Meinung

Londons Kampagne zu politischer Assimilation baltischer Russen: "Kreml-Narrative faktisch wahr"

Durchgesickerte Dokumente zeigen, wie der britische Staat im Rahmen einer Propagandakampagne Russischsprachige in den drei Baltikum-Staaten zu "Agenten des Wandels" geopolitisch und ideologisch zu assimilieren versucht – um Moskau zu "schwächen".
Londons Kampagne zu politischer Assimilation baltischer Russen: "Kreml-Narrative faktisch wahr"Quelle: Sputnik © Mikhail Koritow

Kommentar von Kit Klarenberg

Durchgesickerte Dokumente offenbaren Details einer massiven geheimen britischen Propagandakampagne, die die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen umfasst. Bezweckt wird die Einstellung einer positiveren Haltung dem Westen gegenüber bei weiten Teilen der russischsprachigen Bevölkerung des Baltikums – und einer negativeren gegenüber ihrer ethnischen Heimat.

Die britische Regierung hat seit mehreren Jahren diejenigen Bewohner von Estland, Lettland und Litauen, "deren Hauptsprache Russisch ist," bei einer Vielzahl von Strategien der Informationskriegsführung im Visier. In deren Rahmen sollen diese eine "größere Affinität" unter den baltischen Russen für das Vereinigte Königreich, die Europäische Union sowie die NATO entwickeln – und "der russische Staat geschwächt" werden.

Dies wird bereits anhand einiger weniger Dokumente verständlich, die von Aktivisten-Hackern des Kollektivs "Anonymous" veröffentlicht wurden. Die Dokumente bieten Einblick in die Anstrengungen der Herrschaften in Whitehall, alle Ebenen der Zivilgesellschaft in der postsowjetischen Sphäre verdeckt zu infiltrieren und in die Förderung der finanziellen, geopolitischen und ideologischen Interessen Londons einzuspannen.

In den drei baltischen Staaten leben rund eine Million ethnische Russen – immerhin etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung der Region. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 ging Litauen schnell dazu über, diesen Menschen die Staatsbürgerschaft zu gewähren – doch Estland und Lettland wiesen ihnen hingegen die Kategorie der "Nichtbürger" zu, sodass ein erheblicher Teil der jeweiligen Bevölkerung effektiv zu Staatenlosen wurde.

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Russischsprachige Einwohner in diesen Ländern sind folglich oft nicht in der Lage, Pässe zu bekommen, zu wählen und sich für öffentliche Ämter zur Wahl zu stellen, in einer Vielzahl von Berufsfeldern zu arbeiten und weiteres mehr. Sie beklagen auch direkte und indirekte Diskriminierung durch Behörden und ihre "Mitbürger" gleichermaßen. Die offiziellen Riga und Tallinn bestreiten diese Vorwürfe – sie beschuldigen stattdessen Moskau, das Thema für politische Zwecke auszunutzen.

Obwohl viele russischsprachige Menschen in der Region das Streben ihres jeweiligen Landes nach Unabhängigkeit von der UdSSR unterstützten, hegen sie eine Empathie für ihr Mutterland. Diese dürfte durch derartige Entrechtung zweifellos erstarken.

London begann mindestens schon im Jahr 2016 dieses "Zielpublikum" methodischer Propaganda auszusetzen. Aus einem Ausschreibungsdokument geht hervor, dass sich das britische Außenministerium (offiziell FCDO – Foreign, Commonwealth & Development Office) irgendwann in jenem Jahr an eine Reihe privater Auftragnehmer wandte. Diese wurden um Unterstützung beim Durchführen "innovativer Soft-Power-Interventionen" gebeten, um bei den Russophonen in der Region "eine größere Affinität zu Großbritannien/EU/Baltikum zu entwickeln".

Überhebliche Kolonisatoren lassen sich zur Nutzung der Sprache der Staatenlosen herab

Gemäß diesem Dokument, das vor offensichtlicher Verachtung für die Identität der russischen Minderheit im Baltikum nur so strotzt, sei Soft Power "die Fähigkeit, Andere durch den kombinierten Einsatz der Mittel Agendasetzung, der Überzeugungsarbeit und Erweckung positiver Anziehungskraft so zu beeinflussen, um bevorzugte Ergebnisse zu erzielen".

