"Russian Woman" – Manizha singt beim ESC für Russland
von Gert Ewen Ungar
Dieses Jahr findet er wieder statt. Der Eurovision Song Contest war im vergangenen Jahr wie alle anderen Großveranstaltungen wegen der COVID-19-Pandemie abgesagt worden. Das war für alle Fans, für Russland jedoch doppelt bedauerlich, denn mit dem Beitrag der Sankt Petersburger Band Little Big hätte Russland Aussicht auf einen der vorderen Plätze, vielleicht sogar auf den Sieg gehabt. Little Big bediente mit dem Titel "UNO" den Geschmack vor allem des westlichen ESC-Publikums: Der Beitrag war grell und skurril, dabei eingängig und spielte mit Elementen, die das ESC-Publikum deshalb liebt, weil es diese als Beleg für die eigene Fortschrittlichkeit hält.
Dieses Jahr ist die russische Auswahl musikalisch sperriger. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, einem der wichtigsten Feiertage in Russland, entschieden sich die Zuschauer des russischen Kanals Rossija 1 für den Beitrag "Russian Woman" der Sängerin Manizha, die Russland nun in Rotterdam vertreten wird.
Musikalisch ist das Stück zumindest für westliche Ohren eher irritierend. Nichts zum Mitsingen, kein Gänsehaut-Effekt, sondern Rap versetzt mit traditionellen Elementen russischer Musik. Dennoch ist die Wahl Manizhas bemerkenswert.
Manizha wurde in der Sowjetrepublik Tadschikistan geboren. Heute ist das Land unabhängig. Es liegt umgeben von Afghanistan, China, Usbekistan und Kirgisistan in Zentralasien. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit des zentralasiatischen Landes brach in Tadschikistan wie in vielen Republiken der zerfallenden Sowjetunion ein Bürgerkrieg aus. Das Elternhaus Manizhas wurde von einer Granate getroffen. Manizhas Eltern entschieden sich zur Flucht und flohen mit ihren Kindern nach Russland. Der Themenkreis Flucht, Krieg, Migration und Leben in der Fremde durchzieht als roter Faden das Werk von Manizha.
"Was nimmst du mit, wenn du niemals mehr nach Hause zurückkehren wirst?", lautet die Frage in diesem mit "Stadt der Sonne" überschriebenen Clip. Und im Epilog erklärt Manizha: "80 Millionen Menschen müssen wegen Krieg und Verfolgung ihr Haus verlassen. Ihr Ausblick auf die Zukunft hängt nicht nur von ihnen selbst ab, sondern von uns. Bitte, lasst und gütiger werden."
Vielleicht ist der Auftritt Manizhas beim größten Musikwettbewerb der Welt auch eine Chance, ein Augenmerk auf die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion zu lenken. In Deutschland wird diese "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", wie Russlands Präsident Putin es einst nannte, überwiegend positiv wahrgenommen, denn sie ging Hand in Hand mit der Wiedervereinigung. Darüber hinaus fühlte sich der Westen als Sieger über den Sozialismus. Der Zusammenbruch dient heute vielen als Beleg dafür, dass Sozialismus nicht funktionieren kann. Die vielen Zusammenbrüche des vom Finanzmarkt getriebenen Kapitalismus gefolgt von Rettungsaktionen durch die Nationalstaaten werden dabei selbstverständlich ausgeblendet. Eine gründliche Analyse würde das Überlegenheitsgefühl in Bezug auf das vermeintliche "Siegersystem" erheblich stören.
Unabhängig davon hat Putin für seine Aussage vor allem aus dem Westen viel Kritik einstecken müssen. Was dabei übersehen wird, ist, dass in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken unmittelbar nach der Unabhängigkeit Bürgerkriege, harte Kämpfe um Macht, Einflussbereiche und Grenzziehungen ausbrachen, die eine große Zahl an Menschenleben gekostet, darüber hinaus in Armut und Niedergang geführt haben. Menschen gingen abends in der ihnen vertrauten Sowjetunion zu Bett und wachten am nächsten Morgen in einem fremden Land auf, das ihnen den Status von unerwünschten Migranten zuteilte. Es setzte eine Migrationswelle unglaublichen Ausmaßes ein. Mit dem politischen Zerfall kam der ökonomische Niedergang. Es entstand bittere Armut in der ehemaligen Sowjetunion. Im Westen hat man diese fundamentalen Umwälzungen, die tief in das Leben von 300 Millionen Menschen einschnitten, kaum zur Kenntnis genommen. Manizhas Biografie ist mit all dem unmittelbar verbunden, sie benennt es und macht es zum Thema.
