Meinung

Die Pandemie und eine kaputte Verwaltung: Wie werden wir mit der digitalen Kontrolle umgehen?

COVID-19 wirkt wie ein Verstärker: Ob es um Weltwirtschaft, Mobilität oder staatliche Verwaltung geht, die Pandemie legt Defizite offen und verschärft sie. Was bleibt vom Staat im Bildungswesen oder in der Gesundheitsverwaltung angesichts der Macht von Big Tech?
Die Pandemie und eine kaputte Verwaltung: Wie werden wir mit der digitalen Kontrolle umgehen?Quelle: www.globallookpress.com © Darmer/Davids/Ropi

Ein Gastbeitrag von Dr. Karin Kneissl

"Eine Verwaltung ist entweder bürokratisch oder dilettantisch!", so der deutsche Soziologe Max Weber (1864 bis 1920), der sich intensiv mit der Theorie der Bürokratie befasste. Ein Blick auf das Versagen der Gesundheitsverwaltung in vielen europäischen Staaten, wenn es um die Handhabung der Pandemie und nun die Organisation von Impfungen geht, deutet auf gefährlichen Dilettantismus hin. Fast sehnt man sich eine funktionierende Bürokratie herbei, die stoisch mit Formularen die Krise bewältigt.

Als jemand, der in der Verwaltung eines Wiener Ministeriums vor rund 30 Jahren beruflich und menschlich geprägt wurde, erlebte ich täglich meine kafkaesken Momente, sodass ich die Romane von Franz Kafka nicht mehr lesen musste. Aber es gab unter den hohen Beamten, die fast ausschließlich alte Herren waren, auch jene Bildungsbürger, die die alten Tugenden der Habsburger Verwaltung lebten. Die Habsburger Herrscher Maria Theresia und ihre Söhne Josef II. und Leopold hatten aus einem rückständigen Feudalstaat einen Beamtenstaat gemacht, der – von den grausamen Exzessen des Nationalsozialismus abgesehen, die in der österreichischen Beamtenschaft lange nachwirkten – fast 200 Jahre einen soliden Ruf genoss. Nach 1945 folgte die Entnazifizierung in Justiz, Polizei oder im Bildungswesen, mehr Stückwerk als Reform.

Niedergang einer einst stolzen Verwaltung

Bei der Rückkehr in den Staatsdienst als Außenministerin vor drei Jahren bedauerte ich vor allem zwei Dinge: den Mangel an Ideen und den fehlenden Mut unter den Mitarbeitern. Ein Grund hierfür ist in Österreich die Abschaffung der Unkündbarkeit von Beamten, die noch in der Monarchie als Pragmatisierung eingeführt worden war. Hintergrund war damals, einen effizienten Beamtenapparat zu schaffen, der das eigentliche Rückgrat eines Staates ist.

Mehr denn je zählt die politische Verbindung und nicht das Können. Es geht immer noch um die Zugehörigkeit zu den Konservativen oder den Sozialdemokraten. Genau aus diesem Grund verließ ich 1998 das Außenministerium. Der Beamtenapparat ist in Österreich zu einer Spielwiese der politischen Parteien verkommen. In den letzten Jahrzehnten unterrichtete ich regelmäßig Vertreter des öffentlichen Dienstes und dachte mir oft: "Mit diesen zuständigen Damen und Herren möchte ich nicht durch eine Krise gehen müssen." Nun stecken wir mitten in der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, und dies mit einer absolut nicht funktionierenden Verwaltung. Aktuell virulent ist das totale Versagen von Politik und Verwaltung, Impfungen durchzuführen, die gerne als der "game changer" für einen Neustart der Wirtschaft bezeichnet werden.

Richtig rekrutieren

Anfang der 1990er-Jahre durfte ich in Frankreich die Verwaltungsakademie ENA (Ecole Nationale d'Administration) absolvieren und erlebte eine kadermäßige Vorbereitung auf den öffentlichen Dienst, wie dies in Deutschland und Österreich unbekannt ist. Gegründet wurde die ENA von Präsident Charles De Gaulle, um die französische Verwaltung von Kollaborateuren, die mit der deutschen Besatzung gemeinsame Sache gemacht hatten, zu säubern. Während die ENA die umstrittene Spitze der sogenannten "fonction publique" bildet, müssen französische Beamte bzw. Anwärter stets Aufnahmeprüfungen und Fortbildungen absolvieren. In den Staatsdienst einzutreten und sich hochzudienen, gehört in Frankreich immer noch zu den beliebtesten Berufen. Präsident Emmanuel Macron verkündete die Schließung der ENA, um die sozialen Proteste der Gelbwesten 2018 zu kontrollieren.

