Ein Jahr Corona – Politik in die soziale Katastrophe
Ein Gastbeitrag von Susan Bonath
Arme, Kranke, Alte, Kinder: Auch in der Industrienation Deutschland fällt durchs Raster, wer nicht fit ist für den Markt. Nach einem Jahr Pandemie-Management zeigen sich verheerende soziale Auswirkungen: Arme sind ärmer und zahlreicher geworden. Obdach- und Arbeitslosigkeit steigen. Das Gesundheitssystem wird weiter ab- statt aufgebaut. Das Lohnniveau sinkt, die Mieten steigen trotzdem. Und Eltern verzweifeln: Depressionen sind bereits bei Kindern pandemisch, eine Bildungsmisere bahnt sich an.
Düstere Szenarien, um Maßnahmen durchzusetzen
Den Auftakt für die nunmehr ein Jahr währende auf Virologen fokussierte deutsche Lockdown-Politik bildete die erste "Corona-Pressekonferenz" am 11. März 2020. "Wir müssen vermeiden, dass Alte und Kranke nicht mehr ausreichend medizinisch versorgt werden können", gab Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) damals mit Verweis auf die seinerzeit bereits in den Medien kursierenden "Bilder aus Bergamo" zu bedenken.
"Alle" sollten ab sofort "auf ein Stück Alltag verzichten, um Vulnerable zu schützen", pflichtete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ihr bei. Und der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler warnte eindringlich vor einem Kollaps der Kliniken. Diese würden bald durch Erkrankte mit schweren Atemwegsleiden, zu denen COVID-19 gehöre, überfüllt sein, malte er ein düsteres Szenario. Kinder, Obdach- und Erwerbslose tauchten in all dem aber nicht auf.
Kliniken pleite, Senioren gestorben
Obwohl das Gesundheitssystem schon lange vor der Pandemie marktkonform gestutzt wurde, so dass es zunehmend an Grundversorgung – vor allem für Kinder, Schwangere und Frauen – mangelte, sind die düsteren Visionen nicht eingetreten. Die Kliniken waren 2020 leerer als im Vorjahr, die Zahl der Atemwegserkrankungen so niedrig wie nie. Zum Teil dürfte das an Hunderttausenden von verschobenen Behandlungen und Operationen liegen. Diesen Kurs hatte Gesundheitsminister Spahn im Frühjahr 2020 politisch vorgegeben.
Die Folgen der Unterbelegung in dem ja nun eigentlich auf Profit getrimmten Gesundheitssystem waren absehbar: Vielen Einrichtungen droht nun die Pleite, wie die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) jetzt warnt. Bereits im Jahr eins der "Jahrhundert-Pandemie" schlossen 20 Krankenhäuser ihre Pforten.
Nichts zu lachen haben bis heute in ihrem letzten Lebensabschnitt die Senioren in den Pflegeheimen. Statt sie zu schützen, sperrte man sie weitgehend ein, ungeachtet aller Folgen. Bis heute gelten Besuchsverbote fort – trotz Impfung in den meisten Einrichtungen. Dennoch lebte fast jeder zweite Mensch, der seit März 2020 positiv getestet starb, in einem Altenheim.
Corona-Bildungskatastrophe
Nur fünf Tage nach der ersten Pressekonferenz, am 16. März 2020, schlossen erstmals die Schulen. Plötzlich saßen die Kinder und Jugendlichen zu Hause und vor allem arme Eltern damit in der Klemme. Es fehlte sowohl an digitaler Ausstattung, berufstätigen Müttern und Vätern aber auch an Zeit und Befähigung, den Lehrer zu ersetzen. Und selbst vielen Lehrern mangelte es am technischen Know-how für das Neuland Homeschooling. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Die Familien sind weitgehend auf sich gestellt. Oft schultern die Mütter die Hauptlast.
Zwar brachte die Bundesregierung letzten Sommer den "Digitalpakt Schule" auf den Weg. Doch das Paket wird nur schleppend umgesetzt. Bis heute sind viele Mittel nicht abgerufen worden. Fast ein Jahr benötigte derweil die Bundesagentur für Arbeit (BA), um Kindern von Hartz-IV-Beziehenden einen Mehrbedarf für digitale Endgeräte zu ermöglichen, wenn die Schule noch immer nicht über genügend digitale Leihgeräte verfügt, mit denen die Kinder in der Ferne lernen können. Technisch miserabel ausgestattet sind auch die meisten Schulen selbst.
Mehr häusliche Gewalt – vor allem gegen Kinder
Es ist nicht verwunderlich: Fast die Hälfte aller Lohnabhängigen mit Kindern fühlt sich "stark oder äußerst belastet". Das fand die Hans-Böckler-Stiftung mittels einer Umfrage heraus. Besonders Alleinerziehende und arme Familien wähnen sich am absoluten Limit – in diesen Gruppen gaben dies sogar 60 Prozent der Befragten an.
