Haiti: Zwischen Aufstand und Invasion

Am vergangenen Wochenende beschloss eine Gruppe ausländischer Botschafter kurzerhand, dass nicht Claude Joseph, sondern Ariel Henry Premierminister von Haiti wird. Seit Anfang vergangenen Jahrhunderts bestimmen vor allem die USA, wer in Haiti regiert.
Haiti: Zwischen Aufstand und InvasionQuelle: AP © Lynne Sladky, File

Ein Kommentar von Dagmar Henn

Wenn man im Westen von Haiti hört, dann immer im Zusammenhang mit Blut, Katastrophen und Elend. Wie beim großen Erdbeben im Jahr 2010, welches die Hauptstadt Port-au-Prince zerstörte. Oder wie Anfang des Monats mit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse durch eine überwiegend kolumbianische Killertruppe.

Die kleine Inselhälfte in den Tropen, etwas kleiner als das Bundesland Brandenburg, war einmal das ungeliebte Kind der Französischen Revolution. Während des Sklavenaufstands, der im Jahr 1791 begann, wurden die europäischen Sklavenhalter vertrieben. Nach langen Kämpfen wurde Haiti im Jahr 1804 das erste unabhängige Land Lateinamerikas und förderte sogar die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Festland unter Simón Bolívar. Frankreich strafte seine ehemalige Kolonie so, wie es noch vielen weiteren ehemaligen Kolonien geschehen sollte: Um anerkannt zu werden, musste der junge Staat die Sklavenhalter entschädigen. Seitdem ist Haiti die Schulden nie mehr losgeworden und ist heute das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Anderen Ländern Lateinamerikas ging es ähnlich. Brasilien zum Beispiel musste die gesamten Schulden des portugiesischen Hofes schultern.

Diese Revolution hat man den Haitianern nie verziehen. Schließlich hatten sie nicht nur die Sklaverei beendet, lange bevor sich in England die Abolitionisten durchsetzen konnten; es waren schwarze Sklaven, die sich selbst befreit hatten, ein gefährliches Vorbild für die Vereinigten Staaten, Brasilien und alle anderen Länder in der Region, die nach wie vor Sklaverei betrieben.

Bis heute ist die Bevölkerung Haitis im Grunde zweigeteilt in die meist hellhäutigere kleine Oberschicht, die Französisch und die arme Bevölkerungsmehrheit, die Kreolisch spricht. Spätestens nach dem Erdbeben im Jahr 2010 wurde die haitianische Landwirtschaft durch Hilfslieferungen zerstört, denn die einheimischen Bauern konnten mit den Preisen für die eingeführten Güter nicht mithalten. Seitdem wächst die Zahl der verelenden Bevölkerung in den Städten kontinuierlich.

Der jüngst ermordete Präsident Jovenel Moïse leistete hierzu einen persönlichen Beitrag. Er begann seine Karriere als Autohändler, wechselte dann aber zum Anbau von Biobananen, wofür er Kleinbauern von ihrem Land vertrieb. Zum Präsidenten wurde er, da sein Vorgänger Michel Martelly ihn dafür erkoren hatte. Die Wahlen, die ihn ins Amt brachten, galten als gefälscht, aber er fand die Unterstützung der Vereinigten Staaten, die das Land seit der ersten Invasion im Jahr 1915 praktisch nie wieder freigaben. Auch der berüchtigte haitianische Diktator Papa Doc, der für seine Anti-US-Rhetorik gewählt worden war, war Washington stets treu zu Diensten. Inzwischen steht auch fest, wer Moïses Nachfolger sein soll. Die Washington Post verkündet, der Neurochirurg Ariel Henry habe die "Unterstützung der internationalen Gemeinschaft". Wie die Nachrichtenagentur diesen Entscheidungsprozess beschreibt, ist eine selten offene Darstellung kolonialer Machtprozesse:

"Ausländische Regierungen und internationale Institutionen erkannten nach dem Mord anfänglich den Anspruch von Joseph als Interimspremier an. Aber am Samstag scheint ein informeller Block ausländischer Botschafter einschließlich der Vereinigten Staaten, der als 'Kerngruppe' bekannt ist, eine Kehrtwendung vollzogen zu haben, indem er die Notwendigkeit für eine 'einvernehmliche und integrative Regierung' betonte, die vom 'designierten Premierminister Ariel Henry' aufgestellt würde."

Die USA sind nach wie vor der Haupthandelspartner Haitis, in Lateinamerika ist es längst China. Dabei werden vor allem Güter des täglichen Bedarfs nach Haiti importiert und der Export besteht aus Textilien. Somit ist das Land ein Sweatshop der USA.

