Meinung

Krieg und Fruchtsaft – Eine Reise nach Afghanistan im Pandemiejahr 2020

Auch in Afghanistan ist Corona ein Thema. Wer jedoch Masken und Abstand erwartet und das offizielle deutsche Corona-Narrativ als Schablone anlegt, wird schnell eines Besseren belehrt. Das Land hat viele Probleme. Corona gehört nur bedingt dazu.
Krieg und Fruchtsaft – Eine Reise nach Afghanistan im Pandemiejahr 2020Quelle: Reuters © Mohammad Ismail

von Sebastian Heine

Als ich am Donnerstagmorgen, dem 3. September 2020, den Frankfurter Flughafen betrat, um den Weg nach Afghanistan anzutreten, war mir bewusst, dass mir bei dieser Reise ungewöhnliche Dinge begegnen würden. Afghanistan ist kein Urlaubsland und immer eine Herausforderung, aber was hatte die COVID-19-Pandemie mit dem Land gemacht?

Die bisherigen Schlagzeilen klangen nicht gerade ermutigend: Im März 2020 hatte der afghanische Präsident Aschraf Ghani eine Ausgangssperre für die Hauptstadtregion ausgesprochen – ein für afghanische Verhältnisse einzigartiger Vorgang, der jedoch nicht der Bekämpfung des Virus half, sondern die vielen afghanischen Tagelöhner und Ladenbesitzer an den Rand des Hungertodes trieb. Ein IS-Anschlag auf den Gurdwara-Tempel der Sikhs mit Dutzenden Toten hatte gezeigt, dass die Maßnahmen vor allem den Terroristen in die Hände gespielt hatten.

Bis Dubai (Turkish Airlines hatte zu dem Zeitpunkt seine Kabul-Flüge gestrichen) verlief die Reise unter Beachtung aller "Hygienemaßnahmen". Bis Dubai. Im Flughafen musste ich mich in Terminal 2 einfinden. Das ist das Terminal mit den weniger glamourösen Zielen (also kein Highlife, keine Influencer und keine Shoppingmall) wie etwa Lahore, Islamabad, Dhaka oder eben Kabul.

Das Innere des Terminals war bis zum Rand mit Menschen gefüllt. Abstand? Wenn man zehn Zentimeter als Abstand bezeichnen darf. Masken? Eher wie Ampeln in Neapel ein netter, aber seltener Schmuck. Das Bild setzte sich an Bord der "Fly Emirates"-Maschine fort. Dicht nebeneinander gedrängt wurde ich von zwei korpulenten Afghanen in "Kamis Patuk" (die traditionelle Alltagstracht in Afghanistan und Pakistan) beinahe zerquetscht. Auf meine Bitte an meine Mitreisenden, wenigstens an Bord eine Maske zu tragen, erntete ich nur ein spöttisches Lächeln.

Es war der 4. September gegen 7 Uhr morgens, als ich am Kabuler Flughafen ankam. Hat sich coronabedingt dort etwas geändert (von März bis Anfang Juli 2020 war der ausländische Flugverkehr gänzlich zum Erliegen gekommen)? Auf Persisch ("Dari" in Afghanistan) und in schlechtem Englisch wurde auf eine "Quarantänezone" neben den Einreiseschaltern verwiesen; es handelte sich um eine auf dem Boden mit einer farbigen Linie markierte Ecke!

Inmitten von Sicherheitskontrollen und Fiebermessen (fast immer ohne Maske oder Desinfektionsmöglichkeiten) erhielt ich vom Grenzbeamten ein ominöses Einreisedokument, mit dem Hinweis, ich möge mich beim Ausländerbüro melden. Ein Gesundheitsfragebogen wurde zwar gereicht, eine Überprüfung der Angaben fand jedoch nicht statt.

Nachdem ich das Dunkel der Gepäckhalle hinter mir gelassen hatte, versuchte ich im Gedränge meinen Freund und Gastgeber D. (größter Verleger für Paschtu-Bücher in Afghanistan; Paschtu ist die Muttersprache der Paschtunen und neben Dari eine der zwei offiziellen Sprachen des Staates) zu finden.

