Meinung

Die Forderung nach "Verantwortung" in sozialen Medien ist eine Forderung nach Verantwortlichen

Eine kürzlich erschienene Studie, in der die dringende Notwendigkeit festgestellt wurde, zu untersuchen, wie kollektives Verhalten durch die sozialen Medien beeinflusst wird, ist eine kaum verhüllte Forderung nach unwidersprochener Fügsamkeit gegenüber selbsternannten Experten. Dies stellt eine große Bedrohung für die Demokratie dar.
Die Forderung nach "Verantwortung" in sozialen Medien ist eine Forderung nach VerantwortlichenQuelle: www.globallookpress.com © Thiago Prudencio/Keystone Press Agency

von Norman Lewis

Es besteht kein Zweifel, dass die sozialen Medien ein mächtiges Instrument zur Mobilisierung der Massen sind. Es ist auch offensichtlich, dass sie einen enormen Einfluss auf Kultur und Politik ausüben. Aber es ist nicht der technologische Imperativ, durch den die sozialen Medien eine so zentrale Rolle einnehmen. Die Technologie selbst hat keine Handlungsfähigkeit oder freien Willen. Sie ist bloß ein Werkzeug. Was ihre Anwendung antreibt, ist das menschliche Verhalten, insbesondere durch die Werte, den Sinn und die Bedeutung, die diesem Verhalten zugrunde liegen. Genau deshalb sollte die Veröffentlichung einer neuen Studie mit dem Titel "Verantwortung für globales kollektives Verhalten", die von 17 Akademikern im renommierten Wissenschaftsjournal PNAS veröffentlicht wurde, in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen – jedoch nicht aus demselben Grund, den sich die Autoren vorgestellt haben.

Das Papier ist ein Handlungsaufruf, zu untersuchen, wie kollektive Verhaltensweisen durch die Nutzung neuer Technologien eine Gefahr für die Zukunft der Demokratie und des wissenschaftlichen Fortschritts darstellen. Die Autoren der Studie argumentieren, dass das Studium der sozialen Medien und der weitreichenden Auswirkungen des Internets auf das individuelle Verhalten innerhalb einer Gesellschaft als "Krisendisziplin" behandelt werden sollte.

Das klingt sehr beängstigend und sehr, sehr ernst.

Eine Krisendisziplin ist ein Feld, in dem Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen daran arbeiten, ein dringendes gesellschaftliches Problem anzugehen. Die Studie schlägt vor, dass die Untersuchung von durch Technologie beeinflusstem kollektivem Verhalten mit der gleichen Dringlichkeit behandelt werden sollte wie Medizin, Naturschutz und Klimawissenschaft, mit dem Schwerpunkt, politischen Entscheidungsträgern und Regulierungsbehörden umsetzbare Erkenntnisse für die Verwaltung sozialer Systeme zu liefern. Sie müssen kein Wort dieser Studie lesen, um das unsinnige Geschwafel zu erkennen. Diese Studie mag wissenschaftlich objektiv erscheinen, aber sie ist weit entfernt von Altruismus.

Allein der Titel der Studie verrät alles. Die Forderung nach "Verantwortung" ist eine Forderung nach Verantwortlichen, die stellvertretend für uns agieren können. Im Gegensatz zu Ihnen und mir (die wir übermäßig von Desinformation in den sozialen Medien beeinflusst werden) sollen diese selbsternannten Experten die Einzigen sein, die Verantwortung für die Überwachung und den Schutz von etwas übernehmen können, das als erhaltenswert gilt.

Die Studie beruft sich auf die "Infodemie", die Flut von Desinformation, die angeblich eine weit verbreitete Akzeptanz von beispielsweise Schutzmasken und Impfstoffen behindert. Die Autoren warnen davor, dass wir unbeabsichtigte Folgen durch die neuen Technologien erleben könnten, die zu Phänomenen wie Wahlmanipulation, Krankheit, gewalttätigem Extremismus, Hungersnot, Rassismus und Krieg beitragen, wenn Desinformation missverstanden und ungeprüft bleibt.

Die Betonung auf Komplexität und deren unbeabsichtigten Folgen ist der älteste elitäre Autoritätsanspruch seit Menschengedenken. Im antiken Griechenland warnte Platon vor den Gefahren, die von der Erfindung des Schreibens und Lesens ausgehen würden. Die Erfindung des Buchdrucks wurde als Bedrohung der europäischen Kultur, der Gesellschaftsordnung und der Moral wahrgenommen. In den Anfängen des Fernsehens, das den Beginn des Siegeszuges elektronischer Medien einläutete, wurde argumentiert, dass es einen zerstörerischen Einfluss auf das öffentliche Leben haben wird.

