Meinung

Vorfall im Schwarzen Meer: Für Russland war die Antwort auf die britische Provokation simpel

Boris Johnsons Entscheidung, ein Kriegsschiff nahe der umstrittenen Krim vorbeifahren zu lassen, zeigt, dass sich Großbritannien komplett verfahren hat. Die globale Strategie Großbritanniens nach dem Brexit erscheint sowohl rätselhaft als auch besorgniserregend – nicht nur im Hinblick auf potenzielle Konflikte im Schwarzen Meer, sondern auch im Hinblick auf Londons Pläne, China in seinem Vorhof zu piesacken.
Vorfall im Schwarzen Meer: Für Russland war die Antwort auf die britische Provokation simpelQuelle: Reuters © YORUK ISIK

von Tarik Cyril Amar

Am Mittwoch vergangener Woche gerieten Russland und Großbritannien aneinander, nachdem London einen schwer bewaffneten Zerstörer, die HMS Defender, durch umstrittene Gewässer vor der Krim Richtung Georgien entsandte. Moskau betrachtet diese Gewässer als sein Hoheitsgebiet und bekräftigte dies mit Warnschüssen, die es von seiner Küstenwache abfeuern ließ. Glücklicherweise drehte das britische Schiff ab und es wurde niemand verletzt. Bis jetzt zumindest.

Dass die russische und die britische Regierung unterschiedlicher Meinung darüber sind, wem die umstrittenen Gewässer vor der Krim gehören, ist bekannt. Russland stellt sich auf den Standpunkt, dass die Wiedervereinigung der Krim mit Russland im Jahr 2014 legal war, während die Ukraine und ihre westlichen Schirmherren dies nicht tun.

Dieser Streit ist jedoch nicht der treibende Faktor für diesen seltsamen Vorfall, auch wenn es der schrille britische Premierminister und Chef der konservativen Tories Boris "BoJo" Johnson steif und fest behauptet und sich dazu noch aus dem Vokabular von Winston Churchill bedient und Russland als "Bären" tituliert. Die grundlegende Natur dieses Vorfalls war allen Beteiligten völlig klar. Darüber hinaus ist es ebenso offensichtlich, dass die Entsendung eines schwer bewaffneten britischen Schiffes – zu einer Spritztour durch diese Gewässer – unmöglich dazu beitragen kann, die grundlegenden Probleme zu lösen, sondern sie im Gegenteil verschlimmert. Daher ist die eigentliche Frage, worum es bei all dem eigentlich ging.

Für Russland war die Antwort simpel. Moskaus Reaktion auf das, was es als britisches Eindringen bewertete, war eine schlichte Demonstration von Stärke – auch wenn das nicht besonders überraschend kam. Ihr provoziert uns – wir vertreiben euch. Es war ein klassisches Machtspiel von Staaten, die sich solch eine überwältigende Show leisten können – ein Spiel so alt wie der Wind und die Wellen.

Moskau wiederholte seinen Aufruf an den Westen, endlich zu akzeptieren, dass dieses Land nicht mehr der schwache Staat der 1990er Jahre ist. Das mag streitlustig klingen, ist aber im Prinzip auch tatsächlich wahr. Aus der Sicht eines Historikers war besagte Ära eine historische Anomalie, die früher oder später sowieso einem russischen Wiedererwachen weichen musste. Ein Großteil der gegenwärtigen Spannungen zwischen dem Westen und Russland ist darauf zurückzuführen, dass das, was einst vorhersehbar war, auf einmal wahr geworden ist.

Man könnte argumentieren, dass der Westen unter einer 90er-Jahre-Nostalgie leidet, während Russland weitergezogen ist und mit seiner neu errungenen Durchsetzungsfähigkeit den Westen völlig überrumpelt hat. In einer ironischen Umkehrung von Stereotypen ist das Verhalten Großbritanniens zumindest rational viel schwieriger zu erklären. Es ist ein Verhalten, wie es Winston Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg einst Sowjetrussland zuschrieb, das er als ein in ein Mysterium gehülltes Rätsel, verborgen in einem Geheimnis, bezeichnete.