In diesem Ansturm von Menschen und deren Verwandten trug ich, wie auch in den folgenden Tagen, immer eine Maske, um ein mögliches Ansteckungsrisiko zu vermindern. Damit gehörte ich zu einer verschwindenden Minorität von Maskenträgern in Afghanistan (es waren fast immer ältere Menschen oder medizinisches Personal).

Menschentrauben, Freunde, die sich umarmen oder Hand in Hand gehen, geöffnete Läden und Lokale – in einem Land, das sich seit 1979 im fortwährenden Kriegszustand befindet, erscheint das Coronavirus als eine Nebensächlichkeit und die in anderen Teilen der Welt, vor allem im Westen, ergriffenen Maßnahmen wie Abstand halten oder Masken tragen als lächerliches Verhalten.

Gleich am ersten Tag lud mich D. zu der Hochzeit eines Freundes ein. "Eine Hochzeit? Wieso nicht?" Dann überlegte ich mir: "Eine Hochzeit? Mit wie vielen Gästen?" Die Antwort war: "Wir rechnen mit ca. 1.000 Gästen ..."

Als wir am Abend die "Hochzeitshalle" erreichten, bot sich ein geradezu surrealer Anblick: Kabul, das in vielen Stadtteilen Probleme mit der Stromversorgung hat und geziert ist mit Straßenzügen von heruntergekommenen Plattenbauten aus Sowjetzeiten, erstrahlt in den aufwendigen Lichtinstallationen Dutzender Hochzeitssäle, die entfernt an das Flair von Las Vegas' Casinos erinnern. Die einzige Maßnahme bei täglich mehreren Tausend Gästen waren das zusätzliche Fiebermessen und die Leibesvisitation der Sicherheitskräfte.

Als D.s korpulente Gestalt von einem Polizisten abgetastet wurde, konnte er sich eines sarkastischen Kommentars nicht enthalten: "Geh nicht zu nah an mich heran, Bruder, sonst hol ich mir bei dir noch Corona ..." Der Polizist erwiderte: "Wie meinst du das?" D. sagte darauf: "Du umarmst und berührst täglich eintausend Menschen. Ich glaube nicht, dass das gesund ist ..." Was folgte, war ein allgemeines Gelächter, in das der angesprochene Polizist auch einstimmte.

Als ich von der Hochzeitsgesellschaft empfangen wurde (in Afghanistan feiern Frauen und Männer getrennt), musste ich an Deutschland denken und fing zu lachen an. An beiden Seiten des Eingangs standen die männlichen Verwandten von Braut und Bräutigam Spalier und begrüßten jeden mit Handschlag und Umarmung. Was folgte, war ein Spießrutenlauf böser Blicke. Bei jedem Versuch, mich zu umarmen, entschuldigte ich mich und verwies auf die Corona-Problematik und darauf, dass es besser sei, sich aus ein bis zwei Metern Entfernung zu begrüßen.

Viele Augenpaare verdrehten sich, andere lachten, und der Mullah, der die Nikah (islamische Hochzeit) begleitet hatte, blickte mich wütend ob dieses Affronts gegen die örtlichen Sitten an. So kann man sich also mit "AHA"-Regeln ein ganzes Volk zum Feind machen. Ich war in einer Zwickmühle. D. sprang rettend ein und erklärte den anderen: "Wisst ihr, unser Freund hier kommt aus dem Westen. Diese Europäer sind gesundheitlich sehr empfindlich, deswegen muss er aufpassen und nicht so viel Körperkontakt suchen. Er meint es nicht persönlich."

Wir setzten uns, ich unter 1.000 Gästen – zumindest waren ca. 400 (männliche) Gäste schon anwesend. Vielleicht erschien es mir wie ein anderer Planet, nach sechs Monaten unter Corona-Maßnahmen in Deutschland ausgelassen tanzende Männer beim Attan (afghanischer Nationaltanz) zu sehen. Dabei war ich als Einziger, der eine Maske trug, in den Blicken von gefühlten 793 Augen der wahre Außerirdische.