Das föderale System in Deutschland und Österreich kennt diese Standards nicht, vielmehr erfolgt die Rekrutierung, wo sie noch systematisch ist, nach persönlichen Kontakten und Ausschreibungen, deren Ergebnisse aber oft schon zuvor ausgemacht sind. Die besten Köpfe gehen in diesen beiden Staaten eher in die Privatwirtschaft, als dem Staat zu dienen. Richtige Rekrutierung ist auch im Außenministerium, wo zumindest noch Auswahlverfahren gelten, eher die Ausnahme. Es fehlen die wirklich guten Juristen, Logistiker oder einfach Talentierten. Die NGOs sind für viele attraktiver, sind doch auch die Gehälter höher und das Image besser.

Der unberechenbare Staat

Die Pandemie legt nun offen, was bereits zuvor an Schwächen und Problemen existierte. Was in Österreich eine geradezu pandemische Schlampigkeit ist, äußert sich in Deutschland als Inflation der Formulare. Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, nennt das Versagen der Verwaltung beim Namen, wenn er von "Herummurksen" spricht. Im Interview mit der Augsburger Allgemeinen kritisiert er klar die Unberechenbarkeit und Intransparenz bei den staatlichen Hilfen für deutsche Unternehmen. So versucht die Politik seit März 2020 mit immer neuen finanziellen Hilfen, Betriebe vor der Insolvenz zu bewahren. Aber für Unternehmen sind die Programme schwer durchschaubar. Felbermayr verweist auf die "deutsche Krankheit": "In Deutschland funktioniert der Verwaltungsvollzug schlecht. So war es auch schon, als der Staat große Summen für Schulen und Kommunen bereitgestellt hat: Die Gelder werden nicht abgerufen. In Deutschland gibt es zu viel Bürokratie und zu wenig E-Government, also zu viel Zettelwirtschaft."

Als eine "Krise der Verwaltung" bezeichnete Christoph Grabenwarter, der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, im Juli 2020 die Situation. Kausal hierfür sind ein Kaputtsparen so mancher Verwaltungsebene und mangelnde fachliche Befähigung für wichtige Positionen. Alle Akte der Verwaltung müssen laut Verfassung gesetzmäßig sein. Doch viele Verordnungen des österreichischen Gesundheitsministeriums wurden in den letzten Monaten aufgehoben, weil es an der gesetzlichen Grundlage fehlte, was wiederum an einer sehr fragwürdigen Turbogesetzgebung liegt. Die Parlamentarier erhalten die Regierungsentwürfe meist erst Stunden vor der eigentlichen Debatte und Abstimmung. Die Folge ist ein brisanter Vertrauensverlust der Bürger.

Europa und die Big Techs: Ein Ringen um Staatlichkeit

Das wesentliche Band, das einst den Untertan und später den Bürger an den Staat band, ist jenes der Steuerpflicht. Im Gegenzug für Abgaben garantiert der Staat Sicherheit und Leistungen. Fallen diese weg und wird das Wirtschaften infolge politischer Maßnahmen verunmöglicht, sinkt auch die Bereitschaft, Steuern zu zahlen. Das schwächt die Finanzierung der Verwaltung, Beamtengehälter werden zu kürzen sein.

Wie sich die Lage derzeit präsentiert, könnten die großen Konzerne, ob "Made in the USA" oder "Made in China", das Sagen haben und damit das, was wir einst als Verwaltung oder im UN Jargon als "good governance" bezeichneten, ersetzen. Dies gilt für die Kommunikation, den Zahlungsverkehr bis hin zum Bildungswesen. Der Staat, der Rechtsstaatlichkeit und Verwaltung erschaffen hat, steht in heftiger Konkurrenz zu dem, was wir nun als Big Tech bezeichnen. Clément Tonon erläutert in einer klugen Studie des Pariser Thinktanks IFRI, in welchem Umfang unsere Verwaltung, egal in welchem Bereich, nun von den Lizenzen, der Technik und auch von der Willkür dieser Konzerne abhängig ist.

Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen versteht sich als "geopolitische Kommission" und möchte nicht nur in der Pharmaindustrie, sondern auch in der militärischen Sicherheit, übrigens ein wesentlicher Teil staatlicher Verwaltung, "autonomer" werden. Die Bereitstellung von Impfstoffen wird zu Jahresbeginn 2021 als gescheitert wahrgenommen. Dominieren die USA vorerst den internationalen Finanzmarkt und die sozialen Netzwerke, rückt China zum Technologieführer in der Künstlichen Intelligenz und Robotik auf. Der EU ist es seit der Finanzkrise 2008 trotz allen Deklarationen nicht gelungen, ein eigenes SWIFT-System aufzubauen, sie ist damit politisch wie finanziell vom Gutdünken der US Finanzmärkte abhängig. In der Forschung hinkt die EU hinterher, die deutsche Automobilindustrie riskiert ihre einstige Vormachtstellung auch an China zu verlieren.