Die offizielle britische Argumentationslinie ist fadenscheinig. Einen schweren Zusammenstoß mit Russland zu riskieren – einer großen Militärmacht mit einer hohen und in jüngster Zeit bewiesenen Einsatzbereitschaft – und dies auch noch weit weg von zu Hause zu tun, nur um ohne Not den britischen Standpunkt über den Status der Krim deutlich zu machen, erscheint seltsam. Mehr noch, der ganzen Welt – inklusive Russland – ist bekannt, welchen Standpunkt Britannien in der Frage der Krim einnimmt. Da braucht es keine Bekräftigung. Noch weniger überzeugend ist der Anspruch, ein Engländer habe das Recht, sich in allen Gewässern herumzutreiben, so wie es ihm gerade passt. Das klingt alles ziemlich sonderbar, selbst gemessen an den seit dem Brexit geltenden gegenwärtig niedrigen Standards bei den Tories.

War es ein unbeholfener Versuch, schlaue – wenn auch zaghafte – deutsche und französische Versuche zu stören, den Dialog mit Russland neu zu beleben? Nun, hätte Großbritannien die EU nicht in einem selbstmörderischen und kurzsichtigen Anfall von patriotischem Brusttrommeln verlassen, hätte es vielleicht subtilere Mittel gehabt, um vernünftige Initiativen aus Berlin und Paris zu torpedieren, wie ein britischer Beobachter – möglicherweise reumütig – bemerkte.

Die ungewöhnliche Präsenz mehrerer Journalisten auf der HMS Defender weist jedoch auf eine propagandistische Agenda hin, die möglicherweise in erster Linie auf ein britisches Publikum abzielen sollte. Aber was war die Botschaft? Sollte sie dieselbe Botschaft aussenden wie diese seltsam dystopische Hymne "One Britain One Nation", die im ganzen Land viral ging, kurz vor der Einführung eines neuen "patriotischen" Feiertages, dem OBON Day, für den der 25. Juni festgelegt wurde? Ist das alles Teil eines bombastischen und plumpen Versuches, von selbstverschuldeter internationaler Isolation, der Inkompetenz und Korruption bei den Tories abzulenken – und von der realen Bedrohung eines Auseinanderbrechens der Union? 

Was auch immer die Hintergründe für das Seemanöver waren, so scheinen die meisten Beobachter etwas übersehen zu haben. Wenn die britische Motivation, einen größeren Vorfall zu riskieren, mit möglicherweise viel schlimmerem Ausgang als dem, der tatsächlich eingetreten ist, darin bestand, eine Show zu inszenieren, dann wurde diese Inszenierung äußerst schlecht dargeboten. Der schlimmste Missgriff war das Leugnen Großbritanniens, dass es überhaupt einen Vorfall gab. Etwas so eminent Beweisbares zu leugnen, ist immer eine schlechte Idee – vor allem, wenn man zulässt, dass Medien am Schauplatz sind, die zusätzliche Beweise liefern. Dies ist ein merkwürdiger Ansatz, wenn man vorhat, das Narrativ zu steuern. Das erinnert an George Orwell – allerdings ausgeführt von 'BoJo' und nicht von Big Brother.

Und dennoch – und dies ist ein weiterer seltsamer Moment in dieser bizarren Geschichte – konnten viele westliche Medien und Meinungsträger nicht anders, als der britischen Version zu glauben. Für sie scheint die relevante Logik so zu lauten, dass – wenn Russland und eine westliche Macht entgegengesetzte Dinge behaupten – es in jedem Fall Russland sein muss, das falsch liegt oder sogar lügt. Aber wie sich am Ende herausstellte, war die russische Darstellung der Ereignisse sachlich, während die britische – gelinde gesagt – höchst irreführend war.

Der Vorfall war aufschlussreich. Wir leben in einer Welt der Informationskriege – und alle machen mit. Wenn Russland und der Westen uneins sind, muss man immer noch sein eigenes Gehirn einsetzen, um herauszufinden, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Und ja: jedes Mal. Für jeden, der den Anspruch auf geistige Unabhängigkeit oder Sachkenntnis erhebt, ist dies nicht "Relativismus" oder "Whataboutismus", sondern eine Grundvoraussetzung, Tatsachen endlich anzuerkennen und sich von den Illusionen des neuen Kalten Krieges zu verabschieden.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem EnglischenTarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar

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