wahl der Zivilisation", wie man weiß, selbst bezahlen. Und wenn sie nicht zahlen können, dann ist das ihr Problem.
Und kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen netten Geschichten über "Schwarzerden" und um eine angebliche "agrarische Supermacht": Sowohl die USA als auch Europa kämpfen aktiv um Absatzmärkte für ihre eigenen Landwirtschaftserzeugnisse und zahlen nicht weniger aktiv Subventionen an ihre eigenen Landwirte – und das alles doch ganz sicher nicht dafür, um ukrainische Produzenten glücklich zu machen. Das Thema ist gegessen.
Jedenfalls ist es eine Sache, wenn man gewissermaßen am Gashahn sitzt und alle denkbaren Möglichkeiten hat, die europäischen Energiemärkte zu beeinflussen.
Eine ganz andere Sache aber ist, wenn man auf einem Haufen veralteten Schrotts mit dem stolzen Namen Pipeline sitzt – und selbst dann, wenn man ein gewisses Volumen durch diese Schrottröhre durchleiten darf, dieses Volumen die Markt- und Preisgestaltung ungefähr gar nicht beeinflussen kann. Dies nicht zu verstehen, wäre ebenfalls gänzlich naiv.
Und so stellt sich denn heraus: Die Ukraine hat es nur in einigen wenigen Jahren nach dem Maidan-Putsch geschafft, sich selbst endgültig zu entwerten, und sich von einem (wenn man so will) Preis, um den die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion am Ende von Janukowitschs Amtszeit wirklich gekämpft hatten, in eine unhandliche Last verwandelt. Und ihr weiteres Schicksal ist bei Fortbestehen einer solchen Lage ein sehr vages – tatsächlich zeichnen sich immer deutlicher Parallelen zu Afghanistan ab.
Das ist aber nicht so wichtig; alles oben Besprochene indes ist nur eine Frage der Zeit, nichts weiter. Und was konkrete Folgerungen angeht – es tut mir ja leid, doch wer seine Souveränität verloren hat und freiwillig ein Werkzeug im Spiel anderer wurde, für den ist es unangebracht, ausgerechnet Erdgasleitungen zu beweinen. Die Ukraine hat sich dieses Schicksal selbst ausgesucht, und wenn man sie jetzt von der anderen Seite des Ozeans anweist, die Klappe zu halten, sollte sie sich besser nicht dagegen auflehnen. Sie sollte aufpassen, ihre Lehnsherren nicht zu verärgern, denn sie haben im Moment zu viel um die Ohren, als dass sie sich um irgendwelche Verlierer kümmern würden. Zumal diese Verlierer es fertiggebracht haben, wirklich alles zu verspielen – einschließlich der natürlichen Vorteile ihrer eigenen geografischen Lage. Es ist ganz einfach: Man braucht in einem Zug, der gerade auf Anweisung der Obrigkeit auf einem Abstellgleis abgestellt wurde, nicht zu fragen, wohin die Fahrt geht.
Aus welchen Gründen dieser Zug dort abgestellt wurde, geht Kiew nichts mehr an. Wenn jemand endlich die Zeit entbehren kann, sich darum zu kümmern, geht es ja vielleicht wieder irgendwohin. Und wenn nicht, wird der Zug eben zum Abzahlen von Schulden in Einzelteile zerlegt.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Übersetzt aus dem Russischen. Dmitri Lekuch ist ein russischer Unternehmer (Werbeindustrie), Prosaautor, Publizist und Journalist sowie politischer Beobachter bei RIA Nowosti. Er erforscht zudem das Phänomen der osteuropäischen Fußballfan- und Hooliganbewegungen.
Mehr zum Thema – Ein Pakt zum Plündern: Die Einigung zwischen den USA und der Bundesrepublik zu Nord Stream 2