Ohne die US-Lizenzen für Videokonferenzen wäre seit Beginn der Pandemie weder Unterricht noch so mancher EU-Ministerrat möglich. Chinesische Firmen wetteifern indes um die Hegemonie auf diesem Markt, wie es auch im Modell der "chinesischen Globalisierung" nachzulesen ist. Besonders interessant sind die Bildungsplattformen, die in dieser Ära des "distant learning" ein nützliches Instrument für Einflussnahme bilden. Wer aus diesen Plattformen geworfen wird, seit dem Ausschluss Donald Trumps aus den sozialen Netzwerken als "deplatforming" bekannt, ist draußen und hat keine Chance auf Teilnahme. Dies erscheint besonders brisant, wenn es um staatliche Leistungen wie Bildung geht. Ein Prinzip, das ich im Jurastudium lernte, lautet: "Verfassung vergeht, Verwaltung besteht." Doch dies trifft auf unsere Zeit immer seltener zu. Die Bürokratie, wie sie Max Weber aufschlussreich beschreibt, überlebt und garantiert bei allen historischen Zäsuren den Fortbestand einer Gesellschaft. Was aber passiert, wenn ebendiese Verwaltung implodiert?

Digitale Kontrolle ohne demokratische Verwaltung

Nikolai Gogol beschreibt in seinen bitter-klugen Satiren wie "Der Revisor" und "Tote Seelen" eine korrupte Verwaltung, in der es heftig menschelt, in der die niedersten und seltsamsten Instinkte ausbrechen. Wir erleben in unserer absurden Zeit eine umfassende Kontrolle, die im chinesischen Modell der "smart cities" von vielen US-Beratungsunternehmen schon seit Jahren als Lebensmodell der Zukunft beworben wird. Es ist eine absolut sterile Welt, in der Drohnen und Algorithmen das menschliche Kollektiv bestimmen. Zugleich wächst aber die Wahrscheinlichkeit einer sozialen Revolte überall dort, wo Armut und Verzweiflung das Zusammenleben gefährden. Ein Verwaltungsapparat, der von der Polizei über die Müllabfuhr bis zum Hospital ebendiese ermöglicht, löst sich auf oder ist vielerorts schon zerbrochen. Historische Beispiele gibt es genug dafür, oft fallen sie in die Kategorie des staatlichen Zerfalls, der "Balkanisierung". Auch für China wurden vor 20 Jahren seitens der Politikwissenschaft in den USA solche Prognosen gemacht. Doch die chinesischen Mandarine, die Kulturrevolution und Öffnungspolitik gleichermaßen absolvierten, verstehen sich auf eine völlige neue Form der Verwaltung in Form einer neuerlichen technologischen Überlegenheit.

Von der digitalen Diktatur in China spricht man in Brüssel seit zwei Jahren viel deutlicher. Zuvor ging es noch um die Chimäre einer Harmonie zwischen der EU und China, wobei Geschichte und Realpolitik vergessen wurden. Die Pandemie, die seit bald einem Jahr unser Leben aufwirbelt, hat offengelegt, was alles nicht funktioniert.

Ob es gelingt, einen Gegenentwurf zu errichten, der mehr den europäischen Gesellschaften und ihren Kulturen entspricht, oder ob wir uns weiter in die Abhängigkeit von Big Tech begeben, entscheidet sich mit dieser Pandemie.

Wenn es aber wie in der Verwaltung an Menschen mit Ideen und Mut fehlt, dann sind die Aussichten eher düster. Maria Theresia stellte sich einst gegen die Macht der katholischen Kirche, als sie ihre Verwaltungsreformen, vor allem die allgemeine Schulpflicht, durchsetzte. Montesquieu formulierte die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit und widersetzte sich mit seiner Rechtsphilosophie dem Absolutismus. Lew Tolstoi hatte seine sehr klaren Vorstellungen von Freiheit, die schmerze und Widerspruch provoziere. Sie und viele andere haben ihren Anteil an dem, was einst ein europäischer Bildungskanon war, der die Verwaltung und damit den Staat inspirierte. Anders zu denken und ja, auch querzudenken, was nun bereits eine gefährliche Kategorie geworden ist, machte einst die europäischen Kulturen aus. Europa, das war immer auch Widerspruch. Derzeit riskiert man damit alles, vom "deplatforming" bis zum Berufsverbot.

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Dr. Karin Kneissl ist ehemalige parteilose Außenministerin von Österreich.

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