Das wirkt sich dramatisch aus: Vor einigen Tagen berichtete die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité über eine dramatische Zunahme familiärer Gewalt. Die Zahl der Opfer, die sich Hilfe suchten, stieg 2020 demnach insgesamt um acht Prozent, die Fälle entdeckter Kindesmisshandlungen sogar um mehr als 14 Prozent. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen) konstatierte am 3. März:
"Die Berliner Justiz hat im vergangenen Jahr einen signifikanten Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt bei den Strafverfahren verzeichnet."
Insbesondere Kinder dürfe man nicht aus den Augen verlieren, warnte die Leiterin der Gewaltschutzambulanz, Saskia Etzold. Die Isolation verstärke die Gefahr, dass Misshandlungen verborgen bleiben und Opfer nicht erkannt werden. Es sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Mehr Jugendliche depressiv und suizidgefährdet
Derzeit läuft der Präsenzunterricht in Etappen an. Es herrscht Maskenpflicht für Schüler. Arbeitsschutzregeln mit Maskenpausen, wie sie für Erwachsene in Betrieben eingehalten werden sollen, gelten für sie nicht. Dabei belegt seit Monaten eine Studie nach der anderen, dass Kinder kaum erkranken, selten andere anstecken und keine "Treiber der Pandemie" sind. Inzwischen hat dies auch das Robert Koch-Institut (RKI) erkannt. Dennoch gilt die Ganztagsmaskenpflicht schon für Grundschüler fast überall weiter.
Während die stets zur Lockdown-Begründung ins Feld geführte befürchtete Triage auf Erwachsenen-Intensivstationen ausblieb, sind die Kinderpsychiatrien inzwischen überfüllt. Immer mehr Betroffene müssen auf eine Behandlung warten. Depressionen, Angststörungen, Mobbing grassieren unter den Jüngsten. Als Hauptgrund für die exorbitante Zunahme nennen Experten Kontaktverlust, Isolation, häusliche Konflikte und wachsende Gefühle der Perspektivlosigkeit.
Bei einer Umfrage an einer Berliner Oberschule berichteten die Jugendlichen von zunehmendem psychischem Stress bis hin zu Suizidgedanken. Verzweiflung, Wut auf autoritäre Lehrer, Weinkrämpfe, Kopfschmerzen, Gefühle der Sinnlosigkeit, Einsamkeit, Depressionen, Ängste oder sogar Drogen bestimmen demnach den Alltag dieser Schüler. Im Unterricht kämen auch Leistungsstarke nicht mehr mit.
"Kinder wie Objekte behandelt"
Dabei sind die Probleme der Bundesregierung bekannt. Im September 2020 attestierten der Magdeburger Kindheitsforscher Michael Klundt und die Leiterin der Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention, Claudia Kittel, auf einer Sitzung der Kinderkommission (KiKo) des Bundestages der Regierung, Kinderrechte im ersten Lockdown konsequent missachtet zu haben. Man habe "Kinder wie Objekte behandelt", so Klundt.
Aus dem Schutz des Kindeswohls sei ein Schutz vor Kindern gemacht worden. Die Ärmsten habe man am stärksten belastet. Jugendhilfeangebote seien weggebrochen, Familien auf sich allein gestellt gewesen. Mit den Kinderrechten hätten auch Frauenrechte stark gelitten, fügte Klundt an. Und Kittel bestätigte: Kinder und Jugendliche seien offenbar nicht systemrelevant, sagte sie. Das Familienministerium sei nicht einmal Teil des Krisenstabs gewesen.
Gehört hat die Politik bisher nicht auf diese Experten. Doch auch das Gremium legte sich nicht besonders ins Zeug. Es wollte bis zum Februar einen Bericht mit einer Empfehlung vorlegen, doch dieser ist bis heute noch nicht vorhanden. Der damalige KiKo-Vorsitzende Norbert Müller (Die Linke) erklärte im Gespräch mit der Autorin, das liege an der noch andauernden Konsensfindung. Bis Ostern stehe der Bericht, so versprach er. Den Umgang der Regierung mit Kindern empfindet er aber als mangelhaft. "Die KiKo spielt nicht die erste Rolle", sagte er.
Müller kritisiert zum Beispiel die strengeren Quarantäne-Regeln für Schüler. "Da wird immer ein ganzer Jahrgang wegen eines Corona-Falls in die Isolation geschickt." Kontakte würden nicht geprüft, sondern einfach unterstellt, rügte er. Dabei litten besonders Kinder in beengten Wohnungen unter wiederholter Quarantäne. "So würde man das bei keinem Erwachsenen machen", mahnte der Abgeordnete.