Ein weiterer Themenkreis, dem sich Manizha angenommen hat, ist häusliche Gewalt. Mutmaßlich auch das aus gemachter Erfahrung.
Manizha und ihr Vater sprechen nicht miteinander. In einem Interview zitiert sie ihn. Er sei in einer muslimischen Familie geboren, wo es als unangebracht empfunden wird, wenn eine Frau arbeitet. Sängerin zu werden, bewertet er nicht nur als falsch, sondern als Schande. Man kann erahnen, welche Konflikte das für die Familie mit sich brachte.
Große Unterstützung erhält Manizha dagegen von ihrer Mutter. Sie ist wie Manizha ausgebildete Psychologin. Inzwischen in Pension schneidert sie die farbenfrohen Kostüme für die Auftritte und Videoclips ihrer Tochter.
Manizha singt auf Russisch und Englisch. Manchmal in beiden Sprachen gleichzeitig. In welcher Sprache sie singt, ist ihr nicht wichtig. Sprache sei lediglich ein Mittel. Ihre gesangs-musikalische Ausbildung erhielt sie unter anderem in London und New York. Dort schulte sie sich in Gospel-Gesang.
In einem ihrer Hits besingt sie in einer Mischung aus Gospel und Rap, aus Englisch und Russisch Iwan, der mit Spitznamen Wanja heißt. Wanja hat alles verloren, Geld, Frau und Job. Aber er ist immerhin am Leben. Und irgendwann erkennt er: "The truth is your сила." Die Wahrheit ist deine Kraft. Diese Aussage ist zwar von jedem Sinn völlig befreit, eignet sich aber wunderbar für ein quasireligiöses Erlebnis und einen musikalischen Höhepunkt.
Manizha legt Wert darauf, dass all ihre Texte einen biografischen Bezug haben. Aber es gibt auch ganz offenkundige Ausnahmen. Das Problem, mit dem der junge Protagonist in diesem Video kämpft, war mit absoluter Sicherheit nie Manizhas persönliche Angelegenheit.
Ganz zentral und biografisch begründet bleibt aber das Thema Migration. Ihr Blut sei eine Mischung aus 32 unterschiedlichen Völkern und Nationen, sagt sie in einem Interview. Sie selbst bekennt sich zu ihrem Status als Migrantin, betont ihn. Er ist Teil ihrer Identität, den sie nicht auszumerzen oder zu übertünchen versucht. So setzt sie sich auch in ihrer Eigenschaft als UN-Botschafterin für das Thema Flucht und Migration ein.
Ihr Beitrag zum ESC trägt den Titel "Eine russische Frau" und hat unmittelbar eine Diskussion in Russland ausgelöst. Wie kann eine Migrantin aus Tadschikistan für sich das Attribut "Russin" in Anspruch nehmen? Musikalisch ist der Beitrag ausgesprochen sperrig und wird kaum den Geschmack zumindest des westeuropäischen Publikums treffen. Von der letztlich erreichten Platzierung im Wettbewerb unabhängig war die Nominierung Manizhas aber schon deswegen ein Erfolg, weil sie in Russland das Thema Migration und Leben in der Fremde in den Fokus rückte. Russland ist ein Einwanderungsland. Migranten kommen in großer Zahl vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie kommen unter anderem aus Usbekistan, aus Georgien, Armenien, Turkmenistan – oder wie Manizha aus Tadschikistan. In ganz großer Zahl kommen sie seit einigen Jahren auch aus der Ukraine, die ihren Bürgern kaum eine Perspektive bieten kann. Mit dem sich abzeichnenden weiteren ökonomischen und politischen Niedergang der Ukraine wird sich der Migrantenstrom aus dem Nachbarland absehbar weiter verstetigen.
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