Im Ausschreibungsdokument ist auch ein fünfstufiges Programm zur Änderung des Verhaltens der Zielpersonen skizziert. Dennoch wird ein Erreichen dieses Zieles als etwas problematisch prognostiziert, da russischsprachige Menschen im Baltikum im Alter 40 Jahre und älter "eine starke Affinität zu Russland aufweisen und anfällig für russische Propaganda" seien, zumal "sie unter dem sowjetischen System aufgewachsen und von dessen Erziehung und 'Kultur' geprägt" seien.

Verächtlich fahren die Autoren des Dokumentes fort:

"Das macht sie zu Unterstützern und Befürwortern (vielleicht bis hin zur tätlichen Umsetzung) russischer Narrative und zu primären Konsumenten seiner 'Kultur', sie dürften kaum Bewusstsein, Wissen, Interesse, Unterstützung oder Befürwortung gegenüber der euro-atlantischen Narrative und Kultur aufweisen. Wahrscheinlich fehlen ihnen auch die Fähigkeiten, die Kultur, die sie konsumieren, der Kritik zu unterziehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie Englisch sprechen, sodass es notwendig sein wird, sie in ihrer Muttersprache anzusprechen."

Weniger anfällig für russische Propaganda – dafür anfälliger für westliche

Dafür werden die jüngeren unter den russischsprachigen Menschen als lohnendere Beute angesehen, weil "sie unter den jeweiligen nationalen Regierungen aufgewachsen sind und durch ihre Erziehung geprägt wurden". Infolgedessen haben sie, besagt das Ausschreibungsdokument, "ein mittelhohes bis hohes Bewusstsein, Wissen und Interesse in Bezug auf die euro-atlantischen Narrative und 'Kultur'", was sie "möglicherweise offener für alternative Narrative" und damit "weniger anfällig für russische Propaganda macht".

Aufschlussreich mag an dieser Stelle ein separates geheimes Dokument (hier auch in Archivversion) sein, das mit der "Open Information Partnership" zu tun hat, einer weiteren vom Foreign Office finanzierten Unternehmung zur Diskreditierung und Destabilisierung Russlands.

In diesem Dokument wird ein Haupthindernis im Kampf gegen russische "Desinformation" festgehalten: Nämlich dass "bestimmte vom Kreml unterstützte Narrative faktisch wahr sind" – "auf unbequeme Wahrheiten zu reagieren, ist im Gegensatz zu reiner Propaganda natürlich problematischer".

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So könnte eine solche "unbequeme Wahrheit" sein, dass russischsprachige Menschen im Baltikum in der Tat weitverbreiteter Diskriminierung ausgesetzt sind. Logischerweise ist die Berichterstattung russischer Medien zu diesem Thema von Natur aus "problematisch", da es schwierig ist, ihr sachlich zu begegnen.

Ein Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) aus dem Jahr 2019 wies zum Beispiel auf mehrere Probleme im Zusammenhang damit hin, wie Lettland seine russischsprachige Bevölkerung behandelt. Unter anderem wurde darin festgehalten, dass im Mai 2017 ein Abgeordneter der rechtsextremen Partei "Nationale Allianz" – die an der Koalitionsregierung des Landes beteiligt ist – einen Artikel für eine landesweit gelesene Zeitung schrieb. In diesem beklagte er sich darüber, wie "schwer" es sei, "russische Läuse" aus dem eigenen "Fell" zu entfernen.

Die ECRI stellte auch fest, dass gewählte Vertreter der Nationalen Allianz oft bei den jährlichen Gedenkfeiern in Riga zu Ehren der Soldaten der Lettischen Legion gesehen werden, einer Einheit der Waffen-SS, die während des Zweiten Weltkrieges an der Seite der Nazis gegen die Sowjetunion kämpfte.

Während die Berichte der ECRI von den westlichen Medien ignoriert wurden, ist man sich im britischen Außenamt solcher Herausforderungen sehr wohl bewusst. In einem weiteren durchgesickerten Ausschreibungsdokument bezeichnet der Leiter der CDMD (Abteilung des britischen Außenamtes für Desinformationsbekämpfung und Medienentwicklung), Andy Pryce die Politik der lettischen Regierung in Bezug auf die "Nichtbürger" als "schädlich für den sozialen Zusammenhalt".

Ein weiteres FCDO-Dokument legt in noch mehr verstörenden Details dar, welche Verständnistiefe die Herrschaften in Whitehall bezüglich der Wahrnehmungen, Motivationen und Gewohnheiten ihrer Zielpersonen in den drei baltischen Staaten anstreben. Der einzige Zweck sei herauszufinden, "was von der britischen und den jeweiligen nationalen Regierungen getan werden kann, um für Russischsprachige attraktiver zu werden", also diese entsprechend zu manipulieren.

Der Forschungsauftrag im Wert von fast einer Million britischer Pfund sah eine hochgradig granulare (also extrem detaillierte und datengenaue) psychologische Analyse der Russophonen vor. Diese sollte weit über das bloße Geschlecht, das Einkommen, den Beschäftigungsstatus, den Beruf, das Bildungsniveau, den Wohnort und die gesprochenen Sprachen hinausgehen.

London wollte ihre "Lebensmotivationen und Wünsche", Hauptinteressen, Vorlieben, Hobbys, "aktuelle Lebenszufriedenheit und die Einstellung zum Leben", die größten Ängste, Sorgen, Herausforderungen, "Hoffnungen, Träume, Wünsche für die Zukunft für sich und die Familie" sowie "bestehende oder potenzielle Beschwerden gegen ihre Regierung" ermittelt wissen.

Daraufhin reichte "Albany Associates" – ein Veteran Whitehall-finanzierter Kampagnen der psychologischen Kriegsführung etwa in Syrien – beim Foreign Office Vorschläge ein, deren Ausmaße extrem beunruhigend waren.

'Kinder ausnutzen – ihre Eltern beeinflussen'

Der Firma Albany Associates – nur einer von mehreren Auftragnehmern, der im Dienste des Foreign Office versucht, das Denken und Handeln der Bewohner der Region ohne deren Wissen oder Zustimmung zu politischen Zwecken zu beeinflussen und zu formen – war kein Bereich des öffentlichen oder gar privaten Lebens bei ihrer Infiltration der Gesellschaft tabu.

Zum Beispiel erklärte sich Albany entschlossen, die russischsprachige Jugend der Region als "Agenten des Wandels zu nutzen, um die Generationen ihrer Eltern und Großeltern zu beeinflussen und eine ausgeprägte 'euro-baltische' Identität zu verstärken".

Eine Methode hierfür war das heimliche Sponsoring von "familienzentrierten, direkten Publikumsevents", ergänzt durch die Inszenierung von "mindestens 75" kulturellen Aktivitäten "in sorgfältig ausgewählten baltischen Gemeinden", in Estland anscheinend von Vita Tiim, in Lettland von Jasma und in Litauen von der Youth Initiative Group veranstaltet.

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Diese Veranstaltungen sahen "eine direkte Beteiligung von ca. 6.750 Personen, mit besonderem Fokus auf die Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen" vor und sollten an Wochenenden stattfinden, "um die Beteiligung zu maximieren". Zu geplanten Veranstaltungen gehörten Familien-Filmabende, stadtweite Wettbewerbe, Quizturniere, "Mutter-Tochter-Nachmittags-Teekränzchen" zur Stärkung des "weiblichen Einflusses in der Gesellschaft" und "Jugendtheateraufführungen".

Ein Vorschlag für die letztgenannte Aktivität beinhaltete die Finanzierung der litauischen Theatergruppe "Harlequin", und zwar für die Produktion eines "strategisch und gemeinschaftlich geschriebenen Stücks"und für eine Tournee mit diesem Stück in der gesamten Region. Die Handlung sollte sich um "umstrittene Identitäten in russischsprachigen Familien und Reibungen zwischen den Generationen" drehen.

Ebenso würden die Filme für Albanys Vorführungen sorgfältig von "lokalen Experten" ausgewählt werden, um sowohl "eine kritische Masse an Interessierten sicherzustellen" als auch unter den Zuschauern "Diskussionen über euro-atlantische Werte und Narrative" zu entfachen.

"Online-Gespräche mit pro-westlichen Botschaften anregen"

 Diese Veranstaltungen sollten in Reichweite und Wirkung durch verschiedene Informationskampagnen on- und offline verstärkt werden, um "das Bewusstsein der russischsprachigen Bevölkerung zu öffnen". Zeitungen, die "von russischen Minderheiten bevorzugt werden", sollten mit Leit- und Kommentarartikeln über "russischsprachige Menschen, die von der EU und anderen euro-atlantischen Institutionen profitieren" Blitzkampagnen fahren – und Online-Medienplattformen mit "Artikeln, Blogs und Videos, die als Verstärker für das baltische Leben dienen, einschließlich Kunst, Musik und Medien".

Albanys vorrangiger Partner vor Ort bei diesen Anstrengungen sollte die Marketingfirma "Inspired" werden, die, wie es heißt, bereits ein lettisch-russisches Nachrichtenportal mit einer Nutzerbasis von etwa 400.000 Menschen betreibt und zuvor eine "erfolgreiche Kampagne zur europäischen Währungsumstellung" leitete.

Diese beiden Partnerunternehmen versuchten, die "mächtigsten" Online-Influencer der Region zu identifizieren und sie als ein Netzwerk zu kultivieren. Mit ihrer Hilfe sollten im Rahmen von "Online-Unterhaltungen" vom Foreign Office genehmigte Schlüsselbotschaften gesät werden. Dafür wurde eine Facebook-Seite erstellt, um "Informationen über das Vermächtnis der baltischen Europatreue zu verbreiten" und die verschiedenen, von Albany heimlich einberufenen Kulturveranstaltungen zu bewerben.

Den Nutzern sollte nicht bewusst sein, dass ihr Engagement auf der Plattform vom FCDO-Auftragnehmer genauestens überprüft wird, um den Propaganda-Output zu optimieren. Bei Albanyselbst hieß es dazu:

"Unterhaltungen auf der Plattform unter breiter Publikumseinbeziehung werden gefördert – und dann durchgehend analysiert, um die Stimmung zu messen, Influencer Maps zu verfeinern und die Schlüsselthemen zu identifizieren. Die Kampagne wird auf Russisch gestartet und sorgfältig auf den entsprechenden Kanälen in den sozialen Medien gemäß maßgeschneiderter Strategie propagiert. In ihrem Rahmen werden ferner Schlüsseldaten und -Ereignisse genutzt, die für russischsprachige Menschen von Bedeutung sind – wie z. B. die Feierlichkeiten zum Zweiten Weltkrieg –, womit man sich in bereits laufende Unterhaltungen einklinken und so die Wirkung der Kampagne verstärken kann."

Vor dem Durchsickern dieser Dokumente könnte die Idee, dass die britische Regierung heimlich Quizabende, Theaterproduktionen, Mutter-Tochter-Teekränzchen, Influencer in den sozialen Medien und mehr in den baltischen Ländern finanziert, um Russlands Stand dort zu untergraben – und dabei unwissende Jugendliche als "Agenten" benutzt, um ihre Eltern und Großeltern zu manipulieren –, leicht als geschwurbeltes Geschwafel eines geistesgestörten Verschwörungstheoretikers abgetan werden.

Die Dokumente legen jedoch schwarz auf weiß offen, dass London in der Tat eine heimtückische, ebenso weitreichende wie unheilvolle Verschwörung in der Region anführt und im Namen seines Ziels, Moskau national und international zu dämonisieren, zu destabilisieren und zu isolieren, vor nichts Halt macht.

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Übersetzt aus dem Englischen

Kit Klarenberg ist ein investigativer Journalist mit Interessenschwerpunkt auf der Rolle der Geheimdienste bei der Gestaltung von Politik und öffentlicher Wahrnehmung.

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