Die Rolle, die die sozialen Medien heute einnehmen, ist hier nicht anders. Dass diese wirksame Instrumente zur Mobilisierung innerhalb einer Gesellschaft sind, steht außer Zweifel. Doch die sozialen Medien bestimmen an sich nichts von sich aus. Ihre Verwendung (oder ihr Missbrauch) drückt Bestrebungen und Bedürfnisse aus, die bereits vorhanden sind und unabhängig von der Technologie existieren. Diese Technologie ist, wie andere Medien auch, nichts anderes als eine Ressource, die von sozialen und politischen Bewegungen genutzt wird, die eine Kommunikationsplattform brauchen, um ihre Sache zu fördern.

Carl Bergstrom, einer der Hauptautoren der Studie, argumentiert, dass seine Sorge darin bestehe, wie die Technologie des Internets, einschließlich algorithmisch gesteuerter Suche und klickbasierter Werbung, "die Art und Weise verändert hat, wie Menschen Informationen erhalten und sich Meinungen über die Welt bilden, was sie besonders anfällig für die Verbreitung von Fake News und Desinformation macht".

Er urteilt ziemlich vernichtend über Menschen, die eine inhärente Gefahr von Desinformation und deren Einfluss auf ihr Verhalten nicht akzeptieren. "Ja, sicher, es gibt viel Desinformation im Internet. Aber es ändert niemandes Verhalten", bemerkt er, fügt dann aber hinzu: "Und dann läuft plötzlich ein Typ in einem Lendenschurz mit Büffelhörnern auf dem Kopf ins Kapitol der Vereinigten Staaten." Und er fragt: "Wie viele Wahlen werden wir noch haben, bevor die Dinge sich wesentlich verschlimmern werden?"

Es sind also nicht die unbeabsichtigten Folgen, die durch diese leistungsstarke Technologie entfesselt wurden, die diese Autoren beunruhigen. Es sind die Ergebnisse, mit denen sie nicht einverstanden sind. Wie die anderen "Krisendisziplinen" der Ökologie oder des Klimawandels gilt jede Skepsis als Verleugnung, als Verhalten, das ihre unangreifbare und wohlwollende Führung bedroht oder infrage stellt. Diese Autoren mögen Experten auf ihrem Gebiet sein. Viele mögen auch Wissenschaftler sein. Aber im Geist ist diese Studie die Aufhebung der Wissenschaft und ihrer offenen Methodik.

Alle Technologien, die im Laufe der Geschichte entwickelt wurden, führten zu unerwarteten Ergebnissen. Sie haben die Gesellschaften jeweils auf eine Weise geprägt und verändert, die nur von wenigen unmittelbar erfasst werden konnte. Die Erfindung des Feuers zum Beispiel war eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte. Es bot Wärme, Licht, Schutz vor Raubtieren und erlaubte der Menschheit, die Kunst des Kochens zu entwickeln, was wiederum unserer Spezies ermöglichte, in den unwirtlichsten Umgebungen zu überleben und zu gedeihen. Und ja, wer hätte damals ahnen können, dass mit Feuer, Jahrhunderte später, Menschen auf einem Scheiterhaufen oder in den Krematorien von Auschwitz verbrannt werden? Hätte es damals schon diese Experten gegeben, hätten sie zweifellos eine "Krisendisziplin" erfunden, um sicherzustellen, dass nur diejenigen mit den korrekten Informationen die Kontrolle über den Einsatz von Feuer erhalten.

Wie jede andere Technologie können die sozialen Medien zum Guten oder zum Schlechten genutzt werden. Das Beharren auf der Einführung einer Krisendisziplin, die darauf abzielt, Desinformation zu entlarven, d. h. die "Wahrheit" zu etablieren, stellt eine reale und gegenwärtige Gefahr dar, weil dadurch droht, diese bemerkenswerte Technologie in Plattformen starrer Gedankenkontrolle zu verwandeln. Das ist gefährlicher als jede Verschwörungstheorie, weil es den neuen öffentlichen Raum lahmlegt. Der Meinungskampf wird unweigerlich zu neuen Ideen, Gedanken und Ergebnissen führen, von denen man sich noch keine Vorstellung machen kann.

Wir brauchen keine Verantwortlichen, die unser kollektives Verhalten gestalten. Wenn überhaupt brauchen wir mehr Freiheit vom Diktat selbsternannter Experten, von der herablassenden elitären Bevormundung, mit der die Massen als einfach gestrickte und leichtgläubige Schafe behandelt werden, die zu rationalem Verhalten unfähig sind. Es ist nicht unsere Leichtgläubigkeit, die eingedämmt werden muss, sondern der Eifer und die Arroganz dieser Experten. Der Glaube, zu wissen, was für den Rest von uns das Beste ist, stellt die größte Bedrohung für die Zukunft der Demokratie und der Wissenschaft dar.

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Norman Lewis ist Schriftsteller, Sprecher und Berater für Innovation und Technologie. Er war zuletzt Direktor bei PriceWaterhouseCoopers, wo er einen Crowdsourcing-Innovationsservice gegründet und geleitet hat.

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