In den Straßen und Gebäuden der Stadt hatte und hat sich das Leben der Menschen durch Corona nicht wirklich geändert. Was seit Anfang 2020 die Stimmung in Kabul zusehends nach unten drückt, ist die Tatsache, dass die Mordanschläge und Attentate von und gegen sämtliche politische und religiöse Einrichtungen derart zugenommen haben, dass sich selbst viele Einheimische nicht mehr draußen frei bewegen. Die aktuellen politischen Fragen, der US-Truppenabzug, der Vormarsch der Taliban, die Bildung einer möglichen Übergangsregierung, all das bewegt die Menschen in Afghanistan mehr als das Coronavirus.

An einem Abend traf ich einige Beamte des Innenministeriums. Geradezu beiläufig erwähnte einer der Herren: "Corona? Das haben wir alle bekommen ... Angenehm war es nicht, aber auch das ist vorbeigegangen." Mein Gastgeber D. und seine Söhne nickten: "Im Frühjahr waren wir alle krank." Ich fragte: "Und wie war der Krankheitsverlauf?" Die Antwort war fast immer dieselbe: "Etwas Fieber, Gelenkschmerzen, so was wie eine Erkältung."

Ist also das Coronavirus am unverwüstlichen Immunsystem der afghanischen Bevölkerung abgeprallt? Über die Frage nach den Corona-Toten im Land gehen die Meinungen auseinander. Zum Zeitpunkt meiner Reise im September lagen die offiziellen Statistiken bei ca. 1.500 Toten, doch schon zu jenem Zeitpunkt machten andere Zahlen die Runde. In den sozialen Medien sprach man allein für die erste Welle von um die 10.000 Toten, in den Kabuler Cafés und unter Freunden gingen die Zahlen bis zu 30.000 Toten hoch.

Hier ein abschließendes Urteil fällen zu wollen ist und bleibt schwierig. Unbestritten ist die Tatsache, dass eine fehlende Infrastruktur, eine schlechte medizinische Versorgung und das Nichteinhalten gewisser Regeln die Verbreitung der Infektion bis heute fördern. In den letzten zwei Wochen (24. Mai bis 8. Juni) hat Afghanistan einen Rekord an Neuinfektionen und Toten zu beklagen. Wie aber steht es mit der medizinischen Versorgung im Land?

Stellen Sie sich eine der besseren Privatkliniken in Kabul vor: Sie möchten zum PCR-Test gehen. Am Eingang des Krankenhauses misst man Ihnen das Fieber, doch das Personal im Krankenhaus trägt die Masken größtenteils unter der Nase, das im Krankenhaus stationierte Sicherheitspersonal trägt gar keine Maske, und wenn man bei Ihnen den Abstrich macht, fragen Sie sich, ob Ihr Gegenüber Ihnen nur die Nase kitzeln wollte oder gar nicht weiß, was es da gerade anstellt.

In Kliniken und den meisten öffentlichen Gebäuden in Afghanistan ist das Tragen einer Maske vorgeschrieben, aber die Allerwenigsten halten sich daran. Sie werden es nicht glauben, aber eine rühmliche Ausnahme gibt es: das afghanische Nationalmuseum. Es war der einzige Ort, an dem man konsequent darauf aufmerksam gemacht wurde, seine Maske zu tragen. Das Bedauerliche daran: Es ist einer der Orte, den die wenigsten Afghanen in ihrem Leben besuchen.

Ein abschließender Gedanke: Politisch und gesellschaftlich stellen das Virus und die einhergehende Pandemie nur einen von mehreren Punkten einer Agenda von Problemen dar, die das Leben der Menschen in Afghanistan beeinflussen. Dies ändern zu wollen obliegt nicht dem Menschen, sondern dem Lauf der Geschichte. 

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