Wie treu Moïse den Anweisungen aus Washington folgte, zeigt sich unter anderem daran, dass er im Jahr 2020 im Gleichklang mit den USA die Volksrepublik China aufforderte, mit den Demonstranten in Hongkong zu verhandeln, was angesichts der Demonstrationen gegen ihn nicht eines gewissen Humors entbehrt. Haiti ist eines der wenigen Länder, die diplomatische Beziehungen mit Taiwan unterhalten, weshalb gleich im Anschluss an die Ermordung Moïses zwei US-amerikanische Abgeordnete US-Außenminister Blinken vor der Einmischung Chinas in Haiti warnten und hervorhoben, wie wichtig es sei, die Verbindungen nach Taiwan aufrecht zu erhalten.

Moïses Mörder kamen von einer Sicherheitsfirma eines Exilkolumbianers, der seinerseits Verbindungen zum gescheiterten venezolanischen Putschisten Juan Guaidó unterhält; sie könnten ebenso von einem Konkurrenten aus der haitianischen Oberschicht entsandt worden sein, die tatsächlich im Auftrag der Vereinigten Staaten gehandelt oder gar den Weg für eine neue Drogenexportroute bereitetet haben. Die haitianische Bevölkerung dürfte das mit Gleichmut betrachten. Wer aus dieser Handvoll reicher Familien das Land regiert, wird an ihrem Alltag wenig ändern.

Zwei Drittel der Bevölkerung von geschätzt 11 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze und 40 Prozent sind von Hilfslieferungen abhängig. Daran hat sich seit dem Jahr 2010 nichts geändert. Aber auch dies ist nicht verwunderlich. So schreibt die US-amerikanische Zeitschrift Foreign Policy in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Artikel: "Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Vereinigten Staaten, haben die politischen Funktionsstörungen noch weiter verstärkt, weil sie Haiti nicht zum Mittelpunkt der Wiederaufbaupläne gemacht haben. Bis Januar 2020, zehn Jahre nach dem Erdbeben, hat USAID 2,3 Milliarden Dollar in Haiti ausgegeben. Aber dem Center for Economic and Policy Research zufolge gingen weniger als drei Prozent dieses Geldes direkt an haitianische Organisationen oder Unternehmen. Das meiste landete bei US-Unternehmen üblicherweise mit Sitz nahe Washington und nur wenig davon gelangte in haitianische Hände. Und das wenige, das ankam, wurde ohne weitere Rechenschaft übergeben."

Es ist die kleine haitianische Oberschicht, die an den Hilfslieferungen verdient. Zu Anfang seiner Amtszeit wurde Moïse vorgeworfen, sich an den venezolanischen Öllieferungen bereichert und 700.000 US-Dollar hieraus in seine Bananenplantage gesteckt zu haben. Er hatte, zwei Jahrzehnte nach deren Auflösung, wieder ein Militär und einen Geheimdienst eingeführt und sämtliche gewählte Bürgermeister abgesetzt. Im Jahr 2019 hatte er die angesetzten Parlamentswahlen gestrichen. Aber erst Anfang dieses Jahres kam es zu heftigen Protesten gegen Moïse, als er versuchte, auf Weisung des Internationalen Währungsfonds die Benzinpreise zu erhöhen.

Die Bevölkerung der Insel hält ihren Stolz und ihren Widerstandswillen in Musik, Tanz und Mythos verborgen. Wo und wie diese wieder hervorbrechen, ist schwer zu sagen. Manche glauben, dass Jimmy Chérizier, ein Ex-Polizist aus einer Eliteeinheit, der in den vergangenen Jahren eine Art bewaffnete Miliz in den Armenvierteln aufgebaut hat, ein revolutionärer Volksheld sei, der endlich für Souveränität sorgen und die Macht der korrupten Oberschicht brechen könnte. Andere halten ihn jedoch nur für einen besonders erfolgreichen Gangster. Er selbst erklärte jedenfalls, man müsse "das ganze verrottete, stinkende System ändern". Momentan ist er ein Gegenpol zur ohnehin schwachen staatlichen Macht.

Die freundliche Formulierung in der Washington Post über die Notwendigkeit einer Regierung der nationalen Einheit deutet jedenfalls darauf hin, dass die Vertreter der ausländischen Interessen am vergangenen Wochenende beschlossen haben, dass die haitianische Oberschicht ihre inneren Auseinandersetzungen zu beenden hat. Ob das, wie von manchen befürchtet, das Vorspiel für eine erneute militärische Besatzung ist, um eine Bedrohung durch Chérizier abzuwenden, wird sich zeigen.

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