Traurige Pandemie-Rekorde: Obdachlose Jugendliche und Kältetote
Wachsendes Corona-Elend resümierte im Februar die Stiftung Off Road Kids, die sich um wohnungslose junge Menschen kümmert. 2020 habe sie doppelt so viele Hilferufe von Minderjährigen und jungen Erwachsenen erhalten wie im Vorjahr. Insgesamt hätten sich fast 2.500 verzweifelte Straßenkinder und -jugendliche an die Sozialarbeiter gewandt.
Einen weiteren Rekord des Elends meldeten Mitte Februar diverse Wohnungslosen-Vereine. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Winterkälte mindestens 22 Obdachlose das Leben gekostet. Das sei die höchste Zahl seit elf Jahren. In vielen Städten mangelt es nicht erst seit Pandemie-Beginn an Notunterkünften. Doch Corona hat das Problem weiter verschärft: Durch die Beschränkungen fielen noch viele Schlafplätze weg.
Arme ärmer, Reiche reicher
Eine Lösung für das Problem der ansteigenden Obdachlosigkeit ist nicht in Sicht. Kürzlich berichtete die Tagesschau von weiter steigenden Mieten und fehlenden Sozialwohnungen – Pandemie hin oder her. Zugleich sanken die Einkommen vieler Menschen, insbesondere der Ärmeren. Die Pandemie macht Arme ärmer und Superreiche noch reicher: Das verdeutlicht der Entwurf des neuen Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung, den der Paritätische Gesamtverband veröffentlichte.
Arbeitslose weitgehend vergessen
Wer finanziell am Limit ist und Hartz IV beantragt, muss sich auch in Corona-Zeiten unterordnen, etwa jeden Job annehmen, den das Jobcenter ihm aufdrückt. Ansonsten hagelt es Sanktionen. Die Bundesregierung hatte diese Maßregelungen lediglich von März bis Juni 2020 ausgesetzt. Dass die Leistungen nicht mehr komplett, sondern nur noch um maximal 30 Prozent gekürzt werden dürfen, liegt an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019.
Noch verharrt die Zahl der Menschen in Hartz-IV-Haushalten leicht über dem Niveau von Anfang 2020 bei 5,66 Millionen, einschließlich rund 1,8 Millionen Kinder. Für die Neubezieher gibt es bis heute einige Erleichterungen: So sollen Behörden vorübergehend eine höhere Miete anerkennen, als es die strengen Richtlinien eigentlich erlauben. Das Vermögen darf bis zu 60.000 Euro betragen. Für alle, die schon länger auf Hartz IV angewiesen sind, gilt das aber nicht.
Wie Betroffene mit ihrem Mini-Budget die Mehrkosten der Pandemie stemmen sollen, war bislang kein großes Thema. Nach fast einem Jahr Pandemie brachte die Regierung einzig zehn kostenlose FFP2-Masken sowie einen Einmalzuschuss von 150 Euro für Betroffene auf den Weg. Ausgezahlt werden soll dieser voraussichtlich demnächst im Mai. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Linkspartei fordern seit Beginn der Pandemie dagegen einen monatlichen Zuschuss von 100 Euro pro Bezieher.
Ein Anstieg ist indes beim Arbeitslosengeld I zu sehen. Von 2018 bis Anfang 2021 kletterte die Zahl der Bezieher von 715.000 auf über 1,1 Millionen. Die Zahl der von der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeldeten freien Stellen sank unterdessen binnen eines Jahres um gut 15 Prozent auf unter 600.000. Darin sind allerdings sämtliche Arbeitsangebote, auch Mini- und befristete Jobs, enthalten. Dabei waren im Januar noch immer 2,6 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Im April 2020 waren es rund sechs Millionen.
"Testen, Impfen, Vorsicht" – Sozialmisere steht hintenan
So ist es nicht verwunderlich, dass ein Jahr später, am 5. März 2021, die soziale Abwärtsspirale für einen wachsenden Teil der Bevölkerung, darunter auch für viele Soloselbständige, politisch kaum eine Rolle spielt. Auf der Pressekonferenz ging es vor allem um die Impfkampagne sowie die Schnell- und Selbsttests.
"Testen, Impfen, Vorsicht", propagierte Gesundheitsminister Spahn. Nur so sei mehr Freiheit zurückzugewinnen. Auf die Frage des Journalisten Boris Reitschuster nach psychischen Auswirkungen der Pandemie reagierte RKI-Chef Wieler zögerlich: Bei Kindern und Jugendlichen sei ein höherer Bedarf da, resümierte er zwar. Doch abschließende Daten, nach denen man handeln könne, gebe es noch gar nicht. Dies sei nur rückblickend möglich, ergänzte Spahn. Dabei offenbart ein Blick auf das letzte Jahr schon längst eine soziale Katastrophe – weltweit sowieso, aber auch in den Industrienationen, darunter Deutschland. Und das Ende ist noch immer offen.
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