Russland

"Sich wie in einem Spiel fühlen": Wie organisiert man einen Protest in Moskau?

Soziale Netzwerke, Messenger, interaktive Karten und sogar Dating-Apps wurden aktiv zur Koordination der Proteste in Moskau genutzt. Die RT-Analyse zeigt eine Tendenz zur Professionalisierung der Protestbewegung in Russland auf.
"Sich wie in einem Spiel fühlen": Wie organisiert man einen Protest in Moskau?Quelle: Sputnik

Soziale Netzwerke, Messenger, interaktive Karten und sogar Dating-Apps wurden aktiv zur Koordination der Proteste in Moskau genutzt. So verteilten oppositionelle Aktivisten am Vorabend der Kundgebungen und Märsche Methodenblätter über geschlossene Telegram-Kanäle. In diesen Anleitungen wurde detailliert erklärt, wie man seine Verwandten, Freunde und neutrale Bürger für die Teilnahme an den Aktionen gewinnen kann. Soziologen zufolge richtet sich die Kampagne an die jüngere Generation. Die Organisatoren spielen mit den Bedürfnissen der jungen Menschen, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen und neue Emotionen zu erleben.

Kundgebung als Tankstelle der Emotionen für junge Leute
Junge Menschen unter 30 Jahren stellten den aktivsten Teil der Protestierenden. Sie waren es, die am häufigsten mit der Polizei zusammenstießen, Slogans skandierten und die Menge aufschaukelten.

"Junge Wähler sind in jeder Gesellschaft am ehesten dem Protest zugeneigt ", erklärte Maria Fil, Soziologin und Direktorin der Unternehmensgruppe NII Soziologii (dt.: Forschungsinstitut für Soziologie).

Hier spielt der Generationenkonflikt eine Rolle, denn Macht ist mit einer gewissen Dominanz der Älteren verbunden, die den Jüngeren angeblich ihre eigenen Spiel- und Verhaltensregeln auferlegen. Das ist im weitesten Sinne ein Eltern-Kind-Problem: Jugendliche wollen auf sich aufmerksam machen, mehr Möglichkeiten bekommen, und sie denken – vielleicht auf Betreiben einer Reihe von Propagandisten –, dass diese Möglichkeiten jetzt nicht in dem Maße vorhanden sind, in welchem sie es nach einem Machtwechsel gewesen wären. Die Oppositionsführer machen sich ein progressives Image zunutze; die auffälligsten Kandidaten, wie Ljubow Sobol, positionieren sich genauso.

An der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt nahmen laut einer Umfrage, die während der Veranstaltung durchgeführt wurde, vor allem junge Menschen teil. Aber man kann nicht behaupten, dass es sich dabei hauptsächlich um Schüler handelte, nicht einmal hauptsächlich um Studenten. Von den 306 Befragten waren 50 Prozent unter 33 Jahre alt.

Noch jünger waren die Teilnehmer der nicht genehmigten "Festivals" in Moskau am 27. Juli und 3. August, wie RT feststellen musste.

Nicht rational, sondern emotional seine die Beweggründe der Teilnehmer der Kundgebungen und Märsche gewesen, so Maria Fil:

Die meisten von ihnen gingen hin, weil sie emotional betroffen waren. Sie haben nicht eingehend analysiert, auf welchen Rechtsgrundlagen manchen Kandidaten die Anmeldung zu den Wahlen verweigert wurde, oder was für Möglichkeiten es für die Kandidaten gab, diese Entscheidung anzufechten. Allein die vermeintliche Tatsache, dass uns das Recht auf freie Wahl vorenthalten wird, kann emotional sehr hart treffen. Was die jungen Menschen betrifft, so sind wir in gewisser Weise in dergleichen Lage wie bei den Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2011.

Damals empörte man sich nicht so sehr, um konkrete Oppositionskandidaten zu unterstützen, sondern in einem Kontext angeblicher 'Wahlen ohne Wahl'. Ich bin mir sicher, wenn Sie die Teilnehmer befragen würden, welche der 57 Kandidaten sie kennen, könnten sie höchstens fünf oder sieben Namen nennen. Aber gerade diese massive Verweigerung der Kandidatenanmeldung sieht für die Gesellschaft so aus, als wären diese Kandidaten auf organisierte Weise zur Seite geräumt worden.

Flanieren, Konzerte hören, Polizistenfamilien ermorden
Die wichtigste Informationsquelle zu den Protestaktionen waren die sozialen Netzwerke. 64 Prozent der Befragten informierten sich über Facebook, Instagram, Telegram, Youtube oder VKontakte über die Demonstrationen. Bei jungen Menschen war der Hype ein wichtiges Motiv – durch Bemühungen der Meinungsführer wurde der Protest zu einem Trend. Für das Menschenaufgebot bei der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt und die Atmosphäre dort sorgten – in Abwesenheit bekannter Oppositionsführer – beliebte Künstler mit Millionen von Abonnenten in den sozialen Medien: IC3PEAK, Oxxxymiron und Krowostok.

Ein weiteres Markenzeichen des Protestes war dessen "Gamerisierung", ein bewusster Versuch, illegale Aufrufe zu Massenaktionen als Spiel zu tarnen. So wurden Demonstranten zum "Spazierengehen" entlang des Boulevardrings gerufen – sogar Dating-Anwendungen wurden dazu genutzt. 

"Kommt um 14:00 Uhr zum Spaziergang auf der Sacharow-Allee: Wir hören Face, Krowostok und IC3PEAK, und dann gehen wir durch Moskau spazieren", schreibt ein 20-jähriges Mädchen in Tinder. Empfangen wurden die Demonstranten auf dem "Spaziergang" dann von Gesichtsmasken des OMON, Schlagstöcken und Häftlingstransportern.

"Teilnahmeaufrufe zur Kundgebung wurden aktiv in den sozialen Netzwerken, sehr oft in Instagram-Stories, von Menschen, die weit weg von der Politik und der Hauptstadt sind, geteilt", kommentierte Maria Fil. "Unter ihnen waren Stars aus dem Showbusiness sowie Personen der Öffentlichkeit, so dass es einen lawinenartigen Charakter annahm."

Am Vorabend und während der unangemeldeten "Feierlichkeiten" am 27. Juli und 3. August nutzten inoffizielle Protestanführer und Freiwillige, die die Funktion von Agitatoren übernahmen, aktiv die sozialen Medien, Messenger, Navigatoren und interaktiven Karten.

"Sobjanin in den Ruhestand schicken! Vor 2 Minuten"

"14.000! Russland wird frei sein!  Vor einer Minute"

"Das Recht zu wählen und gewählt … ähh … festgenommen zu werden. Vor 7 Minuten"

Chats in Messengern wurden ebenfalls zur Echtzeit-Koordination genutzt; auch Taktiken, Standorte und andere wichtige Informationen wurden dort aktiv diskutiert.

"Die Polizei ist zum Doschd-Studio gekommen."

"Unser heutiger Koordinator, Wladimir Milow, wurde festgenommen und wird gerade zur Bezirksabteilung für Innere Angelegenheiten gebracht. "

"Jungs und Mädels, nutzt die Verkehrsvorkommnis Funktion auf 2GIS, Yandex.Karten, Yandex.Navigator, Google Maps und anderen derartigen Plattformen, damit die Menschen sehen, was auf der Twerskaja-Straße los ist."

"Also was jetzt, von der Puschkinskaja haben die mich verjagt, weiter bin ich nicht gekommen – alles ist abgesperrt, wo sind jetzt die ganzen Leute?"

Oft klangen die Aufforderungen extrem aggressiv:

"Man könnte echt mal eine Feuerwerksbatterie zur Demo mitbringen – die Leute wird‘s freuen, und die Polente bepinkelt sich ein wenig vor lauter Überraschung."

Verfasser solcher Nachrichten nutzten in der Regel fiktive Namen und Profilbilder. Sie wandten sich an junge Menschen und teilten Geheimkniffe der Straßenproteste. Schon im Voraus wiegelten die Agitatoren die Situation auf, als ob sie die Teilnehmer nicht auf einen friedlichen Spaziergang, sondern auf eine Straßenschlacht vorbereiten wollten.

"Die werden nicht genug Autos haben. Die Autos kippen wir auch um.“

"Es braucht radikale Maßnahmen. Friedlich wird’s nicht ablaufen.“

"Es wäre besser, eine Rauchgranate in einen Häftlingstransporter zu werfen.“

Einige forderten nicht nur zu Unruhen und Gewalt, sondern auch zu Formen echten politischen Terrors auf.

"Feuerwerksbatterien kaufen, dann zufällig umkippen lassen – und auf die Polente ballern lassen."

"In dieser Hinsicht sind römische Kerzen top."

"Ich weiß noch, auf dem Bolotnaja-Platz ist das ganz schön gewesen."

"Man sollte den Familien der Bullen ein paar Besuche abstatten und für Unfälle sorgen."

"Ihr müsst ihn ja nicht unterstützen, aber man muss doch seine Autorität anerkennen: Er ist der einzige oppositionelle Politiker, der sagen kann 'Geht auf die Straßen' – und die Leute gehen raus. Darum sollte man sich für die gemeinsame Sache etwas zügeln."

"OK, er sagt – 'Geht raus'. Und weiter?  – Weiter kriegen wir aufs Maul, sorgen für Publicity, torpedieren das Vertrauen zu den Bullen, bringen das Boot zum Kentern."

"Mobile Gruppen mit Anführern. Dazu kommen wir mit einem wachsenden Widerstand gegen die Usurpatoren."

"Wir versammeln uns und ketten uns aneinander. Das ist nicht so schwer. Man kann sich mit Seilen oder etwas Ähnlichem an den Händen verbinden. Wie leicht wird es für sie sein, 100 aneinandergebundene Menschen in einen Häftlingstransport zu treiben?"

"Wenn doch nur die Rechten aufwachen würden, und die Anarchisten... Aber eigentlich genügt eine Hundertschaft Durchgeknallte wie unsereiner :)"

"Ach was, wir drängen sie durch schiere Masse ab."

Click-Söldner zur Organisation von Krawallen

Um neutrales, "bedingt unzufriedenes" Publikum für die Proteste zu gewinnen, wurden Bots, Werbung und Click-Fabriken eingesetzt.

So erschienen im Vorfeld der Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt am 10. August 2019 neue Anzeigen auf Plattformen, wo man sich für Likes und Kommentare bezahlen lassen kann. An solchen Online-Börsen kann ein Kunde die Aufgabe veröffentlichen, für ein Bild auf Instagram abzustimmen oder auch einen beliebigen sinnvollen Kommentar zu einem Eintrag in "VKontakte" oder auf Facebook zu verfassen. Mithilfe solcher Dienste kann ein Nutzer auch seine Seiten in sozialen Netzwerken vermieten oder verkaufen.

Der Blogger Juri Dud' veröffentlichte am Freitag, dem 9. August 2019, ein Video mit dem Aufruf, zum Sacharow-Prospekt zu kommen. Bis zum Abend wurden an Click-Börsen Aufträge geschaltet, provokative Kommentare zu dieser Botschaft zu schreiben. Zum Beispiel war jemand bereit, 40 Punkte zu vergeben (was viel höher ist als die durchschnittlichen Auftragssummen an solchen Börsen), um unter dem Post von Dud' die Aufrufe "zerstören und zerhacken, Schaufenster einschlagen" zu sehen. Dud' ist ein Online-Influencer mit Millionen von Abonnenten. Damit ist die Chance, dass ein solcher Kommentar gesehen wird und vielleicht die gewünschte Wirkung erzielt, bei ihm um ein Vielfaches höher.

"Man muss zerstören und zerhacken, Schaufenster einschlagen. Wacht auf, Leute, durch eine einfache Demo löst ihr die Probleme nicht!"

Zu einem bestimmten Zeitpunkt tauchten in solchen Kommentaren dann Drohungen auf:

"Ihr Missgeburten, alle zum Sacharow-Prospekt gezuckt, aber dalli! Sonst finden wir alle, die nicht hingegangen sind, und ziehen dann ganz andere Saiten auf!"

Am Vorabend der unangemeldeten Proteste am 27. Juli und 3. August wurden in völlig unpolitischen Gruppen im sozialen Netzwerk "VKontakte" gekaufte Posts mit deutlich oppositionellen Obertönen platziert.

In der Gruppe eines Online-Shops für Turnschuhe zum Beispiel erschienen Nachrichten, in denen Leser aufgefordert wurden, die Opposition zu unterstützen. Untermalt waren sie mit einer Pseudoanalyse von sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen mit einer Verzerrung zur Polemik hin, frei nach dem Motto "Was wurde doch aus dem Land gemacht". In diesen Posts wurden Treibstoffpreise in Russland und dem benachbarten Kasachstan verglichen (das Treibstoff aus Russland beziehe); in Russland sind sie doppelt so hoch.

"Politische" Beiträge mit identischen Inhalten und Bildmaterial erschienen in fünf eigentlich neutralen Interessengruppen zu Autos und Musik sowie in einem weiteren Online-Shop – im Zeitraum vom 15. Bis zum 30. Juli, fand RT heraus. Der häufigste Post war ein Foto, auf dem eine Frau ein Plakat im erkennbaren Stil der Nawalny-Anhänger hält. Die Inschrift auf dem Plakat kritisiert die Steuerreform und die Anhebung des Rentenalters. Unter den Titelbildern der Gruppenverwaltungen wurde die gleiche Nachricht angebracht: "Lasst uns das unterstützen!"

"Es reicht! Es reicht! Es reicht!

Sie haben – den ganzen Gewinn vom Rohstoffverkauf

Wir haben – doppelte Steuern und Arbeit bis zum Tod!"

Nach entsprechenden Statistiken von VKontakte wurden diese Nachrichten in nur sieben Interessengruppen über 1,5 Millionen Mal angesehen. Wie RT herausfand, kann das Schalten von  Anzeigen – zu denen diese Nachrichten gehören – umgerechnet von 50 bis zu mehreren 1.000 Euro kosten.

"Auf die Barrikaden gehen – und Mama mitbringen"
Nach den Angaben der Freiwilligenorganisation Bely Stschjottschik (dt.: Der weiße Zähler) nahmen bis zu 60.000 Menschen am nichtangemeldeten "Spaziergang entlang des Boulevardrings" teil. Laut der Umfrage erhielten 14 Prozent der Teilnehmer Informationen von Freunden, Verwandten oder Nachbarn. 

Kurz vor den Aktionen wurden in den sozialen Netzwerken aktiv Anweisungen verteilt, wie man seine Angehörigen davon überzeugen kann, zu den Kundgebungen zu kommen – und wie man neutrale Bürger in die Proteste einbindet. Einer der Hauptakteure in diesem Projekt war Aleksei Minjailo, ein Mitstreiter von Ljubow Sobol, deren Kandidaturanmeldung für einen Abgeordnetenposten in der Moskauer Stadtduma abgelehnt wurde. (Minjailo wurde zu zwei Monaten Haft wegen der Organisation von Massenunruhen verurteilt.) Das Methodenblatt wurde durch einen geschlossenen Chat im Telegram-Kanal "Komanda A" verbreitet.

Nach dem  Bewerbungsschluss für die Teilnahme am "Kommando A" lud Minjailo alle Interessierten in einen separaten Telegram-Chat ein: "Freunde, hallo! Ich bin Ljoscha Minjailo, Unternehmer, Beobachter, Bürgerrechtler und Trainer", schrieb Minjailo in seiner Einladung. "Ich koordiniere unsere coole Sondereinheit. […] Wir werden viele Menschen für die Kundgebung am 27. Juli gewinnen und eine für die russische politische Realität völlig neue Technologie erproben, die bald dazu beitragen wird, Millionen von Russen in politische Aktionen einzubeziehen und das schöne Russland der Zukunft näher zu bringen."

Im Chatraum beschrieb er seinen Aktionsplan: "Während alle nach alter Methode vorgehen, probieren wir etwas Neues aus. […] Wir werden eine Technologie nutzen, die sich bei allerlei Anlässen von Wahlen bis hin zur Wohltätigkeit bewährt hat: Freunde, Verwandte und Bekannte für eine gemeinsame Sache gewinnen. Man vertraut Sachen am meisten, die man von Menschen, die man persönlich kennt, hört. […] Deswegen lasst uns daran arbeiten, unsere Freunde und Verwandten davon zu überzeugen, am 27. Juli mit uns auf die Straße zu gehen...."

Professionalisierung der Proteste: "Liste zehn Bekannte auf, die deine Kunden werden könnten"

Eine detaillierte Anleitung folgte. Einige der dort dargelegten Methoden dürften vielen Lesern bekannt sein, zum Beispiel aus dem Einzelvertrieb – werden sie doch seit Jahrzehnten etwa im Versicherungswesen bei Verkaufsgesprächen mit potentiellen Kunden angewandt. Auffällig ist deren Nutzung im Kontext der Protestorganisation in Russland, wo sie ein Anzeichen von einer Professionalisierung der Proteste darstellen (nicht zuletzt in Verbindung mit den oben beschriebenen Aufträgen in Clickfabrik-Börsen).

Zuerst sollte der Teilnehmer zehn Bekannte listen, die seiner Meinung nach am ehesten zur Kundgebung gehen würden. Beim Gesprächsbeginn sollte der Werbende etwas ausholen: Weiß sein Gegenüber von der Situation rund um die Wahlen zur Moskauer Stadtduma? Wenn nicht, sollte eine Erklärung folgen – und danach die Frage: "Bist du mit dem Sachverhalt zufrieden, willst du etwas ändern und die Opposition unterstützen?" Falls der Gesprächspartner sich unpolitisch zeigte, wurde zu bodenständigeren Argumenten geraten.

"Wenn du denkst, dass die Person politisch aktiv ist, benutze eher Argumente zu Demokratie und Werten. Ist dein Gegenüber an der Politik nicht sonderlich interessiert, sprecht über den konkreten Nutzen, den dein Gesprächspartner und Moskau von der Anwesenheit der Opposition in der Moskauer Stadtduma erhalten werden", besagte das Methodenblatt.

Psychologische Straßenkriegsführung
Ein wesentlicher Teil des Textes war der psychologischen Herangehensweise gewidmet: Zehn Varianten von Argumenten – und Gegenargumenten dazu – werden für Menschen angeführt, die nicht zur illegalen Straßenaktion gehen wollen und dabei versuchen, dies mit dem Agitator auszudiskutieren.

Dieser sollte dann beispielsweise auf den Satz "Ich gehe nicht, weil ich keine Revolution will" antworten:

Das ist nur eine Kundgebung gegen die Revolution. Überleg selbst: Wenn du dich nicht für legitime Wahlen einsetzt, wenn du den Menschen keine legalen Mittel zur Verfügung stellst, um das Geschehen im Land zu beeinflussen, dann geschehen Revolutionen. Und sie werden von weitaus weniger friedfertigen Menschen organisiert als den Kandidaten, für die wir kämpfen. Wenn du keine Revolution willst, geh zur Kundgebung. Solange es eine Möglichkeit gibt, das Problem mit friedlichen Kundgebungen zu lösen, ist es notwendig, sie zu nutzen. Wenn diese Probleme jetzt nicht gelöst werden, ist die Revolution unvermeidlich.

Natürlich lassen die Autoren der Anleitung die Tatsache unter den Tisch fallen, dass die Aktion vom 27. Juli 2019 nicht angemeldet wurde.

Die im Methodenblatt verwendeten Kniffe zielen darauf ab, beim Werber ein Gefühl der eigenen Bedeutung und Einzigartigkeit hervorzurufen. Dies stellte Sergei Jenikolopow, Leiter der Abteilung für klinische Psychologie der Russischen Akademie für Medizinische Wissenschaften und Kandidat der Psychologischen Wissenschaften, fest, der diese Werbeanleitung auf Bitte von RT untersucht hat. Manche Formulierungen darin haben es in sich:

"'Sei gegrüßt, Kämpfer!' – Dies ist keine abstrakte Ansprache, sondern eine sehr konkrete. Die Menschen mögen es immer, wenn sie persönlich angesprochen werden. Und das martialische Vokabular – 'Kämpfer', 'Spezialmission' – macht beileibe nicht nur für eine Demonstration heiß. Wenn man dich mit 'Kämpfer' anspricht, fängst du an, die Konfrontation zu spüren, unterscheidest unbewusst 'wir' und 'sie'.

Dabei werden 'sie' entpersonalisiert, werden zum Mordor, zur 'dunklen Macht', und mit 'wir' meint man natürlich die Seite des 'Lichts'. Das erhöht das Selbstwertgefühl und die innere Bereitschaft, ein 'Kämpfer' zu sein. Taten werden verherrlicht, eine Bereitschaft zu konkreten Aktionen stellt sich ein. Wir können davon ausgehen, dass dieses Dokument von Fachleuten erstellt wurde – mit sehr guten Kenntnissen der Psychologie ", erklärte Jenikolopow gegenüber RT.

Maria Fil stimmt zu, dass der von Mobilisierungsrhetorik durchdrungene Text von Spezialisten entwickelt worden sein muss. Auch ihr zufolge liegt der Augenmerk auf einer Steigerung des Selbstwertgefühls des Aktivisten – sie unterstreicht aber auch die aus der Pop-Kultur übernommene extreme Vereinfachung von Konflikten zur Aufteilung in Gut und Böse hin und die konsequente Überführung von Computerspiel-Denkweisen ins reale Leben.

"Sie versuchen, dich davon zu überzeugen, dass dein individuelles Verhalten einen Unterschied machen wird: 'Du kannst es schaffen, es ist deine Chance.' Du bist eine Art Gavroche, der auf die Barrikaden steigt und seine Mutter mitbringen soll. Für einen modernen Menschen, der nur selten oder nie den Anlass bekommt, sich wichtig zu fühlen, ist dies sehr attraktiv. Ebenfalls sehr anziehend ist das Thema des Kampfes gegen das Böse, das übertrieben dargestellt wird. In allen Hollywood-Produkten, in allen Computerspielen sehen wir immer die Konfrontation zwischen Helden und Bösewichten.

Und dank solcher Propaganda kann ein junger Mensch sich selbst wie in einem Spiel vorkommen. Nur ist dies kein Spiel am Computer, sondern im richtigen Leben. Es gibt auch einen 'Schurken', der echt ist, und man kann in eine gefährliche Situation geraten. Für ein junges Gewächshauspflänzchen von Stadtbewohner gleicht es einem Abenteuer, in einen Häftlingstransporter geworfen zu werden. So etwas könnte die krasseste Herausforderung seines Lebens sein, wenn es in seinem Leben noch nie echte Prüfungen gab", schließt die Soziologin ab.

Die Methoden erinnern Sergej Jenikolopow an das Vermächtnis des US-amerikanischen Polit-Technologen Gene Sharp, eines "Soft Power"-Ideologen:

Sharp gilt als der Vater der 'Farbrevolutionen'. Er analysierte, wie solche Massenveranstaltungen ablaufen und wie Protest-Szenarien umgesetzt werden. Sein Buch enthält spezifische Technologien für den gewaltfreien Sturz einer amtierenden Regierung. Diese Methoden wurden bereits in Ägypten, Tunesien, Jugoslawien und Georgien erprobt. Was wir in diesem Dokument sehen, ist in der Tat eine Version seines Konzepts, die überarbeitet wurde, um der modernen Realität gerecht